Ich brauche dringend einen Oldtimer! Mein Leben mit ADHS
Es gibt genau zwei Tätigkeiten, bei denen es mir gelingt, mich für mehrere Stunden zu konzentrieren: schreiben und ernsthafte Gespräche führen. Bei allem anderen klappt es meist nicht mal für eine Minute. Ich habe ADHS.
ADHS heisst Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung. Ich kann also nicht gut zuhören und stillsitzen (es gibt auch noch ADS, das ist das Gleiche, einfach ohne Herumzappeln). Das war mir schon länger bekannt. Meinen Mitmenschen sowieso. Dass es dafür aber einen Namen gibt und weitere Eigenheiten damit zusammenhängen, weiss ich noch nicht so lange. Meine damalige Partnerin hat mich vor sechs Jahren darauf aufmerksam gemacht: «Meyer», sagte sie, «du hast ADHS. Und zwar hart. Ich weiss das, weil ich selber hart ADHS habe.»
Sie schickte mir ein paar Links. Ich las, dass ADHS nicht nur Konzentrationsschwierigkeiten und Ungeduld zur Folge hat, sondern auch eine Neigung zum Chaos, Sprunghaftigkeit, Impulsivität, Stimmungsschwankungen, Einschlafschwierigkeiten, mangelnde Verhaltenskontrolle, Vergesslichkeit bis hin zum Filmriss und so einiges mehr. Alles Dinge, die ich ziemlich gut von mir kannte, aber nie in Zusammenhang gebracht hätte.
Was in den Aufzählungen übrigens fehlte: die Ohrwürmer! Ständig habe ich irgendeine Melodie im Kopf. Aber nicht etwa gute Songs, sondern völlig beliebige Dinge wie «Multipack, Multipack, Radio 24!», die ich irgendwann gehört hatte (es muss lange her sein, man findet im Netz nichts darüber), mir Jahre später unvermittelt einfielen und mich beim Sex oder Einschlafen störten.
Das ist ADHS: Du liegst mit einer Frau im Bett, und alles, was Dir dazu einfällt, ist ein Radio-Jingle.
Einfache Diagnose, schwierige Hilfe
Ich suchte einen Psychiater auf, weil ich erstens Gewissheit haben wollte und zweitens Heilung. Er gab mir einen Fragebogen.
«Füllen Sie das zuhause aus», sagte er.
Ich begann, es auszufüllen.
«Zuhause, sagte ich!» Er ging kopfschüttelnd auf die Toilette.
Jaja, schon gut, dachte ich, füllte den Bogen fertig aus und hielt ihn dem Psychiater stolz hin, als der zurückkam.
Er sah sich das Papier an, drehte es um, rollte mit den Augen und seufzte: «Da wäre noch eine Rückseite gewesen. Ich denke, der Fall ist klar.»
Ich erinnerte mich, dass ich im Gymnasium auf diese Weise nicht wenige Prüfungen in den Sand gesetzt hatte. Weil da noch eine Rückseite gewesen wäre.
Der Arzt verschrieb mir Ritalin. Es funktionierte nicht, ich wurde nur noch nervöser. Ich probierte ein pflanzliches Präparat, LTO3. Das half auch nicht – vielleicht, weil ich vergass, es regelmässig einzunehmen. Mein Gehirn plapperte weiter munter vor sich hin, was sich zum Glück zwar kreativ nutzen liess, häufig aber einfach nur furchtbar anstrengend war. Und teuer! Die erwähnte Impulsivität zeigte sich nämlich bevorzugt in Form von Online-Shopping-Kommando-Missionen, denen kein echter Bedarf zugrundelag, sondern einfach spontane Freude an Objekten aller Art, namentlich Kleidung, Spielzeug, auch grossem, und elektronischen Gadgets.
Das ist ADHS: Du findest, du brauchest dringend einen Oldtimer, einen Mercedes der prächtigen Baureihe W123. Und beschaffst dir dann auch gleich einen. Das geht ja, dank Leasing. Und dann setzt du dich da rein, fährst 500 Meter und merkst: Naja, eigentlich brauche ich gar keinen Oldtimer.
Fuck it
Ich kämpfte schon gegen ADHS, bevor ich wusste, dass ich davon betroffen war. Ich sah ja den Schaden, den ich ständig anrichtete: Ich stiess immer wieder Leute vor den Kopf, weil ich praktisch alles vergass, was sie mir an Persönlichem erzählt hatten, ging, apropos Impulsivität, Beziehungen ein, ohne richtig hinzusehen, mit wem, und gab zu viel Geld aus. Daneben fing ich immer neue Hobbys an, um sie wenig später wieder aufzugeben. Ich weiss nicht, wieviele ich schon hatte. Die zahlreichen Ausrüstungsgegenstände in Keller und Dachboden geben jedenfalls recht eindeutige Hinweise.
All das empfand ich stets als eine Ansammlung von isolierten Charakterdefiziten, die ich unbedingt loswerden wollte, aber nicht konnte. Ich wollte besser zuhören können, mir wichtige Dinge besser merken, Menschengruppen besser aushalten, mich nicht so Hals über Kopf verlieben, sparsamer sein, besonnener, geruhsamer, aber es gelang nicht. Auch nicht mit künstlichen oder natürlichen Hilfsmitteln.
Eines Tages fand ich: Fuck it. Du bist unkonzentriert, vergesslich, chaotisch und sprunghaft, und vermutlich bleibst du es auch. Nimm es an, statt es abzulehnen, und lerne, damit zu leben.
