Meinung

Schlamm am Bike, Klarheit im Kopf oder wie mir Sport bei meiner Psychohygiene hilft

Sport ist gesund: nicht nur für den Körper, auch für den Geist. Mir hilft er sehr bei meiner Psychohygiene. Ein Beispiel.

Bevor ich zum sportlichen Aspekt dieser Geschichte komme, muss ich ein wenig ausholen. Ich hoffe, das ist okay. Und ganz wichtig: Es werden hier keine Produkte angepriesen oder verrissen. Wenn du Velohelme kaufen möchtest oder Wanderschuhe, dann klicke bitte weiter. Danke.

Da wir nun unter uns sind, kann's losgehen. Wir leben in schwierigen Zeiten. Vermutlich ist jede Zeit auf ihre Art schwierig. Ich denke da zum Beispiel an meine Grosseltern, die zwei Weltkriege erlebten, nicht in der neutralen Schweiz, sondern in den kriegsführenden Ländern Österreich und Frankreich.

Am Elternabend der Sekundarschule meiner Tochter taten Übersetzende vor einigen Tagen im Hintergrund leise ihre Arbeit und erklärten ukrainischen Eltern, was vorne erzählt wurde. Krieg damals, Krieg heute.

Kürzlich schickte mir dann mein Chef einen Artikel aus dem ZEIT Magazin und meinte, den solle ich unbedingt bei Gelegenheit einmal lesen. Was ich auch tat.

Wer willst du sein?

Der Autor entschied sich vor fünf Jahren, vegan zu leben. Im Artikel beschreibt er, wie es ist, wenn man in Krisenzeiten die Normalität des Kotelettgrillens, des Fliegens und Autofahrens nicht mehr hinnimmt. Spoiler: Es sei eine der besten Entscheidungen seines Lebens gewesen, wie er schreibt. Denn es ginge am Ende darum, wer man sein wolle. Unabhängig davon, was die Menschen links und rechts von einem täten.

Kurz nachdem ich den Artikel gelesen hatte, war ich an einem Grillfest mit ehemaligen Arbeitskolleg*innen. Da wurde unter anderem auch Fleisch gegessen. Auch von mir, denn ich ernähre mich weder vegan noch vegetarisch. Und dabei wurde natürlich auch über die Klimakrise gesprochen. Und ebenso natürlich kam das Argument, das in diesem Zusammenhang immer kommt, dass nämlich jegliche Massnahmen unsererseits für die Katz seien, solange «die Chinesen» in Sachen Klimaschutz das täten, was sie angeblich täten: nämlich nichts. Was übrigens nachweislich falsch ist.

Auch das zweite Totschlagargument, das im Dunstkreis des Klimaschutzes und der Frage, was der kostet und wer das alles bezahlen soll, mit schöner Regelmässigkeit genannt wird, wurde ins Feld geführt: die Arbeitsplätze. Davon gingen nämlich viele flöten, wenn wir uns durch Klimaschutzmassnahmen einen Wettbewerbsnachteil gegenüber China einhandelten. So der allgemeine Tenor am Grill.

In derselben Nacht ging ein heftiges Gewitter nieder, Starkregen und Hagel wechselten sich mit Sturmböen ab. So muss sich wohl jemand einmal die Apokalypse vorgestellt haben, ging es mir durch den Kopf, als ich mit offenem Mund dem Spektakel folgend am Fenster meines Schlafzimmers stand.

Biken und denken

Wer will ich sein? In der Krise. In den Krisen. Diese Frage liess mir keine Ruhe. Ich tat, was ich in solchen Momenten oft tue: Ich schwang mich auf mein Gravelbike (ja, es kommt aus Taiwan) und fuhr los. Das war am Morgen nach dem vermeintlichen Weltuntergang. Ich radelte über meine Hausrunde, die ich nun schon seit eineinhalb Jahren regelmässig befahre. Bereits einige Tage zuvor war ich so ins Grübeln gekommen:

Ich kenne meine kleine Hausrunde unterdessen ziemlich gut, weiss, wo gefährliche Stellen sind, wo ich rechts oder links fahren muss, wo ich Tempo machen kann oder auf die Bremse stehe. Mit anderen Worten: Es bleibt Zeit, nachzudenken.

Und dann traf es mich, wie einer der Blitze in der Nacht zuvor. Was interessieren mich die Chines*innen? Wenn die allesamt in den Jangtsekiang springen – sofern er nicht gerade austrocknet – springe ich dann hinterher? Nein. Was interessiert mich mein Nachbar, der mit schöner Regelmässigkeit seinen Abfall im Cheminéeofen verbrennt? Soll ich deswegen meinen Abfall im Garten verbrennen?

