Hintergrund
Bikepacking ins Ungewisse: «Bis auf die Grenzen ist alles offen»
von Michael Restin
Lous und Julen träumen von einem Bike-Trip entlang der alten Seidenstrasse. Wie weit sie es schaffen, steht in den Sternen. Was sie erleben, steht hier. Ein Auftakt mit Polizeieskorte, vielen Begegnungen und Feenhüten.
«Hoffentlich fragt er uns nicht, was bisher das Highlight war», sagt Julen zu Lous. Ich weiss davon noch nichts. Zwei Tage später sprechen wir uns und es dauert es keine zwanzig Minuten, bis ich die verbotene Frage stelle. «Was war bislang euer Highlight?», will ich wissen, in der verzweifelten Hoffnung, etwas Orientierung zu bekommen in dieser Erlebnisflut.
Zwei Monate lang sind Lous und Julen schon unterwegs, mit den Bikes einmal quer durch die Türkei. Von Istanbul aus Richtung Osten. Durch unterirdische Städte, hinauf ins Hochgebirge, hinein ins Herz des Landes und in die Herzen der Menschen. Die sind weit offen, im Gegensatz zu den Grenzen.
Ursprünglich sollte sie ihr Trip entlang der alten Seidenstrasse führen. Nun ist die Weiterreise nach Osten nicht möglich. Als wir uns per Facetime unterhalten, sitzen die beiden gerade in Trabzon an der türkischen Schwarzmeerküste. Und sie lachen bei der Frage nach dem Highlight. Blöde Frage.
Wo also anfangen? Vielleicht am Anfang.
Kaum gestartet, brauchen Lous und Julen schon eine Werkstatt, weil sie sich einen Umwerfer demoliert haben. Ein Problem? Kein Problem. «Das grösste Thema zu Beginn war die Hilfsbereitschaft der Leute», sagt Julen. In diesem Fall hilft ein Mann namens Kaan, der per Google Translate «I will drive you to the bike shop» sagt und alles auf seinen Pickup packt. Ein Mechaniker repariert Lous' Bike und weigert sich standhaft, dafür bezahlt zu werden. «Wir wussten vorher nicht viel über die Türkei, die Menschen sind grossartig», sagt Julen. Offen und gastfreundlich. «Auch die Autofahrer haben viel Geduld und überholen mit Abstand», ergänzt Lous.
Die anfänglichen Probleme und Istanbul hinter sich lassend, finden Lous und Julen in die Spur. Spulen Kilometer ab und beginnen, das Land mit allen Sinnen zu erfahren. «Wir haben so viele Abenteuer erlebt, das ist schwierig zusammenzufassen», sagt Lous. Es würde den Rahmen sprengen. Hier sind ein paar Bilder und Anekdoten, Mosaiksteinchen dieser kunterbunten Reise.
Je abgelegener die Gegend, desto mehr werden Lous und Julen selbst zur Attraktion. «Wenn wir in einen Ort kamen und ins Café gegangen sind, war es innerhalb von fünf Minuten voll», sagt Julen. «Die Leute haben uns in Ruhe etwas trinken lassen und erst danach angefangen, uns auszufragen.» In Windeseile verbreitet sich die Nachricht von den beiden Fremden im Dorf. «Wenn du danach in einen Laden gehst, wissen sie dort schon alles über dich», lacht Lous.
Umgekehrt ist die Herzlichkeit der Einheimischen für die Reisenden beeindruckend. Geschenktes Obst und Gemüse, Einladungen zum Essen, ein Platz zum Schlafen und immer wieder ein Glas Çay – die Gastfreundschaft ist überbordend. Alle Einladungen anzunehmen, ist für Lous und Julen unmöglich, wenn sie vorwärts kommen wollen. Statt die Seidenstrasse zu bereisen, sind sie auf der Selfiestrasse unterwegs. Auch wenn die Verständigung manchmal schwierig ist – ein Erinnerungsfoto wollen fast alle.
Sich sicher und willkommen zu fühlen, macht das Leben simpel. «Unsere grössten Sorgen am Tag sind Wasser, Essen und ein Platz zum Schlafen», sagt Lous. «Ich schätze dieses einfache Leben sehr.» Es ist voller Möglichkeiten. Mal schwierig, mal königlich.
Mit Übernachtung im Schloss und Polizeieskorte, wie am Tag, als Lous und Julen durch Döğer kommen. Der Ort ist nach 100 Corona-Fällen bei 3000 Einwohnern in Quarantäne und die Polizei so freundlich, die beiden Biker mit Blaulicht hindurch zu begleiten.
Je weiter es in entlegene Landstriche geht, desto weniger ist von der Pandemie zu spüren. Auf den Strassen sind Lous und Julen zu zweit alleine und ihr Weg führt ins Höhlenschloss Avdalaz.
