Von Einhörnern und Riz Casimir: Das Leid mit den Freundschaftsbüchern
Mit Freundschaftsbüchern in Kindheitserinnerungen zu schwelgen, ist grossartig. Das Ausfüllen dagegen ein Nervenakt. Ein Rant auf die kitschig schönen Steckbriefalben, die schon ab dem Kindergarten ins Haus flattern.
Ich: «Du hast das E vergessen.»
Sie: «Hä?»
Ich: «Das E!»
Sie: «Wie?!»
Ich: «Das Eee! Schau doch, hier. Das E fehlt in deinem Namen.»
Sie: (Verwirft die Hände über dem Kopf.) «Oh nein!»
Ich: «Flick den Buchstaben einfach in die kleine Lücke.»
Sie: (Jetzt den Tränen nahe) «Mami, der geht da nicht rein. Das kann ich nicht! Auf gar keinen Fall!»
Meine sechsjährige Tochter ist am Rande eines Nervenzusammenbruchs. Ich rette das Buch, bevor sie es in die Ecke schmeissen will, und erkläre unser Mittagspausenprojekt «Freundschaftsbücher ausfüllen» frühzeitig für beendet. Oooohm! Ruhe bewahren, denke ich mir. Und schiele auf die zwei Alben, die auf der Kommode noch aufs Ausfüllen warten.
Am Abend ist das kindliche Nervenkostüm wieder intakt. Also dann: nächster Anlauf.
Die Tochter flickt das fehlende E jetzt mühelos in ihren Namen, und ich flehe innerlich, dass unser Projekt nun richtig Fahrt aufnimmt. Für die restlichen Zeilen übernehme ich den Stift, denn: Ausser ein paar Namen kann sie nicht schreiben, sie ist noch im Kindergarten. Ich lese vor, sie antwortet, ich notiere. So unsere Aufgabenteilung. In der Theorie.
In der Praxis sieht’s dann oft so aus: Ich lese vor, sie antwortet, ich hake nach, sie antwortet, ich hake nochmals nach, sie revidiert, ich notiere, sie revidiert nochmal, ich streiche und korrigiere.
Willkommen im Kinder-Facebook
«Was ist eigentlich aus Freundschaftsbüchern geworden?», fragte meine Kollegin Carolin vergangenes Jahr in einem Artikel. Die Wahrheit ist: Sie waren nie weg. Sie haben sich ausgebreitet wie Läuse in einem Klassenzimmer und sich ihre jüngsten Opfer in der Kindergartenstufe gesucht. Dort heissen sie jetzt einfach «Kindergartenfreundebuch».
Selbst schuld, man muss ja nicht alles mitmachen!, denkst du jetzt vielleicht. Bei allem Respekt: Spätestens zwei Wochen nach dem Kindergartenstart deines Nachwuchses landet das erste Album auch auf deinem Familienesstisch. Ob du willst oder nicht. Und zack! Schon rotierst du im Freundschaftsbuch-Game. Von da an wandern sie dann wöchentlich via Chindsgitasche zu euch nach Hause und schon bald spielst du auch noch auf der anderen Seite mit («Will auch haben!»).
Herzlich willkommen im Facebook für Kinder. Aus der Nummer kommst du so schnell nicht mehr heraus.
Schon wieder zum Fotoautomaten rennen
Augen zu und durch, lautet meine Devise. Zum mindestens tausendsten Mal sitze ich also neben meiner Tochter und schreibe «pink und violett» in ein Freundebuch («Was ist deine Lieblingsfarbe?»), quetsche «tanzen, singen, turnen, basteln, draussen spielen» auf die viel zu kurze Zeile («Was sind deine Hobbys?») und wünsche dem Gspänli «Einhörner und viel Gesundheit» für die Zukunft. Ich versuche, meine Tochter zu beruhigen, wenn ich mal wieder automatisch «Hörnli mit Ghacktes» statt «Riz Casimir» notiere («Was ist dein Lieblingsessen?», wird monatlich geändert) und suche fluchend den Meter, der in der Küchenschublade liegen sollte («Wie gross bist du?»).
