Filmkritik: Disney hat’s getan – «Cruella» ist fantastisch
Disney-weichgespült? Nope. «Cruella» ist verdammt gut. Schlichtweg. Dafür sorgen die oscarverdächtigen Kostüme, ein erfrischend punk-rockiger Soundtrack, die nahezu perfekte Besetzung und eine clevere Regie.
Eines vorweg: In dem Review gibt’s keine Spoiler. Du liest nur das, was aus den bereits veröffentlichten Trailern bekannt ist.
Jaja, ich weiss schon, was du denkst. Disney und seine Remakes. Schon wieder. Gähn. Keine der vergangenen Live-Action-Interpretationen früherer Trickfilm-Klassiker hat dem Original auch nur ansatzweise das Wasser reichen können. Warum sollte «Cruella» da anders sein?
Nun: Der neuste Remake-Streich Disneys ist anders.
Er ist cleverer. Macht nicht den «Lion King» und erzählt einfach nach, was es als Zeichentrick eh schon gegeben hat. Er verschlimmbessert auch nichts à la «Mulan». Stattdessen nimmt er die berüchtigte Antagonistin aus «101 Dalmatians» und erfindet sie neu. Gänzlich neu. Dadurch bekommt «Cruella» das, was allen anderen Live-Action-Adaptionen gefehlt hat.
Ein Grund, zu existieren.
Die Rebellion der Jugend
Die frühen 1970er, London. Estella (Emma Stone) ist jung, wild und hat den Kopf voller Ideen. Zusammen mit den beiden diebischen, aber liebenswerten Jasper (Joel Fry) und Horace (Paul Walter Hauser) baut sie sich ein Leben am Rande der Kriminalität auf. Bis eines Tages Estellas Flair für modische Designs die Aufmerksamkeit der legendären Baroness von Hellmann (Emma Thompson), Chefin des angesagtesten Modelabels der High Society Londons, für sich gewinnt.
Bald schon steigt die talentierte Estella zum Protégé der Baroness auf. Allerdings nicht, ohne dunkelste Machenschaften aufzudecken, die Estella in ihren Grundfesten erschüttern. So sehr sogar, dass ihre niedersten, inneren Abgründe zum Vorschein kommen – und noch mehr.
Was folgt, ist Rebellion.
Die Regie, die ihr Handwerk versteht
Na also. Endlich mal ein Live-Action-Remake Disneys, das sich traut, aus dem Schatten seines Originals zu treten. Und zwar so richtig. Denn wenn «Cruella» etwas nicht ist, dann gewöhnlich. Zu abgefahren die Charaktere, die Kostüme, die Ausstattung oder der Soundtrack. Alles kreischt. Alles schreit. Alles ist entweder todschick oder abartig schrill.
«Normal? Pffffff», hallt es förmlich von der Leinwand herunter.
Schuld daran ist Regisseur Craig Gillespie. Geschickt siedelt er «seine» Cruella inmitten der 1970er Punk- und Pub-Rock-Revolution Londons an. Das trägt ungemein zum Vibe des Films bei – und zu seiner Hauptfigur. Der Australier hat mit «I, Tonya» bereits bewiesen, dass er moralisch ambivalente Charaktere zu inszenieren weiss. Im Nachgang eine Bestätigung, dass Disney ganz genau gewusst hat, wem sie da den Regieposten geben.
Schliesslich ging’s bereits in «I, Tonya» um die rüde, aber talentierte Eiskunstläuferin Tonya Harding, die dem Establishment der schicki-micki Eiskunstlauf-Szene nicht in den Kram passt. «Cruella» ist gar nicht so weit davon entfernt. Dort ist es die junge Estella, die sich erst später Cruella nennt, die der High Society Londons den Mittelfinger zeigt – mit verwegener Mode und Punk Rock, versteht sich.
Etwa, wenn sie zu einer punkigen Version von «These Boots Are Made for Walkin'» eine grosse Modeshow stürmt. Auf einem Motorrad, wohlgemerkt. Da ist auf der einen Seite die Mentorin/Rivalin, die Baroness, die gefürchtete Schönheit in Person. Auf der anderen Seite Cruella mit Lederjacke und Helm. Frech. Dann stülpt sie ihn runter. Das Gesicht voller schwarzer Schminke. Schmutzig. Aber die Stellen, die sie ausgelassen hat, ergeben eine Schrift: «The Future».
Ha! Das ist so meta, dass es wieder cool ist.
Es ist vor allem diese zweite Filmhälfte, in der Gillespie die dunklen Abgründe seiner Hauptfigur förmlich auskostet. Er kann sich das leisten, weil er seine Hauptfigur zu dem Zeitpunkt längst als görige, aber sympathische junge Frau etabliert hat. Nicht frei von Makeln. Aber empathisch genug, um sich auf ihre Seite zu schlagen. Ein bisschen Rebellion schadet nicht.
Noch nicht.
Vor allem aber macht sie Spass. Auch, weil Gillespie sein Regie-Handwerk versteht. Da sind lange Kamerafahrten, spannende Einstellungen und immer wieder clevere Szenenübergänge. Dienst nach Vorschrift wie Guy Ritchies «Aladdin» sieht anders aus. Mein Auge kann sich an den detailversessenen Kulissen kaum sattsehen. Der rockige Soundtrack, der fast den ganzen Film begleitet, lässt jedes Bein im Saal mitwippen. Da geht beinahe unter, dass mit Nicholas Britell ein eigentlich äusserst fähiger Komponist die Filmmusik geschrieben hat.
