Warum Pilze das Zeug zum Fleischersatz haben – und nebenbei die Welt retten können
Sie halten unsere Welt und alles Leben auf ihr zusammen: Pilze. Das Faszinosum der geheimnisvollen Organismen ist gross. In der Pilzfarm «Hut und Stiel» in Wien wachsen sie auf altem Kaffeesatz. Wie man von dem Abfallprodukt zum erntereifen Pilz kommt und welche Rolle dieser in der Zukunft unserer Ernährung spielen wird? Ein Blick hinter die Kulissen.
Bizarr und geheimnisvoll: Der grösste Organismus des Planeten pulsiert unter unseren Schuhsolen. Das Pilzmyzel übernimmt Funktionen in unseren Ökosystemen mit biblischem Ausmass: Mehrere Kilometer weit fräst es sich durch den Erdboden und macht somit 70 Prozent des biologischen Kohlenstoffs darin aus. Das wissen wir spätestens seit der Netflix-Doku «Fantastic Fungi», die uns einen Einblick in die faszinierende Welt des Pilzmyzels und seines gigantischen unterirdischen Netzwerks erlaubt. Eines wird klar: Es gibt weit mehr über das Pilzmyzel zu wissen, als wir bisher ahnten.
Was kein Wunder ist, schliesslich wird das geheimnisvolle Myzel über der Erde nur durch seinen Fruchtkörper sichtbar, den Pilz. Dieser lässt sich auf Baumstämmen nieder, spriesst aus Waldböden – oder wächst im Labor. In der Pilzzucht «Hut und Stiel» am Wiener Stadtrand sogar auf altem Kaffeesatz. Warum ausgerechnet Kaffee? «Kaffee ist in Wien mit seiner Kaffeehauskultur unbegrenzt verfügbar», sagt Thomas Fahrnberger, Mitarbeiter und Pilzexperte. Und der Abfall in Form des Suds birgt bisher ungenutztes Potenzial. Zu dieser Geschäftsidee der besonderen Art kam es, als der Agrarwissenschaftsstudent Florian Hofer bei einer Vorlesung der Universität für Bodenkultur in Wien das erste Mal davon hörte: alter Kaffeesud als Pilzsubstrat. Begeistert von der Idee macht er sich zusammen mit dem Agrarwissenschaftler Manuel Bornbaum an erste Versuche. Gemeinsam gründen sie 2015 das Start-up «Hut und Stiel».
Konkurrenz der Pilzzucht? Die industrielle Massentierhaltung
Heute, sieben Jahre später, hat das Unternehmen zahlreiche Kooperationsverträge mit Kaffeehäusern, Restaurants, Banken und Altenheimen quer durch Wien. Thomas Fahrnberger ist seit 2019 Teil des Teams. Der Quereinsteiger kommt eigentlich aus der Metallindustrie: «Ich hab’ für mich keinen Sinn mehr darin gefunden, in einem Betrieb mit über tausend Mitarbeitern zu arbeiten.» Die Neuorientierung bringt ihn damals auch auf das Thema der fleischlosen Ernährung – schliesslich erregt ein Interview der «Hut und Stiel»-Gründer Hofer und Bornbaum seine Aufmerksamkeit: «Sie haben gesagt, dass es beim Pilzezüchten keine Konkurrenzbetriebe gibt. Dass nur die industrielle Massentierhaltung die Konkurrenz ist.» Fleisch ein konkurrierendes Lebensmittel entgegenzusetzen, ein Ersatzprodukt, das viel nachhaltiger zu produzieren ist und so Nutztiere und Umwelt schont? Inspiriert von diesem Potenzial kündigt der Niederösterreicher seinen Job und zieht nach Wien, um sich der Vision der beiden Gründer anzuschliessen.
Während wir jetzt im gleissenden Sonnenschein mit Pilzaficionado Thomas über den Gemeinschaftshof spazieren, auf dem ausser der Pilzfarm noch 19 andere Initiativen für den Gemüseanbau sorgen, erzählt er, warum es auf der Farm derzeit nicht so wuselt wie sonst: Viele Gastronomiebetriebe haben über die Sommermonate weniger Kundschaft oder ganz geschlossen, so wird zu dieser Zeit auch bei «Hut und Stiel» weniger produziert. «Zu Spitzenzeiten stellen wir täglich 1,5 Tonnen Substrat am Tag her und ernten dreimal die Woche». Ein Kooperationspartner trinkt sogar besonders viel Kaffee: Dort werden in der Woche zwischen zehn und fünfzehn Kisten Kaffeesatz zu je 25 Kilogramm abgeholt und zu Pilzsubstrat verarbeitet – dem Nährboden, den Pilze für das Wachstum benötigen. In der Natur wachsen sie auf Baumstämmen oder Waldböden – in einer Zucht muss man erfinderisch werden und das Substrat selbst herstellen.
