Kurzsichtigkeit: Besser sehen dank Tropfen, Linsen & Spezialgläsern
Kurzsichtigkeit entsteht im Primarschulalter. Doch man kann gegensteuern. Anders als früher bekommen Kinder heute nicht einfach nur Brillen mit Einstärken-Gläsern verordnet. Denn die können schlimmstenfalls die Myopie vorantreiben.
Sie nimmt schon fast endemische Ausmaße an: die Myopie, besser bekannt als Kurzsichtigkeit. Immer mehr Menschen leiden daran, in der Ferne nicht gut zu sehen – wobei der Begriff «Ferne» mit zunehmender Dioptrien-Zahl obsolet wird. Denn wer richtig stark kurzsichtig ist (ab circa -6 Dioptrien), kann schon in 30 bis 40 Zentimetern Entfernung nichts mehr scharf erkennen.
Weltweit sind laut dem International Myopia Institute aktuell 30 Prozent der Menschen kurzsichtig – Tendenz exponentiell steigend. So geht das Institut davon aus, dass die Zahl bis 2050 auf die Hälfte der Weltbevölkerung ansteigen wird.
Aus China berichtet man schon jetzt von bis zu 95 Prozent Betroffenen in bestimmten Gesellschaftsschichten. Auch in der Schweiz sind die Zahlen hoch: Hier sind 33 Prozent der Erwachsenen von Kurzsichtigkeit betroffen, wie die Statistik zeigt.
Insbesondere bei Kindern wird die Myopie immer häufiger diagnostiziert. Kein Wunder, schließlich tritt die Fehlsichtigkeit das erste Mal im Primarschulalter auf und macht dann Probleme. Die klassische «Schul-Myopie» beginnt in der Regel im Alter von acht Jahren und schreitet in der Regel bis etwa zum 15. Lebensjahr voran.
Ich habe mit Marc Fankhauser, Optometrist und Kontaktlinsenspezialist im Optikerstudio Eyeness in Bern, über Behandlungsmöglichkeiten der Myopie geredet – und einen Blick auf die Forschung geworfen, um den explosionsartigen Anstieg der Kurzsichtigkeit zu verstehen.
Myopie: Genetik oder Umwelteinflüsse?
Myopie ist die häufigste Entwicklungsanomalie der Augen. Und die ist zunächst genetisch bedingt, also erblich: Bei der Kurzsichtigkeit ist der Augapfel länger als gewöhnlich, weshalb das Licht nicht an der Netzhaut, sondern davor bricht.
Doch nicht nur die schlechte Fernsicht kennzeichnet die Fehlsichtigkeit: «Beim Vorliegen einer Myopie steigt mit zunehmendem Lebensalter das Risiko für degenerative Augenerkrankungen, wie etwa für Katarakt (grauer Star), Glaukom (grüner Star), eine Netzhautablösung oder eine myope Makuladegeneration», schreibt die Österreichische Ophthalmologische Gesellschaft in einer Aussendung.
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) bezeichnet die unkorrigierte Fehlsichtigkeit gar als zweithäufigste Ursache für Sehbehinderung und Sehverlust.
Die gefürchtete Netzhautablösung kann schon Betroffene mit einer Kurzsichtigkeit zwischen -1 und -3 Dioptrien betreffen: Sie haben ein viermal höheres Risiko für eine Netzhautablösung als Normalsichtige.
Bei höherer Dioptrien-Zahl ist das Risiko sogar zehnmal so hoch. Da bei einer Myopie der Augapfel länger wächst als er soll, wird auch auf die empfindlichen Augenhäute immer mehr Zugkraft ausgeübt. So kann die Netzhaut reißen, Löcher bekommen oder sich ganz von der Aderhaut ablösen.
Die gute Nachricht ist: Du kannst bei deinen Kindern präventiv gut einlenken, denn entscheidender als die Gene sind gewisse Umwelteinflüsse. Das unterstreicht unter anderem eine Studie im Community Eye Health Journal. Die Forschenden schreiben: «Die Entwicklung der Myopie ist multifaktoriell, wobei der Einfluss der Gene als klein einzustufen ist.»
