«Love, Victor», Die Gay-Serie, die Disney nicht haben will
In «Love, Victor» muss sich ein Teenie, neu an der Schule und mit religiösen Eltern, über seine sexuelle Orientierung klar werden. Die Serie ist herzerwärmend und wichtig. Trotz Disney-Weichspülung.
Eines vorweg: In dem Review gibt’s keine Spoiler. Du liest nur das, was aus den bereits veröffentlichten Trailern bekannt ist.
Kaum ein anderes Medienhaus der Welt sieht sich so oft mit dem Vorwurf konfrontiert, konservativ zu sein, wie Disney. Wenn «Love, Victor» also etwas hätte sein können – sein müssen –, dann ein Statement.
«Ihr haltet uns für rückständig? Wir können auch anders. Offener. Mutiger.»
Disney hat die Chance verpasst. Nicht, weil «Love, Victor» seine Geschichte nicht mutig genug erzählen darf. Sondern, weil «Love, Victor» seine Geschichte nicht auf Disney+ erzählen darf. In den USA zumindest. Dort läuft sie auf Hulu. Hierzulande nicht. Immerhin. Aber Disney+ «versteckt» die Serie unter Star, der neuen Themenwelt für erwachsene, nicht familienfreundliche Inhalte. «Deadpool» oder «Terminator» zum Beispiel.
Genau das ist der Punkt. «Love, Victor» hat dort, unter Star, nichts verloren. Die Serie ist zu wichtig, zu gut und – letztendlich – schlichtweg zu familienfreundlich, um sie als etwas anstössig-anrüchiges abzustempeln, mit dem jüngere Menschen nicht ohne Weiteres konfrontiert werden dürfen. Daran ändert auch die zentrale Thematik nichts.
Im Gegenteil.
Die Entdeckung der Sexualität
Wer bin ich? Diese Frage. Die Meisten kennen sie. Ziemlich gut sogar, aus Teenager-Zeiten. Victor (Michael Cimino), 16-jährig, kann ein Lied davon singen. Für ihn ist die Frage weit existenzieller als für viele andere Jugendliche in seinem Alter. Sie zu beantworten, ehrlich und aufrichtig, bedeutet nämlich, sich selber zu akzeptieren. Sich gern zu haben. Für sich selber einzustehen und sich moralischen und herabwürdigenden Vorurteilen zu stellen.
Denn: Victor ist schwul.
Dass er der Neue auf der Creekwood High School ist, hilft nicht. Genauso wenig, dass er sich seiner sexuellen Orientierung eigentlich noch gar nicht so sicher ist. Mag er Jungs? Mädchen? Beides? Darüber zu reden fällt ihm schwer. Freunde hat der Neue noch keine. Seine religiösen Eltern? Schwierig. Jesus und so. Dazu haben die eh mit eigenen Eheproblemen zu kämpfen.
Dann erfährt er von Simon (Nick Robinson), einem Jungen, der noch vergangenes Jahr ebenfalls auf der Creekwood High School war und sein Coming-Out hatte – vor der versammelten Schule. Und alle fanden’s toll. Selbst die Eltern. Der Glückspilz. Victor greift also zum Handy, findet Simons Instagram-Account und schreibt ihm:
«Du kannst mich mal, Simon.»
Das Spin-off, das das Original in Frage stellt
Das ist das Schöne an «Love, Victor». Ich erwartete keine Überraschungen. Oder Wendungen. Aber wenn’s doch welche gäbe, dann wären sie bestimmt so klischeebehaftet, dass sich meine Augen einmal im Kreis verdrehen würden – dachte ich. Wie bei «Stargirl», auch auf Disney+. Kennst du «Stargirl»? Falls nicht: Du verpasst nichts. Ehrlich.
«Love, Victor» aber ist anders. Nicht gänzlich anders. Nur anders genug, um sich meine Aufmerksamkeit zu verdienen. Angefangen mit Victors «Du kannst mich mal». Das ist meta. «Du kannst mich mal» richtet sich nämlich nicht nur an Simon, den Charakter, sondern auch an «Love, Simon», den Film.
