Zeit zurückholen: Bekenntnisse eines Cyber-Junkies
Meinung

Zeit zurückholen: Bekenntnisse eines Cyber-Junkies

Thomas Meyer
9.12.2020

Ich bin onlinesüchtig. Seit 1997. Unmengen an Arbeits- und Lebenszeit habe ich dadurch vergeudet. Zum Glück gibt es heute wirksame Therapiemethoden. Ich stelle sie dir hier vor.

Ein wesentlicher Aspekt des Erwachsenwerdens ist die schonungslose Ehrlichkeit gegenüber sich selbst: Was tut mir gut? Was nicht? Was kann ich? Was nicht? Und ein noch viel wesentlicherer Aspekt ist die entsprechende Konsequenz: Alles unterlassen, was einem nicht guttut bzw. was man nicht kann.

Ich zum Beispiel kann nicht damit umgehen, ständig online zu sein. Kaum hatte ich 1997 einen Internetanschluss, war der Aufenthalt im Netz mein liebstes Freizeitvergnügen. Angesichts des kargen Angebots und der noch wenigen Freunde, mit denen mal Mails austauschen konnte, war das zu Beginn ein überschaubares Problem, aber schon bald wurden die Websites zahlreicher und interessanter, und ein Jahr später hatte ich sogar eine eigene, auf der ich meine ersten Kolumnen publizierte. Ab da war ich ein Cyber-Junkie.

Bei meiner Arbeit als Werbetexter und auf dem Laptop zuhause checkte ich alle paar Minuten meine Mails. Traf eines ein, liess ich von allem anderen ab und beantwortete es sofort. Ich liebe den geistreichen Austausch, vor allem schriftlich, und das neue Medium kam dem natürlich fatal entgegen. Viele der Mails, die ich bekam, enthielten Links zu lustigen oder bizarren Websites, die natürlich sofort besucht werden wollten. Ausserdem musste man, um Pornographie zu konsumieren, jetzt nicht mehr am Kiosk ein Magazin kaufen, sondern konnte das jetzt ganz bequem zuhause am Schreibtisch erledigen.

Richtig schlimm wurde es, als ich 2009 mein erstes iPhone kaufte. Es ist nicht übertrieben, wenn ich sage, dass ich es nur aus der Hand legte, um zu duschen oder zu schlafen. Dieses Gerät zog mich komplett in seinen Bann. Nun konnte ich permanent und überall surfen, mailen, spielen, fotografieren und Nachrichten schreiben. Der Teufel persönlich hatte diese Maschine gebaut, und zwar exakt für Menschen wie mich. Zur Krönung erfand er noch die sozialen Medien.

Im Leben eines jeden Suchtkranken kommt der Moment, in dem er erkennt, dass nicht er seinen Konsum kontrolliert, sondern der Konsum ihn. Bei mir war das, als mir auffiel, dass ich alle 90 Sekunden das Programmfenster wechselte (Command-Tab), um meine Mails zu checken (Command-R). Der Vorgang war so tief in meine Handmuskulatur bzw. mein Kleinhirn eingegangen, dass er Teil meiner Arbeit geworden war: Ich schrieb eine Schlagzeile für ein Produkt, dann eine Antwort auf ein Mail, dann eine weitere Schlagzeile und schliesslich ein neues Mail an jemanden. Ausserdem angelte ich etwa zwanzigmal pro Stunde mein Handy aus der Tasche, um auch dort meine Kontakte zu pflegen.

Ich fiel nicht weiter auf, weil ich bei jeder Arbeitsstelle von zahllosen anderen Online-Süchtigen umgeben war, aber erstens war mein Verhalten nicht korrekt und zweitens echt anstrengend. Ich fühlte mich ständig gezwungen zu reagieren: auf jede Nachricht, auf jeden Facebook-Kommentar.

Lösung, Teil eins: «Freedom»

Irgendwann stiess ich auf das Programm Freedom. Es funktioniert ganz simpel: Man definiert Zeitfenster, in denen man offline sein möchte. Während dieser Perioden ist der Computer vom Netz getrennt, woran man nichts ändern kann, auch nicht durch einen Neustart. Das war für mich die ideale Lösung und die Rückkehr in ein normales Arbeitsleben, ja überhaupt ins Leben.

Mein iMac ist nur von 7.00 bis 7.30, von 11.30 bis 12.00 und von 16.00 bis 17.00 online. Konkret der Browser und das Mailprogramm, meine übelsten Zeitvernichter. Andere Programme wie zum Beispiel die FTP-App sind immer mit dem Internet verbunden, stellen aber infolge ihrer dürftigen Attraktivität auch kein Risiko dar.