Kurzsichtigkeit bei Kindern: Mehr Zeit draußen, weniger vor dem Bildschirm
Wichtiger seien äußere Faktoren, konkret Tageslicht, und ein Vermeiden von Naharbeit – also kurze Lesedistanz. So berichtet das Fachblatt Nature 2015 von einem beachtlichen Anstieg der Myopie-Fälle in Südostasien: Seit dem Zweiten Weltkrieg sei die Kurzsichtigkeit von 20 auf 80 Prozent gestiegen. Die Autorinnen und Autoren schließen auf eine bemerkenswerte Anpassungsfähigkeit des Sehsystems vom Fern- in den Nahbereich: Die Gründe dafür könnten den Forschenden zufolge nicht rein genetisch sein.
Im Gegenteil: Das Arbeiten bei zu wenig oder künstlichem Licht gilt unter Forschenden als Hauptgrund für den explosionsartigen Anstieg der Kurzsichtigkeit. Neuen Forschungsanlass gab dazu die Covid-19-Pandemie. Home Schooling und Ausgangssperren haben die Bildschirmzeiten von Kindern deutlich erhöht, während die Zeit an der frischen Luft beschränkt wurden. Das Ergebnis zeigt eine vergleichende Literaturanalyse im Cureus Journal of Medical Science: Wenig Zeit an der frischen Luft und viel Zeit vor dem Bildschirm während der Pandemiejahre hatten einen deutlichen Einfluss auf die Myopie-Verläufe der untersuchten Kinder.
Insbesondere der Einfluss von natürlichem versus künstlichem Licht dürfte eine Rolle spielen: Zwar sind die genauen Einflüsse von Tageslicht auf die Kurzsichtigkeit noch nicht gut erforscht, eine Studie im Fachblatt Sage Journals legt aber einen Zusammenhang zwischen der Myopie und dem Dopamin- und Vitamin-D-Spiegel nahe.
Die Myopie korreliert – auch für Erwachsene – sehr konkret mit der Zeit, die man vor Bildschirmen oder Büchern verbringt. Ein Paper der Universitäts-Augenklinik Tübingen zeigt das Ergebnis: Kurzsichtigkeit korreliert mit der Ausbildungsdauer (und somit dem Bildungsniveau). Darin heißt es: «Man wird im Mittel pro Jahr Ausbildung 0.27 Dioptrien kurzsichtiger – in 3 Jahren also fast eine Dioptrie.»
Kurzsichtigkeit behandeln und vorbeugen
Lange Zeit wurde die Kurzsichtigkeit anhand der Dioptrien-Zahl definiert. Das weiß auch Optometrist Fankhauser und erklärt: «Maßgeblich ist aber die Baulänge des Auges. Ziel der Therapie sollte daher sein, dass sich das Auge nicht weiter verlängert.» Die falsche Therapie hingegen kann dazu führen, dass das Wachstum des Augapfels sogar angeregt wird, sagt Fankhauser. In der Forschung wurde dieser Effekt bei Unterkorrektur mit Einstärken-Gläsern beobachtet.
Modernes Myopie-Management hat also die axiale Länge des Augapfels im Blick, die sich mit speziellen Geräten messen lässt – und auch regelmäßig gemessen werden sollte. Die Achsenlängenbiometrie gehöre «zur längerfristigen Erfolgskontrolle» dazu, schreibt Dr. Michael Bärtschi, Inhaber von Eyeness, in diesem Überblicks-Paper.
Da die Myopie erstmals im Grundschulalter auftritt, sind sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler einig: Die Myopie-Progression bereits im Kinderalter zu verlangsamen, sollte oberstes gesundheitspolitisches Ziel sein. Das Wachstum des Augapfels ist mit etwa 15 bis 17 Jahren abgeschlossen – demnach gelten die im Folgenden aufgeführten Maßnahmen für Kinder und junge Erwachsene.
Wichtig zu wissen: Es gibt keinen Goldstandard in der Behandlung von Myopie. «Schön wärs, wenn es so einfach wäre», sagt Experte Fankhauser. «Es kommt auf die Wünsche des Kindes und der Eltern an. Manche sind offen für Kontaktlinsen, andere wollen lieber Brillen tragen, andere nehmen die Medikamente, also die Atropin-Tropfen. Letztlich muss man gegen das Wachstum des Auges etwas unternehmen. Schlecht ist es, gar nichts zu machen.»