Zum krönenden Abschluss dann immer noch die Herkulesaufgabe: das Foto! Haben wir noch ein ausgedrucktes? Wenn ja, wo? Ein Problem, dessen sich längst die Klassenfotografen angenommen haben: Sie verkaufen (für viel Geld) kleine selbstklebende Porträtbilder, die dann schon nach drei Monaten wieder alle sind. Und wir müssen schon wieder zum überteuerten Fotoautomaten rennen.
Kitschige Gefühle aus kitschigen Büchern
Spassbremse! Nörglerin! Heulsuse! Du willst mich jetzt vielleicht mit all diesen Titeln beschimpfen. Das ist okay, nehme ich auf mich. Aber versteh mich nicht falsch: Ich finde Freundschaftsbücher nicht per se scheisse.
Im Gegenteil, die Alben in ultrakitschigem Layout, die mich in Kindheitserinnerungen schwelgen lassen, sind grossartig. Ich liebe es, mich über die Schulfreundinnen und -freunde und deren Vorlieben von damals zu amüsieren. Oder laut über meine eigenen Berufswünsche («Schauspielerin», «Sängerin», «Tänzerin»), meine komplett falsch formulierten Lieblingssongs («Olltat she wont» von Ace of Base) zu lachen. Und nein, ich habe keine alte Buchleiche zu Hause liegen, weil ich als Kind die Rückgabe versäumt habe. Warum ich dann meinen eigenen Steckbrief zitieren kann? Ich habe damals uneigennützig eine Doppelseite in meinem Freundebuch für mich selbst beansprucht.
Notwendigkeit und Schönheit der ausgefüllten Alben sehe ich also durchaus. Nur: Der Weg dahin ist steinig. Furchtbar steinig.
Neue Spielregeln für alten Brauch
Abschaffen oder Verweigerung des Games ist keine Option. Aber wir sollten zumindest über die Einführung eines Mindestalters diskutieren. In weiser Voraussicht – sonst werden die Dinger in ein paar Jahren schon in der Spielgruppe verteilt.
Ich plädiere für folgende Spielregeln: Freundschaftsbücher dürfen erst in der Schulstufe die Runde machen. Dann, wenn die Kinder lesen, formulieren und schreiben können. Wenn sie in der Lage sind, beim Bildplatzhalter «Foto kommt später» in eigener Handschrift hinzukritzeln. Und höchstens noch eine elterliche Assistenz benötigen. Einzige Ausnahme: Multiple-Choice-Bücher zum Ankreuzen.
Ansonsten gilt ein striktes Freundschaftsbücher-Verbot bis zur Primarschule. Die Kindergartenklassenbilder müssen bis dahin als Erinnerung reichen. In den sechs Primaschuljahren gibt’s schliesslich noch genügend Steckbriefe zum Ausfüllen – von den gleichen Personen wie auf dem Chindsgibild notabene.
«Wo ist unser Buch stecken geblieben?»
Meine Tochter unterbricht meine Träumerei und holt mich auf den Boden der Realität zurück. «Fertig?», fragt sie, nachdem sie ihrem Gspänli stolz ein Einhorn, einen Dino und einen etwas zu klein geratenen Regenbogen ins Buch gemalt und mit ihrem Fingerabdruck unterschrieben hat. Schön wär’s, denke ich und zeige auf die Kommode. «Zwei noch.»
Sie macht grosse Augen und setzt zur Schimpftirade an. Ich folgere: Sowohl Tochter als auch Mutter haben weder Lust noch Luft, also erkläre ich das Projekt heute für offiziell beendet. Und stelle mich schon mal auf die nächste Whatsapp-Nachricht einer mitleidenden Mutter ein: «Hab den Überblick verloren. Ist Emmas Freundebuch noch bei euch?» – «Ui ja, völlig verschwitzt. Soooorry! Kommt bald, Foto dann später.»
Anna- und Elsa-Mami, Apéro-Expertin, Gruppenfitness-Enthusiastin, Möchtegern-Ballerina und Gossip-Liebhaberin. Oft Hochleistungs-Multitaskerin und Alleshaben-Wollerin, manchmal Schoggi-Chefin und Sofa-Heldin.