Mediale Dauerberieselung: «Sobald wir mit einer Serie fertig sind, fallen wir in ein Erregungsloch»
Meinung

Mediale Dauerberieselung: «Sobald wir mit einer Serie fertig sind, fallen wir in ein Erregungsloch»

Philipp Rüegg
20.2.2020
Bilder: Thomas Kunz

Musik, Filme, Games, alles steht uns immer, überall und in Massen zur Verfügung. Es klingt nach einem Traum und ist doch oft das Gegenteil. Der Grund liegt in unserer Psyche.

Früher war die Sache klar. 17 Uhr kam ich von der Lehre nach Hause. Rechtzeitig für das kultige: Thee Siiimpsoooons auf SF 2. Dann wurde eine halbe Stunde gelacht, anschliessend gab es Abendessen und am nächsten Tag wurde die Folge mit den Kumpels diskutiert. Heute würde die gleiche Situation ungefähr so verlaufen. «Hast du gestern die neue ‹Simpsons›-Folge gesehen?» «Keine Zeit. Wir schauen gerade ‹Big Bang Theory› und von ‹Brooklyn Nine-Nine› ist auch eine neue Staffel erschienen und ‹Parasite› ist auch noch auf meiner Liste. Seit drei Jahren versuche ich zudem endlich ‹The Witcher 3› durchzuzocken.» Durch die wachsende Popularität von All-You-Can-Eat-Diensten wie Spotify, Netflix oder Xbox Game Pass ertrinken wir in medialen Angeboten. Unser Konsumverhalten hat sich dadurch massgeblich verändert.

Früher war alles einfacher

In meiner Kindheit hatten wir Zuhause nur sechs Fernsehsender, zwei davon auf französisch. Damit war die Wahl derart eingeschränkt, dass auch die x-te Wiederholung von «James Bond Moonraker» ein Highlight war. Als wir irgendwann den alten VHS-Recorder meiner Oma erbten, bröckelten die starren Mauern von SF 1, ARD und Co. Plötzlich durften wir Videotheken durchstöbern oder mit Freunden Filme tauschen.

Als ich in die Oberstufe kam, montierten meine Eltern eine Satellitenschüssel. Damit wuchs die Auswahl ins Unermessliche. Und doch verblassen selbst diese 250+ Sender im Vergleich zu dem, was wir heute haben. Befreit von fixen Sendezeiten können wir eine Staffel nach der nächsten unserer Lieblingserien bingen. Sofern wir uns denn für etwas entscheiden können. Schlurften wir nämlich früher stundenlang durch die Regale der Videothek, verbringen wir nun die gleiche Zeit in den digitalen Bibliotheken von Netflix. Aber im Gegensatz zu damals nicht nur wenn’s hoch kam einmal im Monat, sondern täglich.

Das Angebot wächst und wächst

Und Netflix ist längst nicht alleine: Youtube, Twitch, Disney+, Kinos – alle buhlen um unsere Aufmerksamkeit. Alle mit unzähligen Must-See-Serien und -Filmen, die darauf warten, konsumiert zu werden. Das Pauschalangebot sorgt dafür, dass wir immer länger vor dem Bildschirm kleben. Die Mediennutzung liegt laut dem deutschen Verband Privater Medien bereits bei neun Stunden täglich. Hier hat das Smartphone klar den stärksten Einfluss. Das legen wir nicht mal beim Fernsehschauen weg. Zig Whatsapp-Chats, Twitter-Feeds und Instagram-Bilder wollen schliesslich auch noch angeschaut und geliked werden.

Geralt, der Hexer, hat's einfach. Zu seiner Zeit gab's schliesslich noch kein Netflix.
Geralt, der Hexer, hat's einfach. Zu seiner Zeit gab's schliesslich noch kein Netflix.

Dabei sind Filme oder Serien vom Zeitbedarf noch harmlos. Falls du nach «The Witcher» auf Netflix mit Henry Cavill mit dem Gedanken spielst, das gleichnamige Game dazu zu spielen, dann schaufel dir schon mal 100 Stunden frei. Für mich als Game-Redaktor liegt dort der grösste Hund begraben. Am liebsten möchte ich alle guten Spiele zocken. Aber nicht nur werden es jedes Jahr mehr, die Hersteller treiben mich zusätzlich mit ihren «game as a service» in den Wahnsinn. Also über Monate und Jahre neue Inhalte und Events liefern, so dass ich nie fertig werde. Grossartig, aber auch die reinste Hölle. Und dass immer neue Netflix-ähnliche Game-Flatrates auftauchen, macht endgültig jedes Zeitmanagement hinfällig und fördert meine Entscheidungsschwierigkeiten noch stärker.

Aber selbst damit ist es noch nicht getan. In meinem Podcast-Feed stapeln sich die ungehörten Folgen. Selbst mit eineinhalbfacher Abspielgeschwindigkeit und der automatischen Pausenentfernung werde ich dem Angebot niemals Herr. Etwas weniger belastend sind für mich neue Musikalben. Aber auch das ist individuell. Dort gibt es mit Spotify und Co. ebenfalls seit Jahren Pauschaldienste, mit denen du dich dauerberieseln kannst.

