Bikepacking ins Ungewisse: «Bis auf die Grenzen ist alles offen»
17.7.2020
Lous und Julen träumen von einem Trip entlang der alten Seidenstrasse. Wie weit sie es von Istanbul aus in den Osten schaffen, steht in den Sternen. Trotzdem machen sich die Bikepacker auf den Weg.
Wie so viele Pläne hängen auch die von Lous und Julen von heute auf morgen am seidenen Faden. Als der April kommt und die beiden das Weite suchen wollen, ist alles anders. Die Welt eng, das Gefühl beklemmend, die Grenzen geschlossen. Ihr Traum von der Bikepacking-Tour entlang der alten Seidenstrasse wird zum unmöglichen Abenteuer.
Doch Reisende soll und kann man nicht lange aufhalten. Lous de Haart, 33, und Julen Ruiz Aizpuru, 34, sind es als Globetrotter gewohnt, dass sich die Dinge ändern können. Die Niederländerin und der Baske tragen den unerschütterlichen Optimismus im Herzen, den es braucht, um sich auf einen Trip ins Ungewisse einzulassen. Für die beiden ist klar: Sobald es irgendwie möglich ist, lassen sie Zürich hinter sich und brechen auf.
Ich erfahre zufällig von ihren Plänen. Lous ist Physiotherapeutin und ich habe sie vor ein paar Monaten für einen Beitrag besucht. Noch spannender als ihr Feedback zur Challenge Disc ist die Geschichte der anstehenden Tour. Zu einer Zeit, in der die halbe Welt zuhause bleibt, zieht es sie gemeinsam mit Julen in die Ferne. Da das Paar seine Erlebnisse gerne teilt, werde ich im Laufe der nächsten Monate immer wieder mit ihnen sprechen und berichten. Doch dafür muss es erstmal losgehen. Im Juni schreibt Lous: «Es ist soweit!!!» Wobei jedes Ausrufezeichen Vorfreude in die Welt schreit. Über Holland fliegen die beiden nach Istanbul. Und dann?
Kein Plan ist auch ein Plan
Am Tag vor ihrer Abreise treffen wir uns im Zürcher Café du Bonheur und reden über die Vorzüge des Plans, keinen richtigen Plan zu haben. «Es ist jetzt noch etwas abenteuerlicher», sagt Lous. «Wir haben wirklich keine Ahnung, wo wir in einem Monat sind.» Und Julen ergänzt: «Alles ist offen! Ausser die Grenzen.» Ein kleines, aber entscheidendes Detail, das den Weg durch die Weiten Zentralasiens versperrt.
«Georgien sollte bald wieder zu bereisen sein, danach ist es erstmal vorbei», macht sich Lous keine Illusionen. «Armenien ist zu. Iran ist zu. Turkmenistan ist zu.» Vor zwei Jahren war sie gemeinsam mit einer Freundin in Tadschikistan unterwegs und begeistert von der Ursprünglichkeit, die dort zu finden ist: «Da ist die Natur noch der Chef.»
Die Route entlang der alten Seidenstrasse reizt beide. «Ich war sehr neidisch, als ich ihre Bilder aus Tadschikistan gesehen habe», sagt Julen. So reift der Gedanke, die touristisch relativ unberührten Länder gemeinsam unter die Räder zu nehmen. Beide sind erfahrene Bikepacker, doch diese Tour ist grösser und erfordert mehr Ausrüstung als ihre vorherigen Trips. Manches ist neu, doch ihre Einstellung behalten sie bei: Lous und Julen sind sich einig, dass es beim Reisen genug Raum für Zufälle braucht.
Entsprechend locker nehmen sie es, dass die ins Auge gefasste Route vorerst ein Traum bleibt: «Es ist jetzt alles anders, aber ich bin nicht enttäuscht», sagt Julen. «Die Dinge sind, wie sie sind.» Der Job als Programmierer ist gekündigt, die Zeit bis Dezember wird mit Erlebnissen gefüllt. So oder so freut er sich darauf: «Velofahren ist eine Sache des Lebens für mich. Reisen auch. Es ist immer schön, beides zusammen machen zu können.»
Zwei Bikes, vier fitte Beine und acht prall gefüllte Satteltaschen sind genug, um das Abenteuer zu beginnen. Irgendwo im Osten, soweit es eben geht. Dort ist es auch möglich, Abstand zu gewinnen. «Je mehr Nachrichten du in Corona-Zeiten liest, desto schlimmer fühlt es sich an», meint Julen. Da tut es gut, alleine unterwegs zu sein, die Natur zu geniessen und die restliche Welt nur dosiert an sich heranzulassen: «Ich will nicht jeden Tag im Internet suchen müssen, ob wieder eine Grenze offen ist», sagt Lous. Selbst das Navi wird nicht täglich mit einer neuen Route gefüttert: «Wir fahren dann einfach nach Karte.»
Solange der innere Kompass stimmt, wird sich alles andere ergeben. Der ist natürlich auch auf Begegnungen ausgerichtet, die das Reisen mit sich bringt. Speziell in Regionen, wo die Menschen besonders offen und gastfreundlich sind. «Die meisten sagen, dass es in Iran und der Türkei unmöglich ist, dein eigenes Essen zu kochen, weil du überall eingeladen wirst», erzählt Julen. «Wir hoffen, dass wir das erleben können.» Bei allem gebotenen Abstand soll das Zwischenmenschliche nicht zu kurz kommen. «Wir werden kreativ sein und viele Leute fragen, ob wir bei ihnen zelten dürfen», sagt Lous. Es braucht ein gewisses Grundvertrauen in sich und die anderen, um so einen Trip anzugehen. Niemand kann auf alles vorbereitet sein.
Hitze, Schnee und ein Schloss aus Stein
Neben Nahrung, Wasser und Kleiderschichten für extreme Temperaturen stecken vor allem Ersatzteile im Gepäck. Bremsscheiben, Ketten, Flickzeug – alles, was es braucht, um mobil zu bleiben. «Ich habe in Tadschikistans Hauptstadt Duschanbe mal einen Bikepacker getroffen, der drei Wochen auf Ersatzteile aus Russland warten musste», erzählt Lous. Die Gefahr, nicht fahren zu können, versuchen die beiden möglichst klein zu halten.
Sie wollen viel offroad unterwegs sein und haben mit vollem Gepäck auf Trails der Kategorie S1 und S2 trainiert. Pannen, Stürze und bissige Hunde könnten ihre Pläne durchkreuzen. Was auch kommen wird, Lous und Julen werden das Beste daraus machen und Wege finden, die eine Reise wert sind. «Wie schlimm ist es schon, an der geschlossenen Grenze zu Georgien zu stehen? Dann drehen wir das Velo halt um und fahren durch den Süden der Türkei», meint Lous. «Die Welt hat so viele schöne Orte», sagt sie noch, bevor die beiden im Zürcher Sommerregen verschwinden. Ein paar Tage später erreicht mich per WhatsApp der erste Bildbeweis: Ein Schloss aus Stein, das nachts sicher mehr als fünf Sterne hat.
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Sportwissenschaftler, Hochleistungspapi und Homeofficer im Dienste Ihrer Majestät der Schildkröte.