Immer gut drauf? Nicht mit mir. Ein Plädoyer für trübe Tage und schlechte Laune
Hintergrund

Immer gut drauf? Nicht mit mir. Ein Plädoyer für trübe Tage und schlechte Laune

In Wien glaubt man nicht an Wunder, sondern an den Weltschmerz. Eine bittere Pille, die gegen Social Media und die dortige toxische Positivität wirkt. Denn es gibt gute Gründe für die schlechte Laune – und die sind sogar wissenschaftlich bestätigt.

Das klassische Frauenmagazin folgt einem simplen Strickmuster: Ein emanzipiertes Editorial ruft dazu auf, dich von gesellschaftlichen Normen zu befreien und ganz du selbst zu sein. Die kommenden Seiten sind gefüllt mit Modetrend-, Schmink- und Diättipps, während auf den letzten Seiten die Kuchen- und Backrezepte zu finden sind. Eine Doppelmoral, die es schon längst von den Magazinseiten in den Social-Media-Feed und von den Körpern in die Psyche geschafft hat.

Schau dir Instagram an. Dort herrscht das Narrativ: Sei du selbst, aber bitte gut gelaunt. Probleme? Kennen wir nicht. Das Ergebnis ist ein psychotisches Potpourri, in dem dir zwischen Schreckensnachrichten aus aller Welt meditierende Influencer von der Südseeinsel entgegengrinsen oder Katzenvideos dich in den kurzweiligen Hedonismus stürzen.

Denn legt man das Handy zur Seite, fragt man sich: Was stimmt eigentlich nicht mit mir, wenn ich in dieser Welt keine Hedonistin bin? Nicht immer gut gelaunt in das nächste Flugzeug und auf einen tibetischen Berg steige, um mich dort am Sinn des Lebens zu ergötzen?

Toxische Positivität und Joie de Vivre aus Wien

Positivität auf Zwang macht unglücklich. In Wien, wo ich herkomme, weiß man das und – steile These – vielleicht ist das der Grund, weshalb hier weltweit mit die unfreundlichsten Menschen in der gleichzeitig lebenswertesten Stadt zuhause sind.

Weil es eben manchmal einfach guttut, schlecht gelaunt zu sein. Ein liebgemeintes Plädoyer für graue Tage, das dich vom Gute-Laune-Zwang befreien wird.

Wirklich erklären kann man dieses Lebensgefühl aus Wien nicht. Selbst wenn man dort aufgewachsen ist, so wie ich. Zwar gibt es das Wort «Sudern», gemeinhin mit «Jammern» übersetzt. Doch dahinter steckt viel mehr als das. Wer sudert, empfindet tiefen Weltschmerz und suhlt sich genussvoll mehrere Tage darin: Süßes Leid, das keinen Bedarf hat, aufgelöst zu werden.

Vielleicht hilft ein Beispiel: Als Wien 2018 zum neunten Mal von dem Beratungsunternehmen Mercer zur lebenswertesten Stadt der Welt gekürt wurde, hinterließ ein verärgerter Leser der Tageszeitung «Der Standard» unter den entsprechenden Online-Beitrag folgenden Kommentar: «Ich lass‘ mir mein Wien von keiner Studie schönreden.»

Unglücklich vor lauter Glücklichkeit

Nun gut, jetzt könntest du zurecht argumentieren: Diese Lebenshaltung löst weder Probleme noch führt sie zum großen Glück – zumal der Einfluss positiver Gedanken auf das empfundene Glück in vielen Studien belegt wurde.

Aber: Werden Glück und Zufriedenheit zur Pflichtübung, passiert genau das Gegenteil.

Vor der «toxischen Positivität» warnen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler seit Jahren. Die unverhandelbare Glückseligkeit, die nur noch eine kleine Palette an Gefühlen zulässt, bedeutet kein Seelenheil, sondern psychische Belastung.

So untersuchte zum Beispiel eine Studie den Link zwischen Akzeptanz der eigenen Emotionen und psychischer Gesundheit. Das Ergebnis: Wer negative Gefühle konstant ignoriert, fühlt sich am Ende noch schlechter.

Eine andere Studie untersuchte toxische Positivität in Endometriose-Foren bei Facebook. Auch hier zeigte sich: Die herrschende «Positiv-denken-Ideologie» führte dazu, dass sich das Forum insgesamt weniger inklusiv gestaltete und sich Userinnen weniger in den Diskurs einbrachten.

Warum es gerade auf Social Media nur so vor toxischer Positivität wimmelt, ist schnell erklärt. Jeder Mensch läuft dem Glück hinterher und da ist es verlockend, sich das eigene Glück schlicht zu kuratieren – auch wenn es hinter der Kamera oft ganz anders aussieht. Belohnt wird das Ganze durch ein «Like», eine kleine Glücksbombe, bei der laut International Psychology Clinic dieselbe Gehirnaktivität zu beobachten ist wie nach einem Lotteriegewinn.

