Im Zen-Modus: Wie eine Teezeremonie unseren Kopf leerte
Als grösste Teeliebhaberinnen unseres Teams war klar: Steffi und ich müssen an einer Teezeremonie teilnehmen. Im Museum Rietberg liessen wir uns zeremoniell Matcha aufschäumen. Dabei ging uns so einiges durch den Kopf – bis er komplett leer war.
«Wo zum Teufel muss ich lang?» Wie ein getriebenes Reh haste ich zwischen den Bäumen des Rieterparks durch, auf der verzweifelten Suche nach dem Museum Rietberg. Dort beginnt gleich die japanische Teezeremonie, die ich mit Kollegin Steffi besuche. Ich bin spät dran und entsprechend gestresst. Ob der Tee schon kalt sein wird, bis ich ankomme? Zum Glück nicht: Endlich sehe ich den Eingang.
Davor steht ein Mann in einem Kimono: Zeremonienleiter Christoph Meier. Durch seine ruhevolle Ausstrahlung verblasst für einen Moment alles um mich herum. «Darf ich noch Ihr Ticket sehen?», fragt er nach einiger Zeit höflich. «Oh, klar», murmle ich verträumt, strecke es ihm entgegen und bemerke erschrocken: «Die Schuhe ...» «Keine Eile. Die können Sie oben ausziehen. Entspannen Sie sich. Atmen Sie», sagt er. Ich fühle mich ertappt und lache. Bis jetzt habe ich die Luft angehalten.
Im Kokon der Stille
Kurz nach mir ist auch Steffi da – halb so gestresst, aber doppelt so müde wie ich. Mit sechs anderen Personen werden wir in den Dachstock geführt. Hier ziehen wir unsere Schuhe aus und treten in den etwa vier mal vier Meter grossen Teeraum (Isshin-an). Er ist mit massgeschneiderten Möbeln und Holzwänden sowie kunstvollen Schriftrollen aus Japan ausgestattet. Der Geruch von Zeder liegt in der Luft.
Durch das abgedunkelte Fenster fällt gedämpftes Licht. Davor stehen ein Teekocher, ein Krug und eine kleine Dose. Daneben geht Christoph Meier in die Knie. Auch wir setzen uns um ihn herum auf Kissen. Die meisten machen es sich im Schneidersitz bequem. Hartgesottene knien – vorerst.
Eine süsse Begrüssung
Es wird so still, dass ich nur noch meinen eigenen Herzschlag wahrnehme. Christoph Meier präsentiert eine Schachtel und erklärt, dass jede Teezeremonie mit einer zuckrigen Begrüssung beginnt.
Er geht mit Teesüssigkeiten umher und zeigt, wie man diese entgegennimmt:
- Mit der Person vor sich verneigen.
- Erneut verneigen, wenn die Leckerei einem selbst angeboten wird.
- Das Tablett aufheben und vor dem Zugreifen nochmals verneigen.
- Den Keks vor sich ablegen und das Tablett weitergeben.
Niemand rührt sich. Alle schauen gebannt auf die hauchzarte und filigran bemalte Süssigkeit, die verlockend vor ihnen liegt. Wären wir Hunde, würde unser Speichel auf den Boden tropfen.
Wir atmen, wir warten, wir halten durch. Bis Christoph Meier sagt, wir können zugreifen – einer nach dem anderen. Genüsslich lassen sich alle die Kekse auf den Zungen zergehen. Ein paar knackende Kaugeräusche hallen im stillen Raum wider. Eine Teenagerin kichert verlegen.
Ungeduld drängt sich auf
Christoph Meier reagiert nicht, seine Aufmerksamkeit gilt voll und ganz der Zeremonie. Mit einem Lächeln kniet er vor uns hin und informiert uns, dass er gleich den Raum verlassen werde. Er erhebt sich in seinem eng gewickelten Kimono, indem er gegen hinten über die Zehen rollt. Ich staune. Er verschwindet hinter einer Schiebetür.
Währenddessen rauscht es immer lauter im Teeraum. Zuerst denke ich an Abflussrohre, bis mir das Offensichtliche klar wird: Es ist der eiserne Wasserkessel (Kama). Christoph Meier kommt mit Tässchen auf einem Tablett zurück. Sie sind mit Kastanien verziert – dem Herbstsymbol. Er erklärt uns, dass der Teekocher in dieser Jahreszeit traditionellerweise näher als im Sommer bei den Gästen steht, damit seine Wärme zu ihnen abstrahlt.