Wait, what?
Unter dem mittlerweile von Disney gekauften Dach von Fox-Studios entstand anno 2018 die romantische Komödie «Love, Simon». Hauptcharakter: Simon, Teenie, schwul. An der Creekwood High School kennt niemand sein Geheimnis. Dann outet sich ein Schüler, anonym: Blue. Simon beginnt eine E-Mail-Freundschaft. Dann eine Romanze. Es kommt zum grossen Coming-Out auf dem Riesenrad. Alle feiern – Happy End.
Genau das war dann auch die grosse Kritik an «Love, Simon». Dass der Film zwar sympathisch und für die Gay-Community wichtig sei, würde niemand anfechten. Das ändert aber nichts daran, dass die Geschichte aus der Sicht eines privilegierten, weissen und wohlhabenden Jungen erzählt wird, dessen gesamtes Umfeld unheimlich verständnisvoll auf seine sexuelle Orientierung reagiert.
Massentauglich? Ja. Realitätsfremd? Vermutlich.
«Ich will dich eines wissen lassen, Simon. Nämlich, dass du verdammt viel Glück hattest», schreibt Victor entsprechend in seiner an Simon gerichteten Instagram-Message.
Victor, Latino, stellt sich damit auf die Seite der kritischen Stimmen. Ein spannender Kniff der Serienschöpfer Elizabeth Berger and Isaac Aptaker, die «Love, Victor» damit jene Daseinsberechtigung geben, die Spin-Offs oft fehlt.
Das alles noch auf vollkommen organische Weise: Wo Simon im Film bereits weiss, dass er schwul ist, weshalb er «nur» über die Folgen eines Coming-Outs besorgt ist, muss sich Victor in der Serie erst noch über seine sexuelle Orientierung im Klaren werden, bevor er überhaupt ans Coming-Out denken kann.
Gar nicht so einfach.
Über die innere Zerrissenheit der Jugend
Ich mag Victors innere Zerrissenheit. Sein Kampf damit. Seine Ängste. Hoffnungen. Enttäuschungen. Da ist zum Beispiel dieses Mädchen, das er kennenlernt. Rachel (Mia Brooks). Wenn er sie küsst, dann hat er Schmetterlinge im Bauch. Ist ja normal. Victor ist normal. Normal ist gut.
Aber dann… dann denkt Victor an Benji (George Sear), ein offen schwuler Junge auf derselben Schule. Plötzlich sind da keine Schmetterlinge mehr im Bauch. Da sind Düsenjets. Düsenjets wie jene, die am Super Bowl über das Feld donnern und die ganze Welt erbeben lassen. Seine Welt. Victors. Verdammt.
Victor könnte ja zugeben, zumindest bisexuell zu sein. Ist ja nicht so schlimm, wie ausschliesslich auf Männer zu stehen. Weil… als Bisexueller würde er schliesslich auch auf Mädchen stehen. Dann wäre er wenigstens ein bisschen normal.
Das ist doch ein bisschen normal, oder?
Es sei denn… er hätte als Neuer sowas wie carte blanche, sich selber zu definieren, ohne dafür verurteilt zu werden. Das wäre schön. Haben Neue nicht eine Art Bonus? Dieser Simon, bei dem war’s ja auch nicht schlimm, dass er sich geoutet hat. Und der war kein Neuer. Im Gegenteil.
«Das ist ja voll schwul», hört er dann Jungs in der Männerumkleide sagen, «ihr hattet das ganze Haus für euch, aber ihr habt nur gefummelt?» Scheinbar normale, harmlose Sprüche, wie sie in jeder Unterhaltung unter Jungs fallen. «Da hättest du ja gleich mit einem Mann Sex haben können.»
Normale Sprüche.
Nicht für Victor.
