Kritik

Netflix’ «One Piece»-Serie ist Durchschnittsware

Kevin Hofer
1.9.2023

Kein Desaster wie «Cowboy Beebop», aber auch keine hervorragende Adaption wie «The Last of Us». Die Realverfilmung von «One Piece» ist ausserordentlich gewöhnlich, weil sie wenig wagt.

Binkusu no sake wo, todoke ni yuku yo. Beim Ruffy-Flashback geht mir der Songtext von «Binks no Sake» durch den Kopf. Ich frage mich: Wieso? Erst als ich zurückspule, merke ich, dass die Melodie im Hintergrund einer Bar-Szene läuft. In solchen Details zeigt sich, dass die Macher und Macherinnen der «One Piece»-Live-Action-Verfilmung das Original lieben.

Diese Liebe zum Detail lässt mich als «One Piece»-Fan frohlocken. Aber sie allein macht noch keine gute Serie. Denn solche Details kennen nur Nerds wie ich. Ziel einer Realverfilmung sollte es nicht nur sein, Fans zu beglücken, sondern auch neue zu gewinnen. Dazu braucht es Stringenz in der Erzählung, die auch für Uneingeweihte nachvollziehbar ist. Und im Fall von «One Piece» etwas Eigenes. Beides gelingt der Serie nur teilweise.

Spoiler-Warnung: Auch wenn ich nicht auf jedes Detail der Serie eingehe, spreche ich gewisse Punkte an, die als Spoiler gewertet werden können. Willst du nicht gespoilert werden, solltest du die Kritik also erst nach dem Schauen lesen.

Auch in der Realverfilmung sofort zu Hause

Die Setpieces von «One Piece» sind genial.
Die Setpieces von «One Piece» sind genial.
Quelle: Netflix

In meinem Artikel zu «One Piece» habe ich das exzellente World Building der Vorlage gelobt. Den Ton der durchgeknallten Welt fängt auch die Realserie sehr gut ein. Da sind einerseits die überzeichneten Charaktere wie Buggy der Clown oder Alvida. Andererseits sind die Locations und Setpieces schlicht genial. Am besten gefallen hat mir das schwimmende Restaurant Baratie. Auch hervorragend ist das riesige Anwesen von Kaya, das eine beklemmende, schon fast «Resident Evil»-eske Atmosphäre erzeugt.

Aber nicht nur die Welt an sich, sondern auch die Kameraführung ist vom Manga inspiriert. Teilweise sind die Panels der Vorlage eins-zu-eins umgesetzt. Dabei setzen die Kameraleute um Nicole Hirsch Whitaker auch auf ultraweitwinklige Aufnahmen, damit wie in den Panels alles auf einmal ins Bild passt.

Damit alles ins Bild passt, werden auch ultraweitwinklige Aufnahmen eingesetzt.
Damit alles ins Bild passt, werden auch ultraweitwinklige Aufnahmen eingesetzt.
Quelle: Netflix

Ebenfalls toll ist, wie die Steckbriefe der Piraten und der Piratin integriert werden, auf die Kopfgeld ausgesetzt ist. Jedes Mal, wenn eine solche Person eingeführt wird, erscheint deren Steckbrief auf dem Schirm und die Person interagiert damit. Das gefällt mir sogar besser als die Panels von Schöpfer Eiichirō Oda im Manga.

Als ich den ersten Trailer gesehen habe, machte ich mir etwas Sorgen darüber, wie Ruffys Teufelsfrucht inszeniert wird. Und ja: Auch im Endprodukt wirken die Kräfte der Gum-Gum-Frucht seltsam. Aber genau das macht «One Piece» aus. Es ist eine Welt, die nach eigenen Regeln spielt und ein Gummimensch sieht schräg aus. Von dem her passt es stilistisch perfekt. Leider sind Ruffys Kräfte zu wenig zu sehen. Trotz einem Budget von 18 Millionen US-Dollar pro Folge scheint die Animation von Ruffy zu teuer. Schade, denn Ruffy strebt vor allem nach Freiheit – auch beim Kämpfen. Diese Freiheit wird durch das Budget der Realverfilmung eingeschränkt.