1. Tageslicht als Therapie gegen Kurzsichtigkeit
Studien zeigen: Täglich Zeit im Freien zu verbringen, ist entscheidend, um Kurzsichtigkeit zu verhindern bzw. das Voranschreiten zu verlangsamen. Eine Studie mit 952 chinesischen Schülerinnen und Schülern kommt zu dem Schluss: 40-minütiges Bewegen im Freien während der Schule konnte die Myopie-Progression nicht nur akut, sondern über die nächsten drei Jahre eindämmen.
Bei Kindern im Alter zwischen 5,5 und 8,5 Jahren ist der positive Effekt des Tageslichts auf das Längenwachstum des Augapfels offenbar größer als bei jüngeren Kindern.
Wie eine Studie aus Taiwan zeigte, schützt es Kinder vor Myopie, wenn sie pro Woche 11 Stunden draußen spielen. So lautet dann auch die gängige Empfehlung heute: Kinder sollten sich jeden Tag anderthalb bis zwei Stunden im Freien aufhalten.
Während viel Zeit im Freien günstig sind, sind Naharbeit und kurze Lesedistanz ungünstig in Hinblick auf eine Myopie-Eindämmung. Es fehlen zwar «zuverlässige Daten zur Bildschirmzeit oder verwendeter Abstände für große Kohorten», heißt es in den Empfehlungen des Berufsverbands der Augenärzte Deutschlands von Juni 2022, dennoch könnte besonders eine bereits bestehende Kurzsichtigkeit durch die beiden Faktoren vorangetrieben werden. Daher gilt die Empfehlung: «Lesezeiten von über 30 Minuten bei weniger als 30 cm Leseabstand sollten durch 10 Minuten Blick in die Ferne unterbrochen werden.»
Um die Augen vermehrt in die Fernsicht zu bekommen und weg vom Nah-Fokus, ist alternativ auch die 20-20-20-Regel ratsam: Sich alle 20 Minuten für 20 Sekunden auf etwas fokussieren, dass 20 Fuß (ca. 6 Meter) entfernt ist. Auf jeden Fall sollte beim Lesen oder bei der Bildschirmarbeit mindestens eine Ellenlänge zwischen Augen und Leseobjekt liegen.
2. Atropin-Augentropfen bei Myopie
Augentropfen können einen ähnlichen Effekt auf den Verlauf der kindlichen Kurzsichtigkeit haben. Atropin ist eigentlich ein Nervengift, das aus der Tollkirsche gewonnen wird. In sehr leichten Dosen wird der Wirkstoff vielseitig in der Medizin eingesetzt – etwa um die Pupillen zu weiten oder eben um Kurzsichtigkeit zu behandeln. Schon 1874 schlug der Breslauer Augenarzt Hermann Cohn die Substanz zur Behandlung bei Kurzsichtigkeit vor. Doch bis heute ist Atropin für Betroffene eine Off-Label-Therapie, d. h. die Krankenkassen ersetzen die Kosten nicht, da das Medikament bei der schweizerischen Arzneimittel-Behörde noch nicht als Myopie-Therapie zugelassen ist.
In einer Untersuchung der Deutschen Opthalmologischen Gesellschaft wirken Atropin-Augentropfen sogar noch besser bei Kurzsichtigkeit als andere Maßnahmen wie Kontaktlinsen oder reduzierte Bildschirmzeiten.
Allerdings gibt es Nebenwirkungen wie Blendungsempfindlichkeit und Lähmung der Akkommodation (Nahsicht) – und auch Rebound-Effekte wurden beobachtet: dass also nach dem Absetzen der Tropfen die Myopie umso schneller voranschritt. Hinzu kommt: Die meisten Studien zu Wirkung und Nebenwirkungen wurden im asiatischen Raum durchgeführt.
Eine Studie in Tokyo zeigte: eine Atropin-Konzentration von 0,05 Prozent (wie sie für asiatische Kinder empfohlen wird) ist bei kaukasischen Kindern als klinisch kritisch einzustufen. Eine laufende Studie aus Deutschland untersucht zurzeit die Wirkung niedrigdosierten Atropins. Als Standard gilt hier aktuell eine Konzentration von 0,025 bis 0,01 Prozent. Ergebnisse der Studie stehen noch aus.
3. Myopie-Management mit Kontaktlinsen
Auch spezielle weiche Kontaktlinsen, entweder Defokus- oder Multifokal-Linsen, können sich positiv auf die Kurzsichtigkeit auswirken. Sie schärfen einerseits das Bild, ermöglichen gutes Sehen, und verlangsamen gleichzeitig das Längenwachstum des Augapfels.