22 von 24 Stunden am Tag kann ich weder surfen noch mailen, und das ist gut so.
22 von 24 Stunden am Tag kann ich weder surfen noch mailen, und das ist gut so.

Ich würde diese Lösung als kontrollierten Konsum bezeichnen. Mir stehen jeden Tag drei kurze Zeitfenster zur Verfügung, in denen ich mich hemmungslos online austoben kann. Verpasse ich eines, ist das nicht weiter schlimm, weil das nächste schon bald naht. Ansonsten nutze ich den Computer nur, wofür er auch da ist: zum Arbeiten. Zum Verfassen von Texten wie diesem und zum Musikhören.

Für das iPhone, diesen kleinen Satan, taugte Freedom leider nicht, weil man es umgehen kann. Auch die vielen anderen Detox-Apps nützten mir nichts. Sie waren nichts anderes als hübsch gestaltete Timer. Ein Hardcore-User wie ich konnte darüber nur lachen. Zum Glück baute Apple irgendwann eine schlaue Funktion in das iOS ein. Eine schlaue und schockierende.

Lösung, Teil zwei: «Bildschirmzeit»

Vier Stunden und zwölf Minuten? Und das im Schnitt jeden Tag? Herrje! Meine Sucht hatte sich offensichtlich vom iMac auf mein iPhone verlagert, das nun genau sagen konnte, wieviel Zeit man mit welcher App und gesamthaft verbringt. Zwar bin ich nicht mehr auf Social Media, dafür habe ich vier Messenger-Apps, zwei Schach-Apps und die Galaxus- und Digitec-App, auf denen es nicht nur viele schöne Gadgets zu entdecken, sondern auch hilfreiche Community-Beiträge und Magazintexte zu lesen gibt. Eigentlich waren die vier Stunden ein Wunder der Zurückhaltung.

Ich begann, mir «Bildschirmzeit»-Limits zu setzen. Safari: 10 Minuten. Mail: auch 10. Schach: 20. Digitec und Galaxus: 15. Aber kaum waren die Grenzen erreicht, konnte ich einfach den Bildschirmzeitcode eingeben und mir eine Viertelstunde, eine Stunde oder den ganzen restlichen Tag weiterer Beschäftigung gönnen. Ein weiterer Tiefpunkt. Ich wusste jetzt einfach auf die Minute genau, wie schwach ich war.

Die Limits helfen nichts, wenn du sie aufheben kannst.
Die Limits helfen nichts, wenn du sie aufheben kannst.

Lösung, Teil drei: «Der fremde Code»

Noch einmal zurück zur schonungslosen Ehrlichkeit gegenüber sich selbst. Ich weiss heute: Ich kann sehr willensstark und konsequent sein, aber in gewissen Punkten bin ich es überhaupt nicht, und dann muss ich mich selbst überlisten. Meine Kreditkarte zum Beispiel hat eine Limite von lediglich 400 Franken. Der von den Banken ausgegebene Standard beträgt das Zehnfache, was bei mir aber nur dazu führte, dass ich ständig eine Schuld von 4000 Franken von Monat zu Monat schleppte.

Hinsichtlich der Bildschirmzeit bestand die Überlistung darin, meine Partnerin einen Bildschirmzeitcode für mein iPhone festlegen zu lassen. Und nun, indem ich endlich richtig eingeschränkt bin, bin ich ironischerweise endlich richtig frei. Frei zum Schreiben. Frei zum Lesen. Frei zum Denken. Ich habe endlich Zeit. Oder besser: Ich habe meine Zeit zurückgeholt.

Ich finde das Internet grossartig. Es animiert und inspiriert mich. Ich finde auch Smartphones wunderbar, vor allem mein schönes gelbes iPhone 11. Ich liebe es wirklich. Aber es ist viel zu vereinnahmend für mich. Ich kann es nur mit klaren Einschränkungen besitzen. Es tut mir sonst nicht gut. Und die Frage, was einem guttut und was nicht, ist absolut zentral.

Bist du auch ein Cyber-Junkie? Wie gehst du damit um? Was hilft dir? Schreib es in die Kommentare!

Titelbild: Mein iPhone und ich sind einander sehr nah.

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Der Schriftsteller Thomas Meyer wurde 1974 in Zürich geboren. Er arbeitete als Werbetexter, bis 2012 sein erster Roman «Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse» erschien. Er ist Vater eines Sohnes und hat dadurch immer eine prima Ausrede, um Lego zu kaufen. Mehr von ihm: www.thomasmeyer.ch. 


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