Und was ist mit Lesen? Die Zeit, die Menschen mit Büchern verbringen, ist laut der Statistikdatenbank Statista rückläufig. Persönlich habe ich aber auch dort eine nicht endend wollende Liste mit Comics, Romanen und Sachliteratur, die ich noch so gerne verschlingen würde. Es ist wohl überflüssig zu erwähnen, dass es auch dafür Flatrate-Angebote gibt.

Und wo liegt das Problem?

Wache ich wegen des medialen Überangebots jede Nacht schweissgebadet auf? Nein, so schlimm steht es noch nicht um mich. Aber der Gedanke, in welcher freien Minute ich was konsumieren könnte, begleitet mich fast ständig. Soll ich am Morgen im Zug ein Buch lesen? Lieber etwas auf meiner Switch zocken, dann könnte ich gleichzeitig Podcast hören. Oder schaue ich lieber ein neues Video aus meinen Youtube-Abos? Abends das gleiche Spiel mit einer noch grösseren Auswahl. Serien schauen? Zocken? Das angefangene Brettspiel belegt auch schon seit zwei Wochen den Esstisch und im Kino war ich schon ewigs nicht mehr.

Daniel Süss, Professor am Psychologischen Institut der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften, ist das Phänomen bekannt: «Aus der Entscheidungsforschung weiss man, dass wenn man viele Optionen zur Auswahl hat, es einem schwerer fällt, sich zu entscheiden.» Es sei ein sehr menschliches Problem, dass man bei einem grossen Angebot mehr Zweifel hat als bei einem kleinen, sich richtig entschieden zu haben. Das führe Süss zufolge dazu, dass man mehr ausprobieren möchte.

Hinzu kommt, dass es heute viel mehr personalisierte Angebote gibt. Das Internet weiss, was wir gut finden und schlägt uns ständig neue Dinge vor, die uns interessieren könnten. In der Fachsprache wird das «Nudging» genannt. «Dieses personalisierte Anstupsen nimmt uns einen Teil der Entscheidungsarbeit ab und verleitet uns dazu, öfters Ja zu sagen», sagt Süss.

Ein weiterer Aspekt betrifft die Zunahme serieller Angebote, die oft mit Cliffhangern verknüpft sind. Es fällt schwer, bei einer andauernden Geschichte auszusteigen. Süss vergleicht es mit einer Beziehung. «Wenn ein Paar lange zufrieden zusammen ist, fällt es den Partnern schwer, sich zu trennen. Man hat gemeinsam viel aufgebaut und investiert.» Ähnlich verhalte es sich mit seriellen Angeboten. Man hat sich mit den Charakteren und der Geschichte auseinandersetzt und viel Empathie investiert.

Bei Massenphänomenen wie «Game of Thrones» kommt zu allem Übel «Fomo» hinzu: Fear of missing out. Zu Deutsch, Angst, etwas zu verpassen. Fomo bezieht sich primär auf den sozialen Austausch. Wenn ein Thema im Freundeskreis oder medial gehyped wird, kann Angst entstehen, nicht mitreden zu können.

«Wir halten kaum mehr Leerzeiten aus»

Aber es sind nicht nur diese Dinge, die wie graue Gewitterwolken über mir kreisen. Das Überangebot hat mein Konsumverhalten verändert. Früher habe ich bewusster ferngeschaut, ein Spiel gespielt oder Musik gehört. Es war etwas besonderes, wenn ich eine neue CD geschenkt bekam. Ich nahm mir für jedes Album Zeit, eine Mini-Disc-Kopie zu erstellen und das Ding eigenhändig zu beschriften. Falls ich mal mehr als ein neues Game gleichzeitig hatte, wusste ich gar nicht wohin mit meiner Euphorie.

«Wir haben uns einen Lebensstil angewöhnt, wo wir kaum mehr Leerzeiten aushalten», so Süss. Es ist extrem einfach geworden, praktisch ohne Zusatzkosten viel zu konsumieren. «Durch die Abomodelle wirkt es sogar umgekehrt. Es lohnt sich, mehr zu konsumieren und wir kommen uns dumm vor, nichts zu machen.» Und sobald wir mit einer Serie fertig sind, fallen wir in ein Erregungsloch. Das führe wiederum dazu, dass wir schnell das nächste Angebot suchen.

Will ich deswegen auf das ganze Angebot verzichten? Hell no! Ich finds ja geil, dass es so viel Auswahl gibt. Die Qualität ist dabei erst noch gestiegen. Heute hüpfe ich dank Xbox Game Pass, Netflix oder Google Music wie eine Biene in einer Blumenwiese von Spiel zu Serie zu Musik. Wenn mir was nach zehn Minuten nicht passt, probier ich einfach das nächste. Früher habe ich Zeit mit Trash-TV wie «Herkules», «Xena», Talkshows und wenns ganz schlimm stand, Soap-Operas verschwendet. Da bevorzuge ich die Qual der Wahl von Heute allemale. Wenn ich nur ein bisschen mehr Zeit hätte.

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Als Kind durfte ich keine Konsolen haben. Erst mit dem 486er-Familien-PC eröffnete sich mir die magische Welt der Games. Entsprechend stark überkompensiere ich heute. Nur der Mangel an Zeit und Geld hält mich davon ab, jedes Spiel auszuprobieren, das es gibt und mein Regal mit seltenen Retro-Konsolen zu schmücken. 


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