Der Cast ist super

Iñaki Godoy ist mit seiner flapsigen Art der perfekte Ruffy. Haltung, Gangart und Mimik sind genau so, wie ich sie mir vorgestellt habe. Mackenyu Arata bringt Zorros dunkle Attitüde ebenfalls gut rüber und Taz Skylar ist mir sympathischer als der Sanji der Vorlage – wobei ich anmerken muss, dass Sanji mein unbeliebtester Strohhut-Pirat ist. Die beiden haben auch mit Abstand die stärksten Kampfszenen. Emily Rudds Nami hat den emotional stärksten Moment der ersten Staffel. Hier stiehlt sie den anderen Charakteren der Strohhüte schauspielerisch die Show.

Lysop ist der einzige Charakter, der für mich nicht ganz passt. Das liegt aber weniger an der Leistung von Jacob Gibson als am Script. Er erhält schlicht nicht die Zeit, um sich als Charakter zu entwickeln. Dasselbe gilt eigentlich auch für Sanji, aber da bin ich froh, dass er die Zeit nicht erhält, weil er mir wohl nur auf die Nerven gehen würde.

Der psychotische Buggy, gespielt von Jeff Ward, ist mein schauspielerisches Highlight.
Der psychotische Buggy, gespielt von Jeff Ward, ist mein schauspielerisches Highlight.
Quelle: Netflix

Schauspielerisches Highlight der ersten Staffel ist jedoch Jeff Ward als Buggy. Er porträtiert den psychotischen Charakter perfekt. Im Vergleich zur Vorlage ist seine Rolle in der Realserie deutlich grösser. Was ich zu Beginn als grosse Chance für die Serie gesehen habe, verkommt mit der Zeit leider zum Comic Relief.

Es geht alles etwas zu schnell

Nebst den Strohhüten spielen Vize-Marine-Admiral Garp, Koby und Helmeppo in der Realserie eine grössere Rolle als in der Vorlage. Diesen Entscheid befürworte ich einerseits. Ich mag es, dass die schnelle, actionreiche Erzählweise der Strohhut-Geschichte von den ruhigen Momenten mit den Marine-Soldaten aufgebrochen wird. Vor allem Garp und Koby sind in der Vorlage eigentlich wichtige Charaktere, die aber zu wenig Raum erhalten. Helmeppo ist jedoch das eigentliche Highlight der drei. Seine Entwicklung vom Arsch zum sympathischen Typen ist nachvollziehbar und gut gespielt von Aidan Scott.

Garp, Koby und Helmeppo erhalten in der Realserie mehr Bildschirmzeit als in der Vorlage.
Garp, Koby und Helmeppo erhalten in der Realserie mehr Bildschirmzeit als in der Vorlage.
Quelle: Netflix

Andererseits leidet durch diesen Entscheid die Entwicklung der Strohhut-Piraten. Vor allem in den ersten zwei Folgen geht alles sehr schnell. Fans der Vorlage wird das weniger stören, da sie die Charaktere bereits kennen. «One Piece»-Neulinge werden sich hingegen fragen, wie Ruffy, Zorro, Nami, Lysop und Sanji so schnell zusammenwachsen. Das ist bereits im Manga und Anime ein fraglicher Punkt, in der mit acht Folgen kurzen ersten Staffel der Realserie noch mehr. Hier hätte es mindestens zwei Folgen mehr gebraucht.

Auch gewisse Antagonisten bleiben flach. So etwa Captain Morgan. In der Vorlage ist er ein grausamer Tyrann, der selbst vor Kindsmord nicht zurückschreckt. In der Realserie ist er ein selbstverliebtes Arschloch. Und Marine. Darum ist er der Feind des Piraten Ruffy. Mehr aber auch nicht. Da er gleich zu Beginn der Serie als erster Antagonist auftaucht, ist mir das zu schwach und zu wenig nachvollziehbar – und ich kenne «One Piece». Wer die Vorlage nicht kennt, kann mit dem ersten Gegenspieler bestimmt wenig anfangen.