Seiner Schwester (Isabella Ferreira) geht’s auch nicht besser. Der Latino-Hintergrund; «Dora» wird sie gehänselt, wie das Mädchen aus der Kinderserie. Dazu die ohnehin harsche Persönlichkeit, mit der sie überall aneckt. Auch zu Hause, wo die Eltern der beiden mit Eheproblemen kämpfen.
«Wenigstens um dich muss ich mir keine Sorgen machen», sagt die liebende Mutter (Ana Ortiz) zu Victor.
Victor lächelt. Gequält.
Ich kann Victors Gedanken förmlich hören: Warum hat dieser Simon seine perfekten Eltern, seine immer zu ihm haltenden Freunde – sein Happy End? Warum muss für mich hingegen alles so verflucht komplizierter sein?
Da, der Griff zum Handy: «Du kannst mich mal, Simon.»
Disneys umstrittene Entscheidung
Eifersucht. Es ist eine kleine, aber feine Charakterzeichnung, die Victor da bekommt. Sie macht ihn realer, greifbarer, was auch dringend nötig ist. Denn oft wirkt Victors Herzensgüte beinahe unheimlich. Sicher, diese Gutmütigkeit hilft anfangs, Sympathie für ihn, den Hauptcharakter, aufzubauen. Das machen die Schöpfer Berger und Aptaker schon richtig so. Über die zehn Folgen à etwa 30 Minuten hätte es aber nicht geschadet, Victor etwas mehr Ecken und Kanten zu geben statt die wenigen, die da sind, zu schleifen.
Dasselbe gilt für seine Freunde und Feinde, die er sich im Laufe der Serie zutut. Da gibt’s beispielsweise den bösen Sportstar, die aufmüpfige Schwester, den überdrehten besten Freund/Aussenseiter und den Schwarm mit perfektem Haar. Sie alle wirken übertrieben schablonenhaft. Ohne was zu verraten: Ausgerechnet sie, die Nebencharaktere, sind es, die im Laufe der Serie etwas mehr Tiefe bekommen, nicht Victor.
Wo «Love, Victor» also in seiner Charakterzeichnung etwas schwächelt, punktet die Serie dafür in der Disney-gerechten Darstellung ihrer tabuisierten Konflikte. Konflikte wie Homophobie oder sexuelle Energien, die wiederum Fragen über Liebe und Lust hervorrufen. Mutig. Für Disney. I like.
Warum «Love, Victor» dann trotzdem nur unter der passwortgeschützten Kachel von Star läuft?
Keine Ahnung. Offiziell, so Entertainment Weekly, hätte die Darstellung von Alkoholkonsum, Eheproblemen und sexueller Exploration zu Disneys umstrittener Entscheidung, «Love, Victor» kurz vor Veröffentlichnung doch nicht als Disney+-Original zu lancieren, geführt.
Ich kann dem nicht allzuviel abgewinnen. «Love, Victor» ist definitiv kein «Euphoria», wo Ex-Disney-Kinderstar Zendaya uns Zuschauern die Besonderheit von Dickpics erklärt und sich mit allerhand Pillen und Drogen derart krass in die Selbstzerstörung dröhnt, dass ich beim Gucken immer wieder erleichtert gedacht habe: Gott-sei-Dank habe ich diese deprimierende Teeniezeit hinter mir.
Im Vergleich dazu ist «Love, Victor» weichgespült. Ja, Jugendliche trinken Alkohol. Explizit zu sehen ist das aber nicht. Wenn Jugendliche an einer Homeparty was trinken, dann aus roten Pappbechern. Der Einzige, der sichtlich besoffen ist, blamiert sich bis auf die Knochen und muss am nächsten Tag mit einem üblen Kater auskommen. Klingt für mich nach einer vernünftigen Darstellung von Alkoholkonsum unter Minderjährigen.
Und sonst?