Ein verwunschener Ort, der die beiden staunen lässt: «Wir haben uns wie Kinder gefühlt, als wir hochgestiegen sind und die verschiedenen Räume entdeckt haben.» Als der Wind nachlässt und die Nacht über dieses Abenteuerland fällt, liegen glückliche Biker unter einem beeindruckenden Sternenhimmel.
Ein Traum. Einer von vielen. Tag um Tag vergeht, reduziert sich im Rückblick auf Erinnerungen, Momente und schöne Begegnungen. 11. Juli. Ein Bauer am Wegesrand versorgt Lous und Julen mit Snacks und Getränken. Nach einer Ehrenrunde auf seinem Traktor finden die beiden einen Schlafplatz hoch oben im Heu, bevor ein spektakulärer Sonnenuntergang den Abend krönt.
Am nächsten Tag fahren Lous und Julen mitten durch einen See. Zumindest nach ihren Karten. Der Salzsee Tuz Gölü ist im Sommer von einer kristallinen Salzschicht umgeben und in den vergangenen Jahren gewaltig geschrumpft. Klimawandel und Landwirtschaft trocknen ihn aus. Die Türken versuchen, Wasser nachzupumpen und ihn im Gleichgewicht zu halten.
Was nach einer Schneelandschaft aussieht, bietet keine Abkühlung. Natürlich ist dieser Trip keine endlose Aneinanderreihung von Instagram-Momenten, es gehören Strapazen dazu. So soll es sein. So muss es sein. So ist es auch.
Im Hochsommer mit reichlich Gepäck durch die Türkei zu biken, erfordert eine gewisse Leidensfähigkeit. Die Sonne brennt gnadenlos, das Thermometer am Velocomputer klettert bis auf knapp 60 Grad. Der Wind kommt gerne von vorne, kühlt etwas und saugt als Gegenleistung Energie aus den Beinen.
«Wir planen nicht weit voraus», sagt Julen. «Manchmal haben wir ein Tagesziel und merken, dass wir keine Chance haben, es zu erreichen.» Dann ist es eben so. Und es ist auch eine Form von Luxus, flexibel zu bleiben, findet Julen: «Wir fahren kein Rennen und müssen nicht zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort sein.»
Ihre Pläne sind nicht in Stein gemeisselt. Sie entstehen unter Einfluss von Wind und Wetter im Laufe der Zeit und passen sich den Gegebenheiten an. So wie die Feenkamine von Kappadokien.
Wer kein Rennen fährt, muss dieses Weltkulturerbe nicht links liegen lassen. Genau wie Derinkuyu, die Stadt im Untergrund. Lous und Julen bestaunen die Geschichte. Und füllen ihr Leben mit eigenen Geschichten, die nicht ausschliesslich angenehm sind.
Es gibt Tage, an denen die Hitze quält, die Beine schwach sind, die Vorräte zur Neige gehen und kein Laden zu finden ist. Tage, an denen die Steigungen kein Ende nehmen, während die Kräfte schwinden und am Horizont ein Sturm aufzieht.
«Manchmal fühlt es sich so an, als ob nichts geht, und dann passiert etwas Wunderbares», haben Lous und Julen erfahren. Meistens hat es mit Menschen zu tun. Zum Beispiel in Çadıryeri, wo sich das halbe Dorf um die erschöpften Fremden kümmert.
Die erste Familie sorgt für einen trockenen Unterschlupf, bringt Kaffee und Kekse. Die nächste bietet eine warme Dusche an. Die dritte serviert Çay. Derart verpflegt, können die beiden zwar keine Berge versetzen. Aber die Berge in Angriff nehmen, die nun vor ihnen liegen.
Gleich der erste Pass verlangt Lous und Julen alles ab. Früh am Morgen brechen sie auf. Kurz darauf baden sie in Schweiss und fahren, schieben, wuchten ihre Bikes im Schneckentempo die steile Strasse hinauf.
Vor ihnen erstreckt sich eine Mondlandschaft aus Gipfeln, die allesamt 2500 bis 3000 Meter hoch sind. Eine schöne Aussicht, aber keine verlockenden Aussichten.
Bald haben die beiden, die es in der Schweiz bevorzugt in die Berge zieht, genug von staubig-steilen Anstiegen in brütender Hitze. Pläne sind dazu da, geändert zu werden.
Lous und Julen entscheiden sich für mehr Kilometer und weniger Berge. Es gibt genug zu entdecken. «Die Türkei ist so vielseitig, dass es sich gar nicht so anfühlt, als wären wir die ganze Zeit im gleichen Land gewesen», sagt Lous.
Eines aber bleibt gleich: Wo sie auftauchen, werden die Fremden wie Freunde behandelt. Sie sind im Herzen der Türkei angekommen.
Lous und Julen sind immer noch unterwegs. Wie es weitergeht, erfährst du im nächsten Teil.
Sportwissenschaftler, Hochleistungspapi und Homeofficer im Dienste Ihrer Majestät der Schildkröte.