Warum ich meine Schrott-Kamera liebe und weiter benutze
10.9.2020
Erst mit den Jahren wird ein Gegenstand von der unpersönlichen Massenware zu einem Teil von dir. Das gilt auch für die schnelllebige Elektronikwelt. Meine halb kaputte Kamera ist mehr denn je im Einsatz. Sie hat einen emotionalen Wert für mich – nicht trotz, sondern wegen ihrer Zerfallserscheinungen.
«Ich heisse Vigolette alt. Ich bin ein Zwerg. Ich bin acht Zentimeter gross und aus Gummi. Hinten, so etwa im Kreuz, hatte ich einmal ein rundes Etwas aus Metall, und wenn mir jemand, ein Mensch mit seinen Riesenkräften, auf den Gummibauch drückte, pfiff es. Pfiff ich. Das Metallding ist aber längst von mir gefallen, und ich pfeife nicht mehr. Die Menschen – die Kinder der Menschen vor allem – denken, ich sei ein Spielzeug. Ein Spielzwerg. Sie haben recht, aber sie kennen nur die halbe Wahrheit.»
So beginnt Urs Widmers Roman «Ein Leben als Zwerg». Der Zwerg begleitet seinen Besitzer von der Kindheit bis ins Alter. Dieser spielt anfangs mit ihm, nimmt ihn später in der Hosentasche mit auf Reisen. Irgendwann kommt er zur Ruhe, der Zwerg steht auf dem Regal und beobachtet den Erzähler beim Tippen auf der Tastatur. Beide werden älter und gebrechlicher.
Spielzwerg und Reisebegleitung
Mein Zwerg ist die Sony RX100 III. Sie begleitet mich zwar erst seit fünf Jahren, aber für eine Kompaktkamera ist das eine lange Zeit. Bereits jetzt hat sie mehr Abnutzungserscheinungen als ich.
Wir waren zusammen auf unzähligen Wanderungen, Spaziergängen und Ausflügen, auf Korsika, in Strassburg, Dijon, Nürnberg und Lissabon, auf einer achttägigen Velotour in Deutschland, auf den Kanarischen Inseln, besoffen auf der Bowlingbahn und nüchtern in einem katalanischen Naturschutzgebiet. Egal, ob Gewitter mit Hagel oder 38 Grad im Schatten: Sie war und ist die Begleiterin, die für meine Erinnerungen zuständig ist.
Im Lauf dieses Jahres wurde die Kamera immer gebrechlicher. Das Gehäuse ist verbogen. Deswegen springt der Sucher nicht mehr heraus, sondern ich muss ihn herausziehen. Auch die Lamellen des Objektivs öffnen sich nicht mehr ganz. Ich muss nach jedem Einschalten die Kamera auf die Hand klopfen, damit sie sich lösen. Der Bildschirm hat seine Entspiegelungsschicht verloren, ich sehe bei Sonnenlicht kaum noch etwas. Und die Gummiabdeckungen, die die Anschlüsse schützen sollten, sind auch weg.
Trotzdem benutze ich die Kamera so häufig wie noch nie. Habe mir zwar schon überlegt, sie zu ersetzen. Doch wenn ich mit die schweineteure neuste Version der RX100 zulegen würde, hätte ich immer Angst, sie kaputt zu machen. Bei dieser Kamera mache ich mir keine Sorgen, denn sie ist schon kaputt.
Noch wichtiger ist aber das gute Gefühl, dem Zerfall zu trotzen.
Wir haben es immer noch drauf
Dieses Jahr habe ich mit der RX100 bereits einige gute Bilder geschossen. Und ich freue mich besonders, dass sie mir mit so einem Wrack von einer Kamera gelungen sind.
Das Handling mit all den kaputten Teilen ist zwar mühsam, aber dafür weiss ich nach all den Jahren ganz genau, wie ich das Optimum aus dem Gerät heraushole. Zum Beispiel weiss ich, dass das Objektiv im Weitwinkel knackscharf ist, im Tele hingegen nicht so. Also mache ich Landschaftsaufnahmen so oft wie möglich im Weitwinkel.
Aber das sind nur Rationalisierungen; eigentlich ist es eine rein emotionale Sache. Ich mag diese Kamera, weil sie im Lauf der Zeit zu meiner Kamera geworden ist. Anfangs war es ein Massenprodukt, jetzt ist sie einzigartig. Es gibt sie in dieser Form nur einmal.
Als ich jung war, hatte ich keine solchen Gefühle. Alter Schrott war einfach alter Schrott – weg damit. Heute finde ich den Gedanken tröstlich, dass es auch damit noch weiter geht. Manchmal sogar erstaunlich gut.
Aber klar: Das geht nicht ewig so weiter. Irgendwann ist Schluss. Vielleicht steht die Kamera dann wie Urs Widmers Zwerg im Regal. Zur Erinnerung an all die schönen Erinnerungen.
David Lee
Senior Editor
David.Lee@digitecgalaxus.chDurch Interesse an IT und Schreiben bin ich schon früh (2000) im Tech-Journalismus gelandet. Mich interessiert, wie man Technik benutzen kann, ohne selbst benutzt zu werden. Meine Freizeit ver(sch)wende ich am liebsten fürs Musikmachen, wo ich mässiges Talent mit übermässiger Begeisterung kompensiere.