Long-Covid ist nicht lustig
Meinung

Long-Covid ist nicht lustig

Thomas Meyer
20.5.2022

Mein Sohn hat Long-Covid, also chronische Beschwerden nach einer Infektion mit Covid-19. Seit mehr als zwei Monaten geht er kaum noch zur Schule. Über eine Krankheit, die man nicht diagnostizieren kann, aber immer mehr Menschen das Leben schwermacht.

Die Massnahmen für den Infektionsschutz sind aufgehoben, die Spitaleinweisungen gehen zurück, das Impftram der Zürcher Verkehrsbetriebe wird demnächst verschrottet. Die Pandemie, könnte man denken, ist vorbei. Für viele hat sie aber erst so richtig begonnen, denn sie leiden an Long-Covid. Einer davon ist mein zehnjähriger Sohn Levi.

Levi wurde Ende Januar 2022 mit Covid-19 infiziert. Der Verlauf war nicht arg; eine Nacht mit Schüttelfrost und Kopfschmerzen, danach ging es gleich wieder bergauf, und nach fünf Tagen Isolation bei der Mutter kam Levi so quietschfidel zu mir wie immer. Man kann seinen Gesundheitszustand ziemlich gut an der Menge Unsinn ablesen, die er im Kopf hat: Solange ich aus dem Hinterhalt mit Nerf-Pfeilen beschossen und «Alter» genannt werde, und solange er sich bei seinem besten Freund für meine Dad-Jokes entschuldigt, ist alles in Ordnung.

Nach einem Monat der Beschwerdefreiheit stellte Levi die Feuerüberfälle und faulen Sprüche urplötzlich ein, kritisierte meine nicht mehr, klagte über Frösteln, Kopfschmerzen, Übelkeit und gab überhaupt ein ausgesprochen erbärmliches Bild ab. Wir dachten erst an einen harmlosen grippalen Infekt. Aber die Symptome blieben. Vor allem die Erschöpfung.

In der ersten Woche fehlte Levi zwei Tage in der Schule. In der zweiten drei. Der Kinderarzt meinte: «Es könnte Long-Covid sein, aber machen wir erst einen Bluttest, um alles andere auszuschliessen.» Dieser ergab, dass Levi völlig gesund ist. Ihm fehlt kein Vitamin, auch sonst ist alles in Ordnung. Der Befund passte so gar nicht zu dem Jungen, der so blutleer wirkte wie Tom Cruise in »Interview With The Vampire«.

Der Kinderarzt überwies Levi ans Kinderspital. Dort gibt es neuerdings eine Sprechstunde extra für Long-Covid. Und sie ist so überfüllt, dass wir über einen Monat auf den Termin warten mussten.

In der vierten Woche ging Levi nur einen Tag zur Schule und in der fünften gar nicht. Er lag hauptsächlich auf meinem Sofa, verlangte mit dünnem Stimmchen nach der Wärmflasche und konnte sich über die von mir verschriebene Netflix-Therapie – mindestens fünf Stunden pro Tag mit höchstens zwei Pausen – nicht mal richtig freuen.

Das Long-Covid-Survival-Kit: Bettflasche, iPad mit deaktivierter Bildschirmzeit und Lieblingsplüschtier «Köbi».
Das Long-Covid-Survival-Kit: Bettflasche, iPad mit deaktivierter Bildschirmzeit und Lieblingsplüschtier «Köbi».

Was ist Long-Covid?

Long-Covid ist die Beschreibung eines chronischen Zustandes, der nach einer Covid-19-Infektion auftreten kann, nicht anderweitig erklärlich ist und einige Wochen bis mehrere Monate lang anhält. Der Begriff verbreitete sich, nachdem eine Betroffene im Mai 2020 unter dem entsprechenden Hashtag von ihren anhaltenden Beschwerden berichtete. Mittlerweile spricht man neben Long-Covid auch von Post-Covid oder dem Post-Covid-Syndrom. Die Symptome sind verschieden, üblicherweise gibt es ein Leitsymptom und Nebensymptome. Mein Sohn ist beispielsweise konsequent müde und abgeschlagen (sogenanntes Fatigue-Syndrom) und hat immer wieder kurze heftige Schübe von Kopfschmerzen, Übelkeit und Frösteln.

Das Fiese an Long-Covid ist, dass das Leiden von vielen nicht ernstgenommen wird, auch von diversen Fachleuten nicht. Es werden alle möglichen Erklärungen vorgebracht, von Frühjahrsmüdigkeit über Pandemie-Depression hin zu Übertreibung und Faulheit. Wie schon bei Corona wird das eigene Erleben zum Massstab erhoben, also die einem persönlich bekannte Anzahl von Fällen als repräsentativ betrachtet. Jene, die niemanden kennen, der oder die an Long-Covid leidet, haben daher meist wenig Verständnis für die damit verbundenen Beschwerden.

Nun, ich kenne jemanden mit Long-Covid und halte diese Angelegenheit für ein ernsthaftes Problem. Gerade für Kinder, die eine Menge Unterricht verpassen, nicht mehr wie gewohnt mit ihren Freund:innen spielen können und in eine hilflose Gereiztheit verfallen, weil ihnen alles zuviel ist. Als ich mit meinem Sohn kürzlich aus dem Haus ging, rannte er los wie früher, blieb aber nach zehn Metern stehen und klagte, er könne nicht mehr. Gemeinsame Ausfahrten mit dem Velo sind derzeit nicht möglich. Ihn so zu sehen, bricht mir das Herz. Wer Kinder hat, weiß, wie verletzlich einen das macht und wie hilflos. Nach zwei Monaten liegen meine Nerven blank. Wie muss es erst Eltern gehen, deren Kind richtig krank ist, über Jahre hinweg? Ich wage es mir nicht auszumalen.

Es geht aufwärts

Die Ärztinnen im Kinderspital haben empfohlen, dass er jeden Tag zur Schule geht, erst nur den halben Vormittag, dann den ganzen und in ein paar Wochen wieder normal. Allein schon daran, dass Levi den Vorschlag begrüsst und nicht schon angesichts der Vorstellung in sich zusammenfällt, gibt mir Hoffnung. Überhaupt geht es ihm seit einigen Tagen etwas besser, er spottet wieder über mich und meine in seinen Augen krass beschränkten Fähigkeiten, elektronische Geräte richtig bedienen zu können. Und die regelmässigen Akupunktur-Sitzungen helfen auch.

Aber es liegt noch ein gutes Stück Weg vor uns. Nicht nur vor Levi und seinen Eltern, sondern vor uns allen. Ich fürchte, wir unterschätzen Long-Covid massiv und werden uns noch sehr lange und intensiv damit beschäftigen müssen.

Gute Besserung an alle, die ebenfalls davon betroffen sind – ob als Leidtragende oder Angehörige!

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Der Schriftsteller Thomas Meyer wurde 1974 in Zürich geboren. Er arbeitete als Werbetexter, bis 2012 sein erster Roman «Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse» erschien. Er ist Vater eines Sohnes und hat dadurch immer eine prima Ausrede, um Lego zu kaufen. Mehr von ihm: www.thomasmeyer.ch. 


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