Mädchen reden über ihre Brüste. Jungs nehmen das Wort «Sex» in den Mund. Ab und zu sind knappe Outfits zu sehen. Niemals aber in einem Masse, den ich als «anzüglich» bezeichnen würde. Die eine Szene, die da noch am weitesten geht, ist jene, in der Victor von Benji gezeigt bekommt, wie man an einer Barista-Kaffeemaschine Kaffee mit Milchschaum macht. Zwei Männer. Gesicht an Gesicht. Und Milchschaum, der rumspritzt. Ui. Obszön!
Tatsächlich wirkt nichts an «Love, Victor» anstössig genug, um es als unerhört unanständig oder gar vulgär zu beschreiben. Nicht mal, wenn Jugendliche über Sex reden oder sie mit ihren Flirts etwas körperlicheres als nur «ich mag dich» ausdrücken.
Ganz so schwarz will ich Disney aber nicht zeichnen. Schliesslich ist die Serie ja da, auf Disney+, wenn auch über Umwege. Dennoch verhält sich das Haus der Maus widersprüchlich. Zum einen bestellt Disney eine Serie übers Erwachsenwerden. Über die ganzen komplizierten und verwirrenden Gefühle, die uns in unserer Jugend rumgetrieben haben und über die nie irgendjemand spricht. Und das in einer Form, die aufs jüngere Disney-Publikum zugeschnitten ist, das sich noch kein «Euphoria» reinziehen darf, aber trotzdem Redebedarf hat.
Super. Wirklich super. Und das ist kein Sarkasmus.
Zum anderen aber verbannt Disney die Serie dorthin, wo’s ein Passwort braucht, um sie zu sehen. Warum? Disney drückt «Love, Victor» so doch nur den «Ich bin halt schon etwas zu verrucht»-Stempel auf, und tabuisiert damit eine Serie, die eigentlich gegen vorherrschende Tabus vorgehen will. Das kapiere ich nicht.
Ein unfassbar kontraproduktiver und – eben – widersprüchlicher Zug.
Fazit
Ich will mir nicht anmassen zu wissen, wie es für Victor sein muss, mit dieser inneren Zerrissenheit leben oder gar kämpfen zu müssen. «Love, Victor» macht aber einen verdammt guten Job darin, mir die damit verbundenen Befürchtungen näherzubringen. Vor allem, da sie zeigt, dass die heutige Gesellschaft zwar viel liberaler ist als früher – frei von Tabus ist sie aber noch lange nicht.
Tipp zum Thema: Schau dir das oscarprämierte «Moonlight» an, falls dich die Thematik in Verbindung mit Rassismus interessiert. Oder «Call me by your name», in etwa dieselbe Geschichte wie Victors, aber auf ein erwachsenes Publikum zugeschnitten.
Bei «Love, Victor» jedenfalls ertappe ich mich immer wieder beim Gedanken: «Ich muss besser auf meine Sprache achten». Da gibt’s schon Sprüche, Ausdrücke und Gesten, die für mich harmlos wirken, beinahe normal, und die ich nie und nimmer diskriminierend meinen würde. Aber das weiss mein Gegenüber doch nicht.
Ich will mich bessern. Das hat «Love, Victor» gut gemacht. Schade nur, hat die Serie zum Launch von Disney+ nicht gleich mit starten dürfen. Stattdessen wird sie jetzt nachgereicht, Monate später, ohne allzu viel Brimborium.
Die ersten zwei Folgen von «Love, Victor» sind seit dem 23. Februar 2021 auf Disney+ zu sehen. Danach wird jeden Freitag die jeweils nächste Folge veröffentlicht.
Abenteuer in der Natur zu erleben und mit Sport an meine Grenzen zu gehen, bis der eigene Puls zum Beat wird — das ist meine Komfortzone. Zum Ausgleich geniesse ich auch die ruhigen Momente mit einem guten Buch über gefährliche Intrigen und finstere Königsmörder. Manchmal schwärme ich für Filmmusik, minutenlang. Hängt wohl mit meiner ausgeprägten Leidenschaft fürs Kino zusammen. Was ich immer schon sagen wollte: «Ich bin Groot.»