Ärgere ich mich über den Nachbarn und über die Chines*innen? Natürlich. Aber ist es nicht heuchlerisch von uns im Westen, dass wir in den letzten 20, 30 Jahren die Produktionen nach China ausgelagert haben und mit ihnen auch den CO₂-Ausstoss? Es braucht schon eine gehörige Portion Überheblichkeit oder Arroganz, sich dann hinzustellen und mit dem Finger nach Osten zu zeigen. Da ärgere ich mich über meinen Nachbarn ehrlich gesagt mehr.

Und die Arbeitsplätze? Die geraten womöglich unter Druck, wenn zusätzliche Umweltschutzkosten entstehen, die Produkte und Dienstleistungen verteuern. Ja, ich arbeite für einen Onlinehändler, der auf alle Fragen oft auch nur eine Antwort kennt: mehr. Was soll er auch sonst sagen? Ausser mehr Umsatz, mehr Gewinn, mehr Produkte. So funktioniert eben unser System. Mehr Konsum. Der killt uns zwar, aber hält die Arbeitsplätze am Leben. Vielleicht ist es ja tatsächlich so, dass man zuerst einen Arbeitsplatz und erst dann einen funktionierenden Planeten braucht. Ich vermute jedoch, es ist umgekehrt.

Der Pippi Langstrumpf-Effekt

Zwei mal drei macht vier widdewiddewitt und drei macht neune! Wir machen uns die Welt widdewidde wie sie uns gefällt ... Wir Menschen besitzen die Fähigkeit, die Realität gedanklich so zurechtzubiegen, dass sie zu unserem Verhalten passt. Umgekehrt scheinen wir mehr Mühe zu haben. Ich bin da keine Ausnahme. Ich fahre nicht Auto, besitze keinen Führerschein. In den letzten 20 Jahren sass ich exakt dreimal in einem Flugzeug. Es fällt mir also nicht schwer, mit dem Finger auf Autofahrende und Vielfliegende zu zeigen und sie zum Verzicht aufzufordern. So wie es der Grillrunde leicht fällt, mit dem Finger nach China zu zeigen und sich noch ein Steak auf den Grill zu klatschen.

Andererseits esse auch ich regelmässig Fleisch, habe ein Flair für teure Parfüms, Baseballcaps und Sneakers. Und ich kaufe gerne mal Veloshirts, die ich nicht wirklich brauche. Das rechtfertige ich vor mir selbst damit, dass ich ja nicht Auto fahre oder für 2 Franken 50 mit Easyjet von A nach B fliege. Auch ich mache mir die Welt, wie sie mir gefällt. Wir sind alle für den Schutz unserer Umwelt, solange wir nichts dafür tun müssen. Ich glaube allerdings unterdessen, dass uns nur der Verzicht vor uns selbst retten wird.

Hier schliesst sich der Kreis zum Artikel im ZEIT Magazin. Dort schreibt Bernd Ulrich unter anderem:

Aber ist diese ewige Verzichtlosigkeitspredigt nicht ohnehin total merkwürdig? In unserem normalen Leben als Erwachsene wissen wir alle, dass nichts von Belang ohne Verzicht möglich ist, keine Liebe, kein Kinderkriegen, kein gesunder Körper und kein beruflicher Erfolg. Nur die Selbstrettung der Menschheit vor ihrer eigenen Zerstörung, die soll ohne Verzicht möglich sein? Wie albern.

Auf meiner Bikerunde quäle ich mich unterdessen im Schlamm vorwärts. Der Regen der Nacht hat die Böden aufgeweicht und der Lehm klebt wie Leim an meinem Velo. Ich komme beinahe nicht mehr vom Fleck. Das diffuse Gefühl, das mich am Morgen noch im Griff hatte, ist aber einer Klarheit im Kopf gewichen.

Wer will ich sein? Diese Frage kann jede*r für sich selbst beantworten. Unabhängig davon, was in China oder im Haus des Nachbarn passiert. Und dabei spielt es überhaupt keine Rolle, dass mein Verhalten objektiv gesehen nichts in der Welt verändert. Denn es verändert mich. Diese Erkenntnis ist ein guter Anfang.

Es scheint fast, als hätten sich meine düsteren Gedanken als Lehm manifestiert und sich an mein Velo geklebt.
Es scheint fast, als hätten sich meine düsteren Gedanken als Lehm manifestiert und sich an mein Velo geklebt.

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Vom Radiojournalisten zum Produkttester und Geschichtenerzähler. Vom Jogger zum Gravelbike-Novizen und Fitness-Enthusiasten mit Lang- und Kurzhantel. Bin gespannt, wohin die Reise noch führt.

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