«Defokus- und Multifokal-Linsen machen im Grunde dasselbe», sagt Kontaktlinsenspezialist Fankhauser. «Sie stellen das Zentrum der Netzhaut scharf und kümmern sich auch um die Peripherie, sodass es dort nicht zu einer Überkorrektur kommt.» Besonders wirksam sind Forschenden der Ohio State University zufolge die weichen Multifokal-Kontaktlinsen.
Neben Tageslinsen gibt es laut Fankhauser für kurzsichtige Menschen Ortho-K-Nachtlinsen: «Diese Nachtlinsen setzt man vor dem Schlafengehen ein und sieht dann tagsüber auch ohne Kontaktlinsen gut.» Sie verformen die Hornhaut des Auges so, dass die Kurzsichtigkeit tagsüber ausgeglichen wird. Dieser Effekt ist aber nur bei regelmäßigem Tragen der Linsen spürbar und sie helfen in der Regel nur bei einer Kurzsichtigkeit bis zu -6 Dioptrien.
4. D.I.M.S.-Brillengläser für myope Kinder
Um Kurzsichtigkeit zu behandeln, verwendet man bis heute herkömmliche Einstärkengläser. Das Problem: «Einstärkengläser korrigieren das Netzhautzentrum und machen damit ein scharfes Bild. Aber sie sorgen nicht dafür, das Längenwachstum des Auges zu stoppen» sagt Fankhauser. Im schlimmsten Fall, bei Unterkorrektion, können herkömmliche Brillengläser das Augenwachstum sogar anregen – und die Dioptrien-Zahl nimmt stetig zu.
Recht neu auf dem europäischen Markt sind hingegen Defokus-Brillengläser mit der sogenannten D.I.M.S.-Technologie. D.I.M.S steht für Defocus Incorporated Multiple Segments. Das Brillenglas ist ein spezielles Einstärkenglas, das auf seiner Vorderfläche hunderte kleine Segmente enthält. Diese sind für das Gegenüber quasi nicht sichtbar. Für die kurzsichtige Person aber erzeugen die Gläser eine Schärfenebene im Zentrum genau auf der Netzhaut, während in der äußeren Peripherie die Schärfenebene vor der Netzhaut liegt – es wird also bewusst eine Unschärfe erzeugt. Somit wird ein sogenannter «myopischer Defokus» abgebildet, der den Augapfel nicht zum Wachsen anregt.
Es gibt erste Studien zu den D.I.M.S-Gläsern. Noch fehlen aber Langzeitstudien auch aus dem europäischen Raum, um die Wirksamkeit im Vergleich zu Kontaktlinsen und Medikamenten zu belegen.
Wird bei einem Kind eine Kurzsichtigkeit festgestellt, suchen Eltern und Betroffene idealerweise Fachleute auf, die sich auf das sogenannte Myopie-Management verstehen. Optometrist Fankhauser verfährt bei seinen Kundinnen und Kunden so: «Nach der Diagnose «Myopie» besprechen wir genau die Wünsche von Eltern und Kind, klären über die Möglichkeiten auf und starten dann die Therapie. In halbjährigen Verlaufskontrollen sehen wir, ob das Wachstum reduziert werden konnte. Falls nicht, passen wir entsprechend an und wechseln die Therapieform oder kombinieren die Maßnahmen, zum Beispiel Tageslinsen mit Atropin-Tropfen oder Atropin und Brille mit D.I.M.S-Gläsern. Dazu fehlen aber aktuell noch Studien, die den Effekt der Kombinationstherapie bestätigen.»
Aus heutiger Studienlage lässt sich daher auch nicht abschließend sagen, welche Maßnahme und Kombination die beste ist. «Das Wichtigste für Kinder mit Myopie ist, eine gewisse Zeit am Tag draußen zu verbringen.» Mit viel Fernsicht.
Titelfoto: shutterstockIch liebe blumige Formulierungen und sinnbildliche Sprache. Kluge Metaphern sind mein Kryptonit, auch wenn es manchmal besser ist, einfach auf den Punkt zu kommen. Alle meine Texte werden von meinen Katzen redigiert: Das ist keine Metapher, sondern ich glaube «Vermenschlichung des Haustiers». Abseits des Schreibtisches gehe ich gerne wandern, musiziere am Lagerfeuer oder schleppe meinen müden Körper zum Sport oder manchmal auch auf eine Party.