Mehr Mut

Die Welt von «One Piece» ist nicht nur durchgeknallt, sondern vor allem auch grausam. Alle Charaktere haben eine tragische Hintergrundgeschichte. Wenn mir das widerfahren wäre, was Nami, Sanji oder Zorro in der Kindheit erlebt haben – ich wüsste nicht, ob ich es so weggesteckt hätte wie sie.

Diese Traumata und was die Charaktere sonst noch so erleben, werden im Manga und Anime nachvollziehbarer erklärt als in der Realserie. Den Charakteren wird mehr Zeit gelassen. Die bunte, gezeichnete Welt der Vorlage schafft zudem eine gewisse Distanz zum Geschehen. Der Horror der Welt von «One Piece» kommt nicht so deutlich rüber wie es in einer Realserie möglich wäre.

An zu wenigen Stellen schöpft die Netflix-Serie dieses Potenzial aus. Ein Beispiel, wie es gehen würde, ist der Teil mit Buggy. Der Part spielt sich anders ab als in der Vorlage. In der Realserie hat der Clown-Pirat die Dorfbewohner und -bewohnerinnen quasi versklavt und zwingt sie dazu, seine Spektakel zu schauen. In bester Sitcom-Manier müssen die angeketteten Zuschauer und Zuschauerinnen auf Kommando applaudieren oder lachen. Tun sie dies nicht, werden sie bestraft. Das ist äusserst grotesk und beklemmend. Ähnliche Szenen hätte ich gerne mehr gesehen. Das ist eine verpasste Chance und hätte die Geschichte Nicht-Fans zugänglicher gemacht. Zudem hätte die Serie so mehr einen eigenen Dreh gehabt und sich von der Vorlage abgehoben.

Ruffy weist den Weg und beweist Mut. Hätten doch die Serienschöpfer nur mehr Mut gehabt, sich von der Vorlage abzusetzen.
Ruffy weist den Weg und beweist Mut. Hätten doch die Serienschöpfer nur mehr Mut gehabt, sich von der Vorlage abzusetzen.
Quelle: Netflix

«One Piece» ist okay, aber auch nicht mehr

Ist «One Piece» die beste Manga-Verfilmung aller Zeiten? Nein, aber sie zählt dennoch zu den besten. Aber was bedeutet das, eine der besten Manga-Verfilmungen zu sein? Die Messlatte liegt nämlich nicht sonderlich hoch. Die meisten Verfilmungen fallen komplett durch. Gemessen an anderen Serien ist «One Piece» okay. Die Geschichte ist nicht wirklich stringent erzählt und ihr fehlt es an einem eigenen Touch, der sie für Fans von Realserien nachvollziehbar macht. Und sie berührt mich nicht auf die gleiche Weise wie der Manga.

Als «One Piece»-Fan freue ich mich dennoch über die vielen Details und erkenne, dass viel Liebe in der Serie steckt. Ziel einer Realverfilmung sollte aber sein, auch neue Fans zu gewinnen. Ich glaube nicht, dass dies hier gelingt. Einerseits, weil eine in einer Fantasiewelt spielende Piratengeschichte mit Teufelsfrüchten sowieso nur bei einer bestimmten Gruppe Anklang findet. Und die lässt sich auch auf Mangas und Animes ein. Andererseits aus dem bereits genannten Grund, dass die Serie für Nicht-Kenner zu viele Story-Schwächen aufweist.

So bleibt «One Piece» einfach eine weitere durchschnittliche Netflix-Serie. Wäre ich nicht Fan der Vorlage, hätte ich sie bereits in ein paar Wochen wieder vergessen.

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Technologie und Gesellschaft faszinieren mich. Die beiden zu kombinieren und aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu betrachten, ist meine Leidenschaft.

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