Danke, Kaffee: Ein Abfallprodukt mit Potenzial
Sägespäne oder Stroh eignen sich gut dafür, dem Pilz und seinem Myzel einen Alternativwohnraum anzubieten. Eigentlich sogar besser als Kaffeesud: «Beides hat eine wesentlich höhere Bioeffizienz – es kommt also zu mehr Ertrag pro Kilogramm Substrat», sagt Experte Fahrnberger. Doch Teil der Vision der Jungunternehmer ist der Kreislaufgedanke: Anders als Stroh und Späne ist Kaffeesud en masse verfügbar, da ein großer Teil der Bohne als Abfallprodukt des Kaffeekochens normalerweise schlicht weggeworfen wird. «Hut und Stiel» nutzt diese Ressource und macht den alten Kaffeesatz zum Pilzsubstrat. Durch mehrere Versuche wird rasch klar: Der Austernseitling wächst hier am besten. «Es ist ein sehr dankbarer Pilz, da kriegt man relativ schnell Resultate.» Je nach Nährboden dauert es zwischen zehn Tagen und vier Wochen, bis der Pilz erntereif ist.
Quelle: Amina Stella Steiner
Für den optimalen Feuchtigkeitsanteil von 50 Prozent wird der feuchte Kaffeesud mit Stroh vermischt. Ist das Substrat zu feucht, nistet sich sehr schnell auch Schimmelpilz ein. «Das ist ziemlich geläufig in der Pilzzucht”, weiss Fahrnberger. «Schimmelpilz-Sporen sind wesentlich resistenter und schneller als die Speisepilz-Sporen.» Das komme immer wieder vor, insbesondere in sogenannten «LowTec-Farmen», wie auch ihre eine ist. Dort wird das Substrat nicht sterilisiert, sondern lediglich pasteurisiert, wodurch sich der Schimmelpilz besser einnisten kann. Das Substrat müsse daher in einer möglichst sterilen Umgebung abgepackt und betroffene Säcke im Zweifelsfall direkt aussortiert werden.
In einem Monat vom Kaffee-Substrat zum erntereifen Pilz
Der sterile Produktionsraum ist sehr sporadisch eingerichtet, nur ein Tisch und eine Mischmaschine erwartet uns. In der Maschine werden die Substrate zu einer Masse verrührt: 60 Prozent Stroh, 40 Prozent Kaffeesatz und das Pilzmyzel. Danach wird das fertige Substrat in schwarze Plastiksäcke verschweisst und in den Inkubationsraum gebracht.
Dort, in dem fensterlosen Raum, ist es ungemütlich: Kühle 20 Grad sorgen dafür, dass das Myzel nicht abstirbt, laut rauschende Abluftrohre kontrollieren den CO2-Gehalt in der Luft. Im Inkubationsraum lagern die Säcke einen Monat lang, bis sich das Myzel ausreichend durch das Substrat gefressen hat und das Plastik seitlich eingeschnitten werden kann. Nach dieser Phase werden die Säcke in den Fruchtungsraum gebracht: Sauerstoff und Licht kommen an das Substrat und das Myzel bildet Fruchtkörper. Fachleute nennen es die Fruchtungsphase: Innerhalb einer Woche sprießen hier handgroße Austernseitlinge, bis sie erntefrisch verpackt und noch am selben Tag an Kundinnen und Kunden geliefert werden.
Quelle: Elena Seitaridis
Im Fruchtungsraum ist es noch ein weniger kühler: Wir schauen Fahrnberger über die Schulter, als er sorgfältig die Raumtemperatur und Luftfeuchtigkeit kontrolliert. Für das Wachstum müssen alle Einstellungen stimmen: 12 bis 18°C und bis zu 90 Prozent Luftfeuchtigkeit herrschen hier. In fünf Regalen zu je acht Etagen liegen die aufgeschnittenen Substrat-Säcke neben- und übereinander. Weil die Produktion aufgrund des Sommerlochs heruntergefahren worden ist, ist der Raum relativ leer: Wir können durch die Reihen gehen und den Kaffeesud mit der dicken Schicht weißer Myzel-Fäden in den Säcken erkennen. Hie und da spriessen die Fruchtkörper aus den Säcken, in zwei Tagen ist Erntezeit. Der Kaffeesatz kommt übrigens nach der Ernte auf den Kompost am Hof und kann später als Dünger verwendet werden.
