

Hilfe, Kinder mit Zahnspangen so weit das Auge reicht
Gefühlt jedes Kind trägt heute irgendwann eine Zahnspange. Weshalb ist das so und wie können sich Eltern gegen horrend hohe Spangenrechnungen absichern? Ein Gespräch mit einem Kieferorthopäden und einem Versicherungsexperten schafft Klärung.
Erinnerst du dich auch noch an deine Zahnspange – wenn du denn eine getragen hast? Ich durfte so eine Spange mit Plastikplatte tragen, die ich jede Nacht unter den Gaumen schob. Alle paar Wochen musste ich die Spange mit einem kleinen Drahtstift justieren, sodass der Druck auf die Zähne immer gleich gross blieb. Allzu viele Erinnerungen habe ich nicht mehr an die Spange. Nur diese, dass sich in einem kleinen Hohlraum immer Essensreste gesammelt hatten, die ich dann mit der Zungenspitze wieder herausspedieren konnte.
Ah, und noch eine Erinnerung ist geblieben. Nämlich die, dass längst nicht alle meiner Schulkameradinnen und -kameraden in den Genuss einer Zahnspange kamen. Heute, 40 Jahre später, scheint das anders. Als meine 10- und 12-jährigen Kinder neulich das Aufgebot von der Kieferorthopädin erhielten, war ich nicht sonderlich überrascht. Denn seit wir Kinder haben, ist die Frage nicht, ob sie irgendwann eine Zahnspange brauchen werden, sondern wann dieser Tag kommen wird.

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Der erste Befund der Kieferorthopädin: Der Sohnemann hat einen «leichten Tiefbiss», die Tochter «tendenziell einen Platzmangel». Als Laie kann ich mir zwar nur bedingt etwas darunter vorstellen, doch ich ahne bereits jetzt: Auch unsere Kinder werden bald eine Zahnspange tragen und damit in bester Gesellschaft sein.
Früher mussten Eltern oft alles selbst berappen
Täuscht der Eindruck oder ist es tatsächlich so, dass es einfacher ist, ein Kind zu finden, das keine Pommes mag, als ein Kind ohne Zahnspange? Ich frage einen, der es wissen muss. Claudius Wiedmer ist Fachzahnarzt für Kieferorthopädie und Vorstandsmitglied der Schweizerischen Gesellschaft für Kieferorthopädie. «Eigentlich täuscht dieser Eindruck», betont er. Rund 50 bis 60 Prozent der Kinder und Jugendlichen in der Schweiz würden einmal in ihrem Leben eine Zahnspange tragen. «Aber ja, es sind deutlich mehr als noch vor ein paar Jahrzehnten.»
Als Hauptgrund sieht Wiedmer das Aufkommen von Zusatzversicherungen. «Früher mussten Eltern oft alles selbst bezahlen. Da hat man die Zahnspange im Zweifelsfall eher mal sein lassen.» Dank Zusatzversicherungen würden sich Eltern heute eher einmal dafür entscheiden, um sich von ihren Kindern später nicht anhören zu müssen, «wieso habe ich seinerzeit keine Spange bekommen?»
Experte Claudius Wiedmer ortet aber noch einen zweiten, sehr interessanten Grund für die Zunahme von Zahnspangen. «Bei uns Europäern ist der Unterkiefer eher zu weit hinten; bei Menschen aus Afrika oder Asien eher zu weit vorne.» Gerade bei Kindern mit einem europäischen und einem asiatischen Elternteil könne das zu einem regelrechten Platzproblem im Mund führen, da das Verhältnis von Kiefergrösse und Zahnbreiten häufig nicht mehr passe. «Aus zahnmedizinischer Sicht kann man sagen, dass ein genetischer Mix manchmal nicht gerade eine Hilfe ist», sagt Wiedmer und lacht.

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Aborigines haben sogar vier Paar Weisheitszähne
Und inwiefern beeinflusst unsere Nahrung unsere Gebissstellung? «Das ist natürlich ein Prozess, der über Jahrtausende dauert.» Fakt sei, dass die Zähne des Menschen auf harte Nahrung ausgelegt seien, was wiederum zu einer Abnützung der Zähne und zu weniger Zahnvolumen führe. «Die Natur hat es eigentlich so eingerichtet, dass sich die entstehenden Lücken wieder schliessen, indem die Zähne nach vorne wandern», erklärt Wiedmer. «Durch die zunehmend weiche Nahrung werden die Zähne weniger abgenutzt. Es gibt keine Zwischenräume mehr, und trotzdem schieben sich die Zähne nach vorne.»
Dass die Menschen in Europa eigentlich immer weniger Zähne brauchen, zeige sich auch daran, dass mittlerweile bei rund 30 Prozent von ihnen mindestens ein Weisheitszahn fehle. «Die Natur merkt quasi, dass wir nicht mehr so viele Zähne brauchen. Umgekehrt haben die Aborigines in Australien hinter dem Weisheitszahn sogar nochmals einen Zahn», so Wiedmer.
Letztlich gehe es bei der Frage, ob man einem Kind eine Spange verordnen soll oder nicht, nicht um Leben und Tod. «Nur bei etwa 20 bis 30 Prozent drängt sich eine Zahnspange aus medizinischen Gründen auf», führt Wiedmer aus. Mit anderen Worten: Bei den restlichen zirka 30 Prozent könnte man es auch sein lassen respektive das Motiv sei nicht selten ästhetischer Natur. «Früher hat man sich zweimal täglich – morgens und abends – im Spiegel gesehen; heute erleben wir die Generation Selfie. Ein schönes Gebiss wird immer wichtiger.»
Kieferorthopäde: «Auch in unserem Beruf gibt es schwarze Schafe»
Ab welchem Alter empfiehlt der Experte, eine Kieferorthopädin aufzusuchen, um zu prüfen, ob das Kind eine Spange tragen muss? «Das ist natürlich individuell. Aber generell kann man sagen, so ab dem neunten, zehnten Altersjahr.» Bei rund 60 Prozent der Kinder sei der Unterkiefer zu weit hinten. «In solchen Fällen kommen zuerst Nacht- oder Kunststoffspangen zum Einsatz.» Die fixe Zahnspange, der sogenannte «Gartenhag», werde meist erst dann eingesetzt, wenn alle bleibenden Zähne durchgebrochen seien und die Gebissstellung mehrheitlich korrekt sei. «Und es nur noch darum geht, eine gerade Zahnstellung hinzukriegen», so Wiedmer.

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Um nochmals zur Ausgangsthese zurückzukommen: Also sind es doch nicht die bösen Zahnärzte oder Kieferorthopäden, die aus lauter Geldgier willkürlich Zahnspangen verordnen? Claudius Wiedmer: «Nebst den Fällen, in denen sich eine Spange aus medizinischen Gründen aufdrängt, kommt der Wunsch oft von den Eltern selbst.» Fakt sei auch, dass sich die Zahl der Kieferorthopädinnen und Kieferorthopäden in der Schweiz seit gut 20 Jahren nahezu verdoppelt habe. Und je grösser die Konkurrenz wird, desto höher sei das Risiko von missbräuchlichen Verordnungen.
Wiedmer empfiehlt, wenn immer möglich, eine Fachzahnärztin für Kieferorthopädie zu konsultieren. «Zahnärzte verfügen in der Regel nicht über das vertiefte Wissen wie ein Spezialist, der an das Grundstudium nochmals drei bis vier Jahre an der Universität angehängt hat.»
Gut versichert, bleibt man auf fast keinen Kosten sitzen
Doch wie kann man sich gegen teure Zahnarzt- und Spangenkosten versichern? Unsere Familie ist bei der Concordia versichert, also frage ich Pascal Fries, bei der Concordia Bereichsleiter Leistungen Zahn und IV. «Für Zahnkosten bieten wir grundsätzlich zwei Versicherungslösungen an.» Einerseits eine allgemeine Zusatzversicherung, die nebst Zahnarztkosten auch noch weitere Fälle abdeckt. «Je nach Modell übernimmt diese Versicherung 50 oder 75 Prozent der Kosten und zwar unbegrenzt», so Fries. Andererseits gibt es bei der Concordia noch eine reine Zahnpflege-Zusatzversicherung. «Je nach Modell übernimmt diese auch noch 50 bis 75 Prozent der Kosten, wenn diese nicht bereits durch die allgemeine Zusatzversicherung abgedeckt sind; jedoch nur maximal 2000 Franken pro Kalenderjahr.»
Pascal Fries macht ein Beispiel: «Gehen wir von einer Spangenrechnung von 10 000 Franken aus. Deckt die allgemeine Zusatzversicherung 75 Prozent ab, übernehmen wir 7500 Franken. Wenn nun gleichzeitig auch noch eine Zahnpflege-Zusatzversicherung besteht, die 50 Prozent vom Gesamtbetrag übernimmt, jedoch maximal 2000 Franken, dann würde Concordia in diesem Beispiel von den 10 000 Franken insgesamt 9500 Franken übernehmen.»

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Versicherungsexperte: «Ästhetische Behandlungen übernehmen wir nicht»
Doch bis wann empfiehlt sich der Abschluss dieser Zusatzversicherungen? «Bei der allgemeinen Zusatzversicherung verhält es sich immer so, dass man sie abschliessen muss, ehe man von einem möglichen Problem Bescheid weiss», so Fries. Mit anderen Worten: Ein Abschluss der Zusatzversicherung müsse erfolgen, bevor ein entsprechender Eintrag im Zahnarztbüchlein erfolgt sei. «In die Zahnpflegeversicherung werden Kinder bis zum Erreichen des fünften Lebensjahres ganz ohne Gesundheitsprüfung aufgenommen.» Ab dem 6. Lebensjahr könne man weiterhin in diese Versicherung aufgenommen werden, wenn sich nicht bereits konkrete Probleme abzeichnen würden.
Übernimmt die Krankenkasse eigentlich nur Kosten für medizinische Eingriffe oder kommt sie auch für Korrekturen und Eingriffe auf, die vor allem ästhetischen Zwecken dienen? In vielen Fällen wäre es schwierig, hier trennscharf zu unterscheiden, meint Pascal Fries. «In aller Regel vertrauen wir auf das Urteil der Zahnärztinnen und Zahnärzte, wenn sie eine Spange empfehlen.» Für rein ästhetische Behandlungen, wie zum Beispiel für das Bleichen der Zähne oder wenn sich jemand einen Diamanten auf einen Zahn anbringen wolle, komme die Versicherung hingegen nicht auf.
«Letztlich müssen die Eltern – wie bei allen Versicherungen – die Rechnung respektive Abwägung machen, welches finanzielle Risiko sie eingehen können und wollen», führt Fries aus. Fakt sei, dass gerade die Rechnung für eine Zahnspange bei fehlender Versicherung das Familienbudget doch arg belasten könne.
Notfalls zwingen wir unser Kinder, eine Zahnspange zu tragen
Genau aus diesem Grund haben wir – weil auch gut beraten – bei unseren Kindern früh genug die entsprechenden Versicherungen abgeschlossen. Selbst wenn sie gar keine Zahnspangen brauchen, würden wir auf solche pochen. Denn wir wollen uns gar nicht vorstellen, wir hätten über all die Jahre Versicherungsprämien für nichts und nochmals nichts bezahlt. Und überhaupt: Wir wollen nicht schuld daran sein, dass unseren Kindern dereinst der Weg zu erfolgreichen Influencern versperrt ist, nur weil sie keine Beisser wie der Ex-Nati-Goalie Yann Sommer haben.
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Zweifachpapi, nein drittes Kind in der Familie, Pilzsammler und Fischer, Hardcore-Public-Viewer und Halb-Däne. Was mich interessiert: Das Leben - und zwar das reale, nicht das "Heile-Welt"-Hochglanz-Leben.