Der Umgang mit ADHS
Als erstes verpasste ich meiner Kreditkarte eine Limite von 400 Franken. Das war, was ich bereit war, monatlich sorglos auszugeben. Ausserdem bat ich meine Bank, mein Sparkonto von meinem Online-Banking herauszulösen. Ich sehe jetzt zwar noch, wieviel Geld drauf ist, müsste aber an den Schalter gehen und ein Formular verlangen, um etwas davon abzuheben. Was ich vor allem deshalb nicht mache, weil es viel zu schön ist, ein Sparkonto zu haben, auf dem sichtlich gespart wird.
Als Nächstes nahm ich mir vor, über sämtliche Beschaffungen einmal zu schlafen. Ich darf also weiterhin schamlos alles in den Digitec- bzw. Galaxus-Warenkorb legen, was mir gefällt, aber erst am nächsten Tag auf »Bestellen« klicken. Das funktioniert ganz gut. Meist. Manchmal vergesse ich die Regel. Und dann die Bestellung. Und dann klingelt am nächsten Morgen der Postbote, und ich bin ganz neugierig, wenn ich das Paket aufmache: Was da wohl drin sein mag? Hui!
Auch sonst versuche ich, meiner Disposition die heiteren Seiten abzugewinnen, was vor allem mit anderen ADHS-Menschen gut funktioniert, zum Beispiel meiner Schwester.
ich: (sagt etwas über den Alltag mit ADHS)
meine Schwester: (sagt etwas über den Alltag mit ADHS)
ich: (sagt etwas zu einem ganz anderen Thema)
meine Schwester: (sagt etwas zu einem ganz anderen Thema)
ich: »Wovon haben wir eben gesprochen?«
meine Schwester: »Äh …«
ich: (lacht)
meine Schwester: (lacht)
ADHS äussert sich wohlgemerkt nicht bei allen gleich. Meine Schwester hat derartige Mühe mit Zahlen, dass sie mal 1980 geboren wurde und mal 1890, während ich noch immer die Telefonnummern von Leuten auswendig kenne, die ich seit 20 Jahren kenne. Umgekehrt geht sie mustergültig mit Geld um. Was aber vielen ADHS-Betroffenen ähnlich ergeht: Die Veranlagung verläuft in Schüben. Das merke ich vor allem beim Schach: Ich spiele täglich online, und wenn mein Spielstand auf einmal um Dutzende Punkte absackt, weil ich offensichtliche Fallen meiner Gegner:innen nicht erkenne oder den Schutz meiner Dame abziehe und sie zum Abschuss freigebe, weiss ich: Hurra, ADHS ist wieder da. Das passiert so alle drei Monate und dauert ein paar Wochen (in denen ich oft ein neues Hobby anfange wie zum Beispiel Modelleisenbahnfahren). Dann beruhigt sich alles wieder, und mein Schach-Score kehrt auf sein übliches Amateurniveau zurück.
Warum das Schreiben und Gespräche, in denen es um ernsthafte Dinge wie Beziehungen geht, von ADHS in meinem Fall nicht betroffen sind, weiss ich nicht. Ich kann unmöglich Hemden bügeln, ohne alle zwei Minuten auf mein Handy zu schauen, aber den ganzen Vormittag an einem Text wie diesem sitzen. Ich kann keinen Smalltalk führen, aber den ganzen Abend mit jemandem über seine oder ihre Trennung sprechen. Da bin ich voll bei der Sache.
Übrigens stehe ich mittlerweile offen zu ADHS. Wenn ich mich mit jemandem zum Arbeiten treffe, melde ich vorher an, dass ich mich schlecht konzentrieren könne und möglicherweise nach relativ kurzer Zeit etwas anderes machen müsse. Und wenn ich am Telefon mit jemandem einen Termin vereinbare, bitte ich im nächsten Satz um eine schriftliche Bestätigung, weil ich um die hohe Wahrscheinlichkeit weiss, dass mit dem Telefonat auch meine Erinnerung an die Abmachung enden wird. Das stösst aber alles fast immer auf Verständnis. Und wird dadurch auch weniger zum Problem.
Es gibt dennoch viele, die ADHS für eine Art Ausrede halten, um sich gehenlassen zu können. Es sind die gleichen Menschen, die spöttisch grinsen, wenn jemand sagt, er oder sie habe Zöliakie und könne keine Weizenprodukte essen. ADHS ist aber keine Ausrede und auch keine Einbildung. Es ist eine ernsthafte Einschränkung, die einen massiv beeinträchtigen kann; sozial, beruflich, wirtschaftlich und in Beziehungen. Sie kann einen daran hindern, das Leben zu führen, das man führen möchte. Und sie erfordert von den Mitmenschen ziemlich viel Nachsicht. Vor allem von der Partnerin oder dem Partner («Davon höre ich zum ersten Mal.» – «Wir haben gestern darüber gesprochen!»). Und von einem selbst schliesslich ebenso.
Im Internet gibt es viele Tests mit schönen Fragen wie dieser: »Wie oft fällt es dir schwer, dich darauf zu konzentrieren, was Leute zu dir sagen, auch dann, wenn sie direkt mit dir reden?«
Du weisst, dass ein solcher Test für dich gemacht ist, wenn du ab Frage 11 von 18 die Fragen nicht mehr genau liest, weil du endlich das Resultat sehen willst.
Kennst du das alles? Oder von jemandem, die oder der dir nahesteht? Erzähl darüber in den Kommentaren!
Der Schriftsteller Thomas Meyer wurde 1974 in Zürich geboren. Er arbeitete als Werbetexter, bis 2012 sein erster Roman «Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse» erschien. Er ist Vater eines Sohnes und hat dadurch immer eine prima Ausrede, um Lego zu kaufen. Mehr von ihm: www.thomasmeyer.ch.