«Mami, ich gründä dir es Label» – eine familiäre Erfolgsgeschichte
Mit seinem Modelabel Neumühle will Andreas Fehr die Textilbranche nachhaltiger machen. Wie das dem Zürcher Start-up gelingt und was Bademode aus altem Nylon und Fischernetzen damit zu tun hat.
Manchmal sagt nicht ein Blick mehr als tausend Worte, sondern ein Geschenk. Im Falle von Andreas Fehr ist das eine Modemarke, die er 2015 seiner Mutter Edith schenkt. Nach ihrer Pensionierung häkelt die gelernte Handarbeitslehrerin leidenschaftlich Mützen. Eines Tages meint Andreas: «Mami, ich gründä dir es Label.» Und weil das Tal, in dem sein Elternhaus steht, Neumühle heisst, wird daraus kurzerhand der Name des Brands. «Die Strickkappen haben wir auf Märkten wie dem Zürcher ‹Wienachtsdorf am Bellevue› verkauft», erzählt Andreas. Zu diesem Zeitpunkt arbeitet er noch Vollzeit als Marketingfachmann in einer Agentur in Zürich.
Was als Hobby beginnt, entwickelt sich immer mehr zu einem Fulltime-Job. Nach einer achtmonatigen Reise durch Russland, China und Südostasien kommt Andreas 2017 nicht nur mit Souvenirs im Rucksack zurück, sondern auch mit umweltbewussten Ideen für Neumühle. Während seines Trips ist er täglich auf Plastikmüll gestossen. «Da habe ich realisiert, dass ich in der Textilindustrie etwas bewegen und etwas Nachhaltiges produzieren will. Und zwar mit Neumühle», so der Gründer des Start-ups. Nach seiner Rückkehr nimmt die Marke schnell Fahrt auf – ohne seine Mutter. «Ich hätte sie gerne mehr involviert, aber sie ist zufrieden mit ihrem Neumühle-Projekt ‹Mützen von Mami›, das parallel dazu läuft und ihr eine kreative Plattform bietet.» Edith verkauft ihre Beanies weiterhin nicht online, sondern nur auf Märkten. «So kommt sie bei Bestellungen nicht in Zugzwang und kann sich stattdessen nach Belieben kreativ austoben.» Da Andreas nicht professionell näht, tauscht er sich regelmässig mit ihr aus, wann immer er ihre Expertise braucht.
Es ist naheliegend, nach Mützen auch Schals zu produzieren. 2018 beginnt er, diese aus einem Mischgewebe, bestehend aus rezyklierten PET-Flaschen und Merinowolle, zu produzieren. Caps und Rucksäcke folgen. Das «Dad Cap von Tuan» ist ein Mitbringsel aus Vietnam. Während seiner Reise legt Andreas mit einem Motorrad die rund 2000 Kilometer lange Strecke vom südlichen Mekongdelta bis an die nördliche chinesische Grenze zurück – und stösst auf eine faire Produktionsfirma. Diese stellt bis heute seine Caps her. «Weil ich die Transportwege aber möglichst kurz halten will, bin ich gerade dran, die Produktion nach Europa zu verlegen», so Andreas.
Ins Netz gegangen
Nach Accessoires will der Neumühle-Gründer auch Kleidungsstücke produzieren: «Weil es mein Ziel ist, in Sachen Produktion, Nachhaltigkeit und Design andere Wege einzuschlagen, kommt es mir nicht drauf an, was, sondern wie wir es machen.» Per Zufall wird er über einen bestehenden Lieferanten auf eine Schneiderei in Lugano aufmerksam. Aus dieser Zusammenarbeit entsteht Bademode.
Die Kollektion «Net-Swimwear von Alice» wird aus Nylon aus Industrieabfällen und aus alten Fischernetzen hergestellt. Die Netze werden weltweit von NGOs eingesammelt, gesäubert und nach Ljubljana transportiert, wo sie ein Depolymerisations-Verfahren durchlaufen. Durch einen chemischen Prozess wird das Polymer in seine einzelnen Bausteine zerlegt und zu einem Nylon-Garn verarbeitet, das in Como verwoben und im rund dreissig Fahrminuten entfernten Tessin zu Bademode geschneidert wird.
Die über Kickstarter finanzierte Bademodenlinie ist vom zeitlosen Schnitt über Materialien bis zur Produktion bis ins kleinste Detail durchdacht. Um ihren Lebenszyklus zu verlängern, bietet Neumühle seiner Kundschaft zudem innerhalb der ersten fünf Jahre einen kostenlosen Reparaturservice an.
Haters gonna hate, Lovers gonna love: Andreas ist sich der Mikroplastik-Problematik bewusst, doch es fehlt eine qualitativ gleichwertige Alternative: «Zurzeit sind synthetische Fasern immer noch die besten, um daraus Bademode zu machen.» Schon beim Schal war das rezyklierte PET eine Knacknuss. Seine Überlegung damals: «Ein Schal ist ein Stück, dass du nicht täglich waschen musst. Und wenn, dann reicht Handwäsche völlig aus.» Dasselbe gilt für seine Bademode. Das sei auch einer der Gründe, warum er wahrscheinlich niemals ein Produkt entwickeln würde, das täglich respektive wöchentlich gewaschen werden müsse. So lässt sich die Problematik zumindest etwas abfedern. Wichtig sei auch hier, den Konsumenten an Bord zu holen und für das Thema zu sensibilisieren. «Beim heutigen Stand ist es illusorisch zu sagen, dass sich Mikroplastik vermeiden lässt. Es braucht verschiedene Akteure, wie unter anderem Waschmaschinenhersteller, die nachhaltige Lösungen entwickeln.»