Faszination Pilz: Die Zukunft unserer Ernährung?
Der Pilz fasziniert nicht zuletzt, weil er weder Tier noch Pflanze ist. Dabei teilt er sogar mehr DNA-Sequenzen mit uns Menschen als mit Pflanzen. Trotzdem avanciert der Pilz zu einer nachhaltigen Alternative für Nahrungsmittel, die als besonders ressourcenintensiv gelten. «Pilze sind ein ganz spannendes Thema mit viel Zukunft», sagt Fahrnberger. Begeistert ist er vor allem von ihrem Potenzial, Lebensmittel wie Fleisch zumindest teilweise zu ersetzen. Der Food and Agriculture Organisation der Vereinten Nationen (FAO) zufolge, ist die industrielle Massentierhaltung für 18 Prozent globaler Treibhausgasemissionen verantwortlich. Das ist mehr als der globale Verkehr zusammen emittiert. Darüber hinaus benötigt die Produktion von Fleisch und Milch 77 Prozent des globalen Agrarlandes, obwohl tierische Proteine nur 17 Prozent des Kalorienbedarfs der Menschheit abdecken.
«Pilze sind sehr nachhaltig, wenn man bedenkt, wie viel wir auf dieser kleinen Fläche ernten können und wie viel Fläche für dieselbe Menge Rindfleisch notwendig wäre. Sie wachsen schneller und brauchen so wenig Ressourcen wie kaum ein anderes Lebensmittel.» Sägespäne haben dem Experten zufolge eine biologische Effizienz von 1:1. Das heisst, ein Kilogramm Substrat ergibt ein Kilogramm erntefrischen Pilz. «Das ist unfassbar effizient und platzsparend.» Viel Ertrag auf wenig Fläche: Ein Erfolgsmodell für Urban-Farming-Projekte weltweit – und ein Zukunftsthema für die Ernährungssicherheit von Städten.
Umami und Textur: Fleischersatz aus Pilzen
Als Fleischalternative ist der Pilz, anders als etwa Soja und Seitan, weniger kontrovers und nicht nur bei Veganerinnen und Veganern beliebt. Rund die Hälfte des Ertrags bei «Hut und Stiel» wandert daher zu Abnehmerbetrieben in die Verarbeitung. Den Rest kaufen Privatabnehmer ab Hof – oder sie bekommen die Pilze von «Hut und Stiel» per E-Auto nach Hause geliefert. Thomas Farhnberger schaut auf die Uhr, er hat heute Nachmittag noch so eine Auslieferung vor sich. Vegetarische Pestos, Sugos, Schwammerl-Gulasch oder Pilz-Würstel: All das lässt sich aus den Austernseitlingen machen. Aber warum eignen sich Pilze so gut als Fleischersatz?
Quelle: Raffaela Schumer
«Das liegt einerseits an der Textur. Die ist sehr sehnig, wie die von Fleisch», sagt er. Zudem hätten Pilze einen klassischen Umami-Geschmack: würzig, pikant, herzhaft und eben auch fleischig. Der Umami-Geschmack sei auch der Grund, weshalb man Pilze in der asiatischen Küche so oft als Würze für Saucen oder Suppen verwende.
Ob über oder unter der Erde, der Pilz hat Potenzial, so viel steht fest. Wer die Doku «Fantastic Fungi» gesehen hat, weiss: Er kann sogar Plastik zersetzen oder bei der Bewältigung von Ölkrisen helfen – und eben unsere Ernährung revolutionieren. Wird der Pilz, überspitzt formuliert, die Welt retten? «In meinen Augen kann er die Welt auf jeden Fall ein Stück besser machen», sagt Fahrnberger.
Ich liebe blumige Formulierungen und sinnbildliche Sprache. Kluge Metaphern sind mein Kryptonit, auch wenn es manchmal besser ist, einfach auf den Punkt zu kommen. Alle meine Texte werden von meinen Katzen redigiert: Das ist keine Metapher, sondern ich glaube «Vermenschlichung des Haustiers». Abseits des Schreibtisches gehe ich gerne wandern, musiziere am Lagerfeuer oder schleppe meinen müden Körper zum Sport oder manchmal auch auf eine Party.