Ein Plädoyer für die schlechten Tage: Warum es gut tut, nicht immer gut drauf zu sein

Wer nicht glücklich sein muss, kann alles sein. Und um das zu verinnerlichen, kommen hier wohltuende Argumente für schlechte Tage und schlechte Laune – direkt aus dem internationalen Herzen der Missgunst, aus Wien.

1. An schlechten Tagen darf man aufgeben

Es gibt Tage (und Wochen), an denen läuft einfach alles schief. Lass dich in die Schieflage fallen, denn an diesen Tagen kannst du das Glück nicht erzwingen. Die Destruktivität hat eine Schönheit für sich und ist einmal alles verloren, kannst du getrost das Handtuch werfen. Aufgeben ist gesunder Egoismus, darum such nicht nach Lösungen und lass den Regen kommen – düstere Tage ohne Hoffnung auf baldige Besserung sind der radikalste Widerstand gegen die gut gelaunte Leistungsgesellschaft.

2. Bei schlechter Laune wirst du in Ruhe gelassen

Schlecht gelaunt bist du kein erfreulicher Zeitgenosse. Und auch, wenn du andere Menschen nicht auf Lebenszeit vergraulen willst: Für ein bisschen Ruhe im stressigen Alltag hilft die wohlplatzierte Miesepetrigkeit. Und die geht so: Zuerst musst du die schlechte Laune wirklich spüren. Der Rest folgt quasi von ganz alleine: Die Mundwinkel ziehen sich nach unten, der Blick richtet sich stur auf den Boden und hier und da entwischt dir ein entnervtes Stöhnen. Wenn dir danach ist, kannst du noch einen schlecht gelaunten Insta-Post absetzen, um die toxische Positivität an ihrem Herd zu zersetzen. Definitiv kein Tipp für jeden Tag, aber ab und zu sehr heilsam.

3. Du kannst der Welt deine Launen zumuten

Ganz ohne jede Ironie: Die Welt ist voller Emotionen, wie auch du. Zuversicht, Wut, Ekel, Freude, Verachtung, Trauer – du bist es niemandem schuldig, nur das Angenehme zu spüren und auszuleben. Die Wiener Kaffeehäuser sind dafür ein herrliches Beispiel: Die breite Palette an seltenen Kaffeespezialitäten wird hier mit einer gewissen Unverschämtheit serviert. Auch von meiner eigenen Laufbahn als Kellnerin kann ich bestätigen: Freudvolles, motiviertes und gut gelauntes Arbeiten gehört hier nicht zur Etikette. Trotzdem zählen die Wiener Kaffeehäuser zu den beliebtesten Europas und sind immer gut besucht. Das zeigt: Du bist auch unfreundlich noch liebenswert und die Welt verträgt auch mal eine Portion deiner schlechten Laune.

4. Schlechte Laune bringt dich weiter

Keine Frage – gute Laune ist eine tolle Sache. Aber ist dir einmal eine Laus über die Leber gelaufen, ist es gesünder, emotional nicht dagegen zu arbeiten und gute Laune vorzugaukeln. Und: Wenn du die schlechte Laune nicht direkt wieder abschüttelst, bietet sie dir sogar Entwicklungsmöglichkeiten. So zeigte eine Studie im «Journal of Experimental Social Psychology»: Menschen mit schlechter Laune sind besser im analytischen Denken, produktiver und überzeugender. Scheinbar fehlt dir bei permanent guter Laune der Antrieb, den Blick auf Dinge außerhalb der rosaroten Brille zu richten.

5. Schlechte Laune fördert die Gelassenheit

Und mein finales Argument gegen den Gute-Laune-Wahn: Schlechte Laune hier und da fördert die Gelassenheit. Denn negative Emotionen zu akzeptieren – und dich vielleicht sogar in Wiener Tradition in sie hineinzustürzen und zu sudern – wirkt sich langfristig positiv auf deine Gesundheit aus. Das ist keine Einzelmeinung von mir, sondern bestätigt von Forschenden der University of California: Stress, der dabei entsteht, negative Gefühle zu verdrängen, könne krank machen, sagt das Forschungsteam. Wenn du dich stattdessen mit der schlechten Laune arrangierst, sie lieben lernst, brichst du nicht nur den Positivitäts-Zwang, sondern wird auch dein Blick auf die Welt wesentlich entspannter.

Titelfoto: shutterstock

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Olivia Leimpeters-Leth
Autorin von customize mediahouse

Ich liebe blumige Formulierungen und sinnbildliche Sprache. Kluge Metaphern sind mein Kryptonit, auch wenn es manchmal besser ist, einfach auf den Punkt zu kommen. Alle meine Texte werden von meinen Katzen redigiert: Das ist keine Metapher, sondern ich glaube «Vermenschlichung des Haustiers». Abseits des Schreibtisches gehe ich gerne wandern, musiziere am Lagerfeuer oder schleppe meinen müden Körper zum Sport oder manchmal auch auf eine Party. 


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