Kreislaufwirtschaft
«Die Branche ist einer der grössten Umweltsünder», sagt Andreas deutlich und nimmt einen grossen Schluck aus seiner Trinkflasche aus Edelstahl. «Statt Fast Fashion zu konsumieren, müssten die Menschen wegkommen von übermässigem Konsum und den damit verbundenen Produkten aus fossilen Ressourcen, wie etwa Billigware.» Diese wird massenhaft produziert, kaum getragen und schnell weggeworfen (lineares Modell). Wünschenswert wäre stattdessen ein Produkt, das bei seiner Herstellung möglichst wenig CO₂-Emissionen generiert und für die Zirkularität entwickelt wird. Ein Paradebeispiel dafür ist Neumühles «Circle Jacket von Ada».
Die vegane Daunenjacke folgt einem ganzheitlichen, zirkulären Ansatz, weil ihre Komponenten beim Recycling problemlos in ihre Ursprungsmaterialien getrennt werden können. Anschliessend werden diese entweder wiederverwertet oder zu Materialien gleicher Qualität verarbeitet. Die Druckknöpfe sind beispielsweise aus Zuckerrohr gefertigt – ein Novum. Hierbei handelt es sich um das weltweit erste Modeprodukt mit solchen Knöpfen der deutschen Marke Prym. «Wir haben den Impact pro Jacke ausgerechnet: Indem wir bei der Produktion auf Neumaterialien verzichten, sparen wir pro Jacke 840 Gramm CO₂ ein», sagt Andreas stolz und strahlt dabei übers ganze Gesicht. Zum Vergleich: Ein Liter Vollmilch verursacht gemäss WWF Schweiz 1,63 Kilogramm CO₂-Emission, ein Sojadrink 0,7 Kilogramm.
«Nachhaltigkeit beginnt im Designprozess», so Andreas, der seine Produkte in seinem Atelier – in einer Heilsarmee-Zwischennutzung – am Computer entwirft. Etwas ist erst dann nachhaltig, wenn es sich im selben Kreislauf bewegt. Die wenigsten Produkte lassen sich problemlos recyceln, weil sie aus Mischgeweben bestehen. Darum ist es der Designer, der über die Zukunft eines Kleidungsstücks bestimmt. Eine Hose oder ein Accessoire muss so produziert sein, damit es zu einem späteren Zeitpunkt zu einem Produkt gleichbleibender Qualität recycelt werden kann.
Mit gutem Beispiel voran – nicht nur privat
Nachhaltigkeit im Job zu «predigen» und privat nicht zu leben, ist für Andreas keine Option. «Meistens trage ich Secondhand-Mode oder achte auf nachhaltige Materialien wie Bio-Baumwolle.» Ausserdem isst der Wahl-Stadtzürcher bewusst wenig Fleisch, trinkt Leitungswasser, versucht auch zu Hause so wenig Abfall wie möglich zu produzieren und ist mit dem Velo in der City unterwegs. «Es ist wichtig, der breiten Masse Dinge aufzeigen, die sich einfach und mit wenig Aufwand umsetzen lassen.» Dazu zähle auch bewusstes Konsumieren. «Es lohnt sich, vieles zu hinterfragen, bevor du es kaufst.» Selbstreflexion sei wichtig. «In der Vergangenheit wurde uns eingeschärft, dass ein T-Shirt nur fünf Franken kostet. Von diesem Gedanken müssen wir uns lösen.» Das sei ein Prozess. «Um den CO₂-Fussabdruck der Modebranche zu minimieren, ist ein Umdenken ein Muss.» Dazu zähle eine nachhaltige Produktion und erneuerbare statt fossile Rohstoffe zu verwenden. Neumühle will das Gegenstück zu Fast Fashion sein.
Eine Strategie, die aufzugehen scheint: Das Start-up wird für seinen grünen Ansatz gelobt. Die «Net-Swimwear von Alice» wurde 2019 mit dem «Jungdesign Award», einem Preis des Förderwettbewerbs der Designgut in der Kategorie «Innovation und Nachhaltigkeit» prämiert. Anfang Jahr wurden die Rucksäcke des Modelabels für den «Deutschen Nachhaltigkeitspreis 2021», Europas grösste Auszeichnung für ökologisches und soziales Engagement, in der Kategorie «Design» nominiert. «Es ist ein unbeschreibliches Gefühl, wenn deine Arbeit national und international anerkannt wird», so Andreas.
Ausserdem wird Neumühle von Innosuisse gefördert: Die schweizerische Agentur für Innovationsförderung unterstützt erstmals kreislauffähige Produkte. Das Entwicklungsprojekt ist – als Adaption zur Daunenjacke – eine Weste, die zurzeit noch mitten in der Entwicklungsphase steckt. Das Gilet soll aus einem einzigen Material bestehen, damit es recycelt werden kann, ohne dass es vorab in seine Einzelteile zerlegt werden muss. Ein ambitioniertes Ziel. Auf die Frage, woran er sonst noch gerne tüfteln würde, antwortet Andreas: «Vor fünf oder sechs Jahren wollte ich einen Velohelm aus rezyklierten Materialien herstellen.» Als Stadt-Velofahrer wäre dieser nachhaltige Kopfschutz wahrscheinlich ein Geschenk an sich selbst und würde damit sicher auch seine Mutter glücklich machen.
Wenn ich mal nicht als Open-Water-Diver unter Wasser bin, dann tauche ich in die Welt der Fashion ein. Auf den Strassen von Paris, Mailand und New York halte ich nach den neuesten Trends Ausschau und zeige dir, wie du sie fernab vom Modezirkus alltagstauglich umsetzt.