Akribisch, aber behutsam schraubt er eine kleine, schwarze Dose auf. Den Deckel legt er bündig daneben ab, dann greift er zu einem Holzlöffel. Damit taucht er kerzengerade in die Dose und befördert ein grünes Pulver in die Tasse: Matchapulver. Anschliessend schraubt er die Dose zu und legt den Löffel im exakten rechten Winkel auf der Dose ab.
Einige Personen rutschen unruhig auf ihren Kissen herum. Wer bis jetzt gekniet hat, wechselt in den Schneidersitz. Ab und zu knackt ein eingerosteter Rücken. Christoph Meier öffnet den Wasserkocher. Mit einer hölzernen Schöpfkelle löffelt er heisses Wasser in die Teetasse. Die Kelle streicht er über den Rand des Wasserkochers, von links nach rechts, und klopft ihn ab, exakt vier Mal. Dann schöpft er kühles Wasser aus der Frischwasserkanne (Mizusashi) und trocknet die Tassenränder mit einem Teetuch (Fukusa) ab.
Wie wir erfahren, ist jede Bewegung eingeübt und folgt einem strikten Ablauf. Bei jeder Tasse folgt dasselbe Ritual. Christoph Meier greift zu einem Bambusbesen. Damit schäumt er das Matchapulver in der Teetasse auf. Es schabt, es raschelt und das Porzellan klingelt leise wie eine Klangschale. Der kreisende Besen verschwimmt langsam vor meinen Augen.
Routine ist töd…tröstlich
Die ersten drei Teeschalen sind bereit. Christoph Meier verteilt sie nacheinander und zeigt uns, wie sie gehalten werden: linke Hand unten, rechte am Rand. Dann kleine Schlucke nehmen. Die Ersten der Gruppe verneigen sich, greifen zu, verneigen sich nochmals, trinken. Der Zeremonienleiter holt die nächsten Tassen aus dem Nebenraum. Wir kennen den Ablauf bereits.
Niemand rutscht mehr auf seinem Kissen herum. Alle sitzen nur da und beobachten gebannt, wie Christoph Meier die Tassen verteilt. Leise Schlucklaute sind zu hören, sonst nichts. Auch die Teenagerin kichert nicht mehr.
Schritt für Schritt bereitet Christoph Meier die letzten drei Tassen zu. Als schliesslich auch eine vor mir steht, verneige ich mich, greife zu, verneige mich nochmals und führe die Schale zur Nase. Der typische Grünteegeruch erreicht meine Rezeptoren. Hätte ich ihn vorhin noch hinunterstürzen wollen wie den Keks, halte ich jetzt kurz inne. Heisst es doch so schön: «Zwischen Reiz und Reaktion liegt ein Raum. In diesem Raum liegt unsere Macht.» Dann nehme ich den ersten Schluck.
Nun ist auch Steffi an der Reihe.
Im Zen-Modus angekommen
Christoph Meier kniet noch ein letztes Mal vor uns hin. Er erklärt, wie wir die Servietten, auf denen zu Beginn die Teesüssigkeiten lagen, zusammenfalten und in unseren Ärmeln verstauen. Normalerweise nimmt nämlich jeder Gast seine eigene mit. Wir falten. Niemand kümmert sich mehr darum, ob er das perfekt macht. Alle ruhen in sich.
Nach 60 Minuten, die sich wie ein Wimpernschlag und zugleich unendlich anfühlen, tritt der Zeremonienleiter ans Fenster. Erst allmählich begreifen wir, dass die Teezeremonie zu Ende ist – unser Zeitgefühl hat sich aufgelöst. Christoph Meier schiebt die Verdunkelung zur Seite. Helles Licht strömt herein und öffnet den Blick auf eine prächtige Baumkrone. «Wow», haucht jemand. Es ist Zeit, uns wieder der Aussenwelt zu öffnen. Wir sind bereit.
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Ich mag alles, was vier Beine oder Wurzeln hat. Zwischen Buchseiten blicke ich in menschliche Abgründe – und an Berge äusserst ungern: Die verdecken nur die Aussicht aufs Meer. Frische Luft gibt's auch auf Leuchttürmen.