Egal. «Cruella», der Film, will genauso anecken wie seine Protagonistin. Oder der LGBTQ-Charakter innerhalb der Story, der so beiläufig eingewoben wird, dass es perfekt passt. Offenbar hat Filmstudio Disney da seinem Regisseur viel freie Hand gelassen und Risiken nicht nur geduldet, sondern gewünscht.
Das gilt auch für die Richtung, die Emma Stone mit ihrer Interpretation von Cruella einschlägt.
Die unfassbaren Emmas
Emma Stone. Ihre Cruella könnte kaum weiter weg sein von dem, was Glenn Close anno 1996 in Disneys ersten Live-Action-Adaption von «101 Dalmatians» gespielt hat. Versteh mich nicht falsch: Close ist perfekt. Die zu Fleisch gewordene Cruella aus den Trickfilmen. Verrückt und exzentrisch. Aber Stone – Stone ist eine Göre. Die rotzfreche Rebellin, die sich gegen das Establishment auflehnt.
Das ist so viel anders als Close, dass es einfach nur grossartig anzuschauen ist. Gerade, weil Stone nicht die Cruella gibt, die wir erwartet hätten. Ihre Cruella ist eine Mischung aus der Sexyness der 1970er Nancy Sinatra und der schrillen Verrücktheit Margot Robbies Harley Quinn in DCs «Suicide Squad».
Klingt sowas für dich nach Disney?
Eben. Ihr gegenüber steht eine andere Emma. Emma Thompson. Sie spielt die Baroness genauso wie Meryl Streep Miranda Priestly in «The Devil Wears Prada» gespielt hat: Herrisch, gefürchtet und stets von oben herab blickend. Und wenn sie spricht, dann verharren selbst die Vögel in der Luft, um zu horchen.
Es sind diese zwei Naturgewalten, Stone und Thompson, die «Cruella» zu einem wahrlich grandiosen Kinoevent machen. Schwierig, zu sagen, welche der beiden mehr Freude an ihrer Rolle hat. Die Aufmüpfigkeit in Person oder die adlige Traditionalistin schlechthin? Wie auch immer. Die lachenden Dritten sind wir, die Zuschauer.
Gerade auch, weil Gillespie ein weiteres Ass im Ärmel hat. Zwei sogar, um genau zu sein: Jasper und Horace, gespielt von Joel Fry und Paul Walter Hauser. In «101 Dalmatians» sind sie die trotteligen Handlanger Cruellas. In «Cruella» hingegen sind sie weit mehr als das. Sie sind das Herz des Films. Die, die uns Zuschauern Perspektive geben; der Blick von Aussen auf den Wahnsinn zweier sich bekriegender Göttinnen. Und gleichzeitig ist ihr komödiantisches Timing so perfekt, dass sie in fast jeder Szene, in der sie vorkommen, den beiden Emmas die Show stehlen.
Das will was heissen.
Inmitten dieser filmisch grandios inszenierten Rebellion steckt aber auch eine riesengrosse Portion Jenny Beavan. Sie ist die Kostümdesignerin, die hinter all den umwerfenden Kleidern steckt, die im Film so teuflisch göttlich – oder göttlich teuflisch, wie man’s dreht – zur Geltung kommen. Beavan ist schliesslich keine Unbekannte: 2016 erhielt sie den Oscar für die besten Kostüme in «Mad Max: Fury Road». Wenn ihr «Cruella» nicht einen weiteren Oscar bringt, dann weiss ich auch nicht weiter.
Fazit
«Cruella» ist ohne Zweifel Disneys beste Live-Action-Adaption früherer Trickfilm-Klassiker. Nicht nur wegen den atemberaubenden Kostümen und Kulissen. Auch, weil die Story – wenn auch einigermassen vorhersehbar – unfassbar viel Spass macht, zu keiner Sekunde langweilig wird aber vor allem kein billiger Abklatsch eines Klassikers ist, der einfach nur die Nostalgie-Karte zieht.
Dazu kommen die nahezu perfekten Emma Stone, Emma Thompson, Joel Fry und Paul Walter, die sich unter der fähigen Regie des Craig Gillespie gegenseitig an die Wand spielen. Nimm noch den erfrischend punk-rockigen Soundtrack dazu. Dann hast du mit «Cruella» endlich mal wieder einen verdammt guten Grund, ins Kino zu gehen.
Zu sehen ist «Cruella» ab dem 27. Mai im Kino und ab dem 28. Mai auf Disney+ via kostenpflichtigen VIP-Zugang (29.90 Franken).
Abenteuer in der Natur zu erleben und mit Sport an meine Grenzen zu gehen, bis der eigene Puls zum Beat wird — das ist meine Komfortzone. Zum Ausgleich geniesse ich auch die ruhigen Momente mit einem guten Buch über gefährliche Intrigen und finstere Königsmörder. Manchmal schwärme ich für Filmmusik, minutenlang. Hängt wohl mit meiner ausgeprägten Leidenschaft fürs Kino zusammen. Was ich immer schon sagen wollte: «Ich bin Groot.»