Ich gebe Geld aus, seit ich welches verdiene. Oft impulsiv und definitiv zu viel. Warum eigentlich? Darüber mache ich mir erst jetzt, mit 50, Gedanken. Und nehme Hilfe in Anspruch.
Wenn ich morgens meinen iMac starte, setze ich den Kopfhörer auf und schalte Musik an. Dann lese ich meine Mails und sehe auf Digitec nach, was die wunderbare Welt der Technologie Neues zu bieten hat. Konkret: was ich mir kaufen könnte. Zum Beispiel einen zweiten Kopfhörer.
Als Nächstes suche ich auf Bandcamp neue Musik. Ich habe schon ziemlich viel davon, über ein Terabyte, aber ich finde trotzdem immer weitere tolle Sachen. Auch Mode ist für mich ein endloses Betätigungsfeld für das, was man leider eine Sucht nennen muss.
Wobei «leider» nicht das richtige Wort ist. Ich bin froh, mir kürzlich eingestanden zu haben, dass ich mein Kaufverhalten nicht im Griff habe. Sondern umgekehrt. Dass das Gefühl, das ich beim Recherchieren, Bestellen und Auspacken der Ware empfinde, keine Freude ist, wie ich mir jahrelang weisgemacht habe, sondern ein Rausch. Und dass ich Entzugssymptome habe, wenn er ausbleibt.
Ich vereinbarte einen Termin bei der Zürcher Suchtfachstelle. Nach wenigen Minuten sagte die freundliche junge Beraterin: «Den grössten Schritt haben Sie schon getan, Herr Meyer – Sie sind hierhergekommen. Gratuliere.» Eine Szene wie im Film.
Die rote Linie zeigt immerhin eine Besserung: 2023 habe ich immer noch oft bestellt, aber in Summe nicht mehr ganz so viel Geld ausgegeben.
Nach meinem Leidensdruck gefragt, antwortete ich, der sei sehr hoch. Seit ich eigenes Geld verdiene, also seit rund dreissig Jahren, gebe ich es grosszügig aus, was immer wieder zu Engpässen und in der Folge zu erheblichem Stress führt. Die Suchtberaterin forderte mich auf, ein Ziel zu formulieren. «Ich will nur ein- bis zweimal pro Monat etwas kaufen», sagte ich. «Wie oft kaufen Sie denn aktuell etwas?», wollte sie wissen.
Ich wusste es gar nicht so genau. Nicht jeden Tag. Aber wohl jeden zweiten. Zumindest beschäftige ich mich definitiv täglich mit der Frage, was ich mir kaufen könnte, und das mehrere Stunden lang. Zwar gebe ich nicht wie früher sofort jedem Impuls nach, sondern arbeite mittlerweile mit Merklisten und versuche, vor jeder Anschaffung einmal darüber zu schlafen. In der Folge kaufe ich vieles nicht. Es bleibt aber immer noch eine Menge übrig.
Ich bekam ein Konsumtagebuch. Darin sollte ich notieren, wann ich etwas kaufe, was die äusseren Umstände sind, wie ich mich dabei fühle und wie hoch der sogenannte Konsumdruck ist. «Es ist noch viel schlimmer, als ich dachte!», vermeldete ich beim nächsten Besuch in der Suchtfachstelle entsetzt. «Das ist normal», sagte die Beraterin, «das geht allen so, die sich zum ersten Mal ihren Konsum richtig bewusst machen.»
Ich erzählte in meinem Umfeld, dass ich in der Suchtberatung bin. Erst fielen die Leute aus allen Wolken, weil sie mich als so ausgeglichen wahrnehmen (als hätte das etwas damit zu tun). Dann fanden die meisten: Zu viel kaufen? Machen doch alle!
Natürlich ist Shopping ein wesentlicher Bestandteil unserer Kultur. Wir werden permanent dazu animiert; Werbung begleitet uns auf jedem Schritt. Auch Digitec Galaxus hat jeden Tag ein vergünstigtes Angebot und immer wieder Marken- oder Rubrik-Aktionen. Das kapitalistische System ist darauf ausgelegt, dass wir ständig Geld ausgeben, und präsentiert uns diesen Vorgang entweder als kluge Tat (durch Sparen) oder als selbstliebende (durch Belohnen).
Dark Patterns sind Tricks im Design von Webseiten oder Apps, die uns dazu bringen sollen, Dinge zu tun, die wir eigentlich gar nicht wollen. Sie nutzen unsere Angst davor, etwas zu verpassen (genannt FOMO, Fear of missing out), nutzen unsere Unaufmerksamkeit aus oder verwirren uns absichtlich. Oft wollen sie uns zu Käufen verleiten, unnötige Abos abschliessen lassen oder unsere Daten abgreifen. Deshalb ist der Einsatz von Dark Patterns auch sehr umstritten, unter anderem beim Konsumentenschutz. Gerade im Onlinehandel treffen wir Dark Patterns besonders häufig an, wie auch eine Recherche der Schweizer NGO Public Eye zeigt. Dort tragen sie dazu bei, dass wir mehr kaufen, als wir eigentlich brauchen.
Ja, wir shoppen alle zu viel. Das hilft mir aber nicht. Es dient höchstens als Rechtfertigung, und davon habe ich schon genug. Die Wichtigste ist, dass ich etwas Bestimmtes dringend «brauche». Blöderweise stimmt das sogar oft. Wenn du etwas im Wohnzimmer umstellst und ein längeres Ethernetkabel benötigst, ist das keine Ausrede, sondern ein tatsächlicher Bedarf (es sei denn, du hast das Wohnzimmer umgestellt, um ein neues Kabel zu kaufen).
Vieles «brauche» ich natürlich nicht. Zum Beispiel das dreissigste Hemd. Aber es passt halt so gut zu meiner Lieblingshose. Der stilvolle Auftritt ist immer ein starkes Argument. Man könnte ihn zwar problemlos mit den viel zu vielen Sachen bewerkstelligen, die bereits im Schrank hängen, aber die sind «alt» und somit nicht mehr «gut genug». Deswegen «brauche» ich das neue Hemd: um modischer zu sein als je zuvor. Mit der Musik ist es genau das Gleiche: Das neue Album drückt mein Lebensgefühl noch besser aus als das vorgestern gekaufte.
(Mein Problem könnte erheblich verschärft werden dadurch, dass ich 15 Jahre lang als Werbetexter gearbeitet habe.)
Ich «brauche» keine weiteren Kleider und keine weitere Musik, und ungelesene Bücher habe ich ebenfalls genug. Was ich, wie ich durch die Suchtberatung herausfinde, tatsächlich brauche, ist ein Anlass, mich nicht mit meinen Emotionen auseinandersetzen zu müssen. Und davon habe ich einige. Die Ungewissheit des selbstständigen Erwerbslebens, allerlei private Herausforderungen, Krieg in Nahost, Krieg in der Ukraine, die Erosion von Demokratie und Mittelstand, Atomkriegsdrohung und die immer offensichtlichere Tatsache, dass uns eine klimatisch katastrophale Zukunft sowie eine zweite Trump-Amtszeit bevorstehen, helfen mir nicht, ruhig zu schlafen. Mich beschäftigen diese Dinge. Sie machen mich traurig, wütend und hilflos. Jeden Tag.
Ich behaupte jetzt mal, dass es für uns alle Dinge gibt, die uns jeden Tag traurig, wütend und hilflos machen. Und dass sich selbst verschaukelt, wer das Gegenteil behauptet. Die Frage ist: Wie gehen wir damit um?
Grundsätzlich spielt es keine Rolle, ob du zu viel kaufst, trinkst, rauchst, kiffst, kokst, datest, arbeitest, Sex hast, Sport machst, putzt, isst, hungerst, mit Sozialen Medien Zeit totschlägst, generell immer am Handy hängst oder dich mit fremden Problemen beschäftigst: Es sind alles effektive Methoden, um deine Emotionen zu regulieren. Sie aktivieren dein Belohnungszentrum, schütten also Dopamin aus und lenken dich von dir ab. Mitunter den halben Tag.
Die Sucht ist dazu da, dir keine Gelegenheit zu lassen, dich mit dir selbst auseinanderzusetzen.
Ein schockierender Plan
Mit der Fachfrau von der Suchtfachstelle vereinbare ich einen Plan. «Legen Sie etwas Realistisches fest», sagt sie. Ich überlege und beschliesse: «Ich kaufe nur jeden zweiten Tag etwas.» Ich bin ziemlich schockiert, dass ich mir nicht mehr Verzicht zutraue. Aber ich soll ja realistisch sein.
Es klappt. Wenn auch mit Mühe. Ich habe jeden Tag den Impuls, etwas zu bestellen, und das mehr als einmal. Und der Impuls ist überhaupt nicht glücklich darüber, dass ich ihm bewusst widerstehe.
Als ich meiner Beraterin bei der nächsten Sitzung verkünden kann, mein Ziel erreicht zu haben, platze ich fast vor Stolz. Das jahrelange Gefühl von Ohnmacht gegenüber dem eigenen Verhalten ist ein gutes Stück schwächer geworden. Ich nehme mir als Nächstes vor, jeweils zwei Tage lang Konsumpause zu machen.
Auch das gelingt. Ebenso die Pause von drei Tagen. Dann werde ich zu übermütig und vereinbare mit mir, nur noch einmal pro Woche etwas zu kaