Wenn dein Kind nicht nur das Spiel, sondern komplett die Fassung verliert
Jede Familie kann ein Lied davon singen: Ein eigentlich harmonisch angedachter Spielnachmittag endet in Wutausbruch und schlechter Stimmung, weil der Sohnemann oder die Tochter verloren hat. Die Erziehungsberaterin Maya Risch verrät im Gespräch, weshalb verlieren gelernt sein will und wann es ok ist, seine Kinder extra gewinnen zu lassen.
Endlich hat es wieder einmal geklappt: Die ganze Familie hat sich um den grossen Esstisch im Wohnzimmer versammelt. Auf dem Tisch stehen Gesellschaftsspiel, Snacks und Getränke bereit. Alles ist angerichtet für einen gemütlichen Spielenachmittag im Kreis seiner Liebsten. Und dann das: Nach nicht einmal einer halben Stunde löst sich die Familienidylle jäh in Luft auf. Wutentbrannt wischt der Sohn seine Spielfiguren vom Tisch und rennt schreiend in sein Zimmer. Das laute Türknallen setzt dann den akustischen Schlusspunkt unter diesen Sonntagnachmittag, der so harmonisch angedacht war.
Dir kommt diese Schilderung bekannt vor? Kein Wunder: Wir alle können ein Lied von Spielrunden singen, die in Streit und schlechter Stimmung geendet haben, weil einer in der Runde – schlimmstenfalls du selber – partout nicht verlieren konnte. Vor allem, wenn Kinder wortwörtlich mit von der Partie sind, kann es schnell hitzig werden. Der Grund: Kinder müssen in der Regel erst verlieren lernen. Maya Risch, Erziehungsberaterin und zweifache Mutter zweier Söhne im Teenageralter, verrät im Interview, weshalb verlieren gelernt sein will, ob es in Ordnung ist, seine Kinder extra verlieren zu lassen und ob sie sich selber als gute Verliererin bezeichnen würde.
Maya Risch, Sie selber haben zwei Söhne. Können diese beide gleich gut verlieren?
Maya Risch: Nein (lacht). Während es dem Jüngeren leichter fiel, tat sich der Ältere mit Verlieren schwer. Ich verwende bewusst die Vergangenheitsform, denn das war so, als sie noch Kinder waren. Inzwischen hat auch mein Älterer – vor allem dank Mannschaftssport – verlieren gelernt.
Wieso können die einen Kinder besser verlieren als andere?
Ich denke, es verhält sich beim Verlieren wie mit anderen Charaktereigenschaften. Sprich, jeder bringt andere Persönlichkeitseigenschaften mit. Ich erlebe das auch bei meiner Arbeit als Kindergartenlehrperson. Es gibt auf der einen Seite sehr kompetitive Kinder, auf der anderen Seite Kinder, denen gewinnen schlicht nicht so wichtig ist.
Was zur Frage führt, bis zu welchem Grad es sich um gesunden Ehrgeiz handelt und ab wann sich diese kompetitive Ausprägung negativ auswirkt?
Richtig, es gibt einen gesunden Ehrgeiz, der uns antreibt, erfolgreich zu sein und Ziele zu erreichen. Ungesund wird es dann, wenn das Gewinnenwollen zum Lebensinhalt wird. Wenn also das ganze Selbstwertgefühl davon abhängt, immer der Sieger sein zu müssen.
Wovon raten Sie Eltern dringend ab, wenn ein Kind während eines Spiels austickt und wütend wird?
Generell habe ich festgestellt, dass ich als Kindergartenlehrperson viel besser mit wütenden Kindern umgehen kann, als dies bei meinen eigenen Kindern der Fall war. Das liegt daran, dass uns Emotionen in nahen Beziehungen schneller stark bewegen und wir Eltern an die eigenen Kinder mehr Erwartungen und Vorstellungen haben, wie sie sich zu verhalten haben. Wird ein Kind während eines Spiels wütend, sollte man es natürlich auf keinen Fall auslachen, anschreien, abwerten oder geschweige denn bestrafen.
Also eher trösten?
Kommt darauf an, was sie darunter verstehen. Sätze wie «hey, das ist doch nur ein Spiel» machen die Sache eher noch schlimmer, weil sich das Kind nicht ernst genommen fühlt. Denn ist ein Kind erst mal wütend, erreichen wir es mit rationalen Argumenten nicht mehr. Es ist hilfreicher, dem Kind Worte zu geben, um seine Gefühle zu benennen.
Was wäre denn der richtige Ansatz?
Auch ich habe oft nicht optimal reagiert und würde heute das eine oder andere anders angehen. Das Hauptproblem ist die Erwartungshaltung – nämlich eine schöne Zeit mit der Familie zu haben. Wenn dieses Zusammensein dann wieder im Streit endet, ist die Enttäuschung gross. Wenn wir aber damit rechnen, dass Kinder auch Frustration zeigen könnten und dass das dazugehört, sind wir in einer besseren Ausgangslage.
Aber Wutausbruch bleibt auch dann Wutausbruch. Wie verhalte ich mich richtig als Eltern?
Erst einmal sollte man versuchen, als Eltern ruhig zu bleiben. Hier ist unsere eigene Selbstregulation gefragt. Ruhig bleiben gelingt uns dann einfacher, wenn wir uns bewusst sind, dass sich unser Kind noch nicht gut regulieren kann und wir in einem gewissen Sinne auch eine Blitzableiterfunktion haben. Grundsätzlich sollten wir unseren Kindern vermitteln, dass es ok ist, zu verlieren und dass sie deswegen nicht weniger wert sind.
Und wie können wir das unseren Kindern konkret vermitteln?
Da gibt es sicher viele Möglichkeiten. Ein Weg könnte sein, in einem ruhigen Moment das Gewinnen und das verlieren zu thematisieren und unsere Haltung dazu klar zu machen. Nämlich, dass beides zum Leben gehört und es nichts mit uns als Person zu tun. Zum Teil ist es schlicht einfach Glück oder Pech, wer verliert.
Ich selber bin ein miserabler Verlierer. Wie wichtig sind Eltern als Vorbilder?
Es ist wie bei allem: Besonders kleine Kinder lernen durch Nachahmung, indem sie von ihren Eltern ganz viel abschauen. Dasselbe gilt fürs Spielen. Wenn wir verlieren und dabei trotzdem cool bleiben, kann das auf unsere Kinder nachhaltig Eindruck machen und sie erhalten ein Modell dafür, wie das gehen könnte.
Ist es ok, seine Kinder extra gewinnen zu lassen?
Das hängt von verschiedenen Faktoren wie der Art des Spiels, dem Alter oder der Situation ab. Nehmen wir etwa Fussball: Erwachsene sind Kindern in allen Belangen überlegen. Wenn wir Kinder dabei nicht auch einmal gewinnen lassen, laufen wir Gefahr, dass sie die Lust am Spiel verlieren. Bei Spielen hingegen, bei denen der Faktor Zufall einen grossen Einfluss auf Sieg oder Niederlage hat, finde ich es nicht sinnvoll, seine Kinder extra gewinnen zu lassen. Auf keinen Fall darf das Motiv zum «Nachhelfen» die Konfliktvermeidung sein. Denn verlieren soll und muss gelernt sein.
Wieso eigentlich?
Anlässlich dieses Interviews habe ich genau dieselbe Frage meinem 13-jährigen Sohn gestellt. Er hat geantwortet, dass man keine Freunde mehr haben wird, wenn man nicht gelernt hat, zu verlieren. Damit hat er recht. Verlieren zu können, bedeutet, über eine hohe Frustrationstoleranz und über eine gute Selbstkontrolle zu verfügen. Eigenschaften, auf die man in seinem Leben immer wieder angewiesen ist. Letztlich geht es darum, sich von Niederlagen und Rückschlägen nicht entmutigen zu lassen und weiter zu machen. Auch fällt es uns grundsätzlich leichter, uns auf Neues einzulassen, wenn wir uns nicht vor dem Scheitern fürchten.
Sie sind seit 20 Jahren als Kindergartenlehrerin tätig. Können Kinder heute besser oder schlechter verlieren als früher?
Diesbezüglich eine Aussage zu machen, ist schwierig. Ich kann mir aber gut vorstellen, dass sich Kinder und Jugendliche heutzutage schwerertun mit Verlieren.
Weshalb?
Die Digitalisierung führt dazu, dass der Mensch bequemer wird. Er ist sich gewohnt, dass vieles auf Anhieb – quasi per Knopfdruck – funktioniert. Dadurch kann sich die Frusttoleranz verschlechtern. Auch halte ich es für möglich, dass viele auf Belohnungssystemen aufbauende Computerspiele den Ehrgeiz von Jugendlichen unverhältnismässig ankurbeln können. Aber das ist mehr eine persönliche Vermutung.
Apropos persönlich: Sind sie selber eine gute Verliererin?
Hm, kommt ganz drauf an. Es gibt Spiele, wo ich tatsächlich mehr Mühe habe. Vor allem bei Spielen, wo man sich bekämpfen oder hartnäckig verhandeln muss – wie etwa beim Spiel «Siedler». Viel lieber spiele ich Spiele, wo Kooperation und ein Miteinander gefragt sind. So etwa beim Spiel «Die Crew», bei dem man gemeinsam eine Mission erfüllen muss, oder beim Kartenspiel «Hanabi», bei dem man zusammenspannen muss. Denn darum geht es beim Spielen: Zusammen eine gute Zeit zu haben und die Beziehung zu pflegen.
Du erkennst Dich oder deine Kinder in den oben genannten Situationen selber? Kein Problem: Es gibt sowohl für Kinder wie auch für Erwachsene spannende und vor allem lehrreiche Bücher, wie man ein besserer Verlierer, eine bessere Verliererin wird. Vielleicht ist es höchste Zeit, dass auch ich mich eingehend mit dieser Materie auseinandersetze.
Maya Risch arbeitet als Familienberaterin, ist Familylab Seminarleiterin und Waldkindergartenlehrperson. Sie lebt mit ihren zwei Söhnen und ihrem Mann in Zürich-Oerlikon.
Zweifachpapi, nein drittes Kind in der Familie, Pilzsammler und Fischer, Hardcore-Public-Viewer und Halb-Däne. Was mich interessiert: Das Leben - und zwar das reale, nicht das "Heile-Welt"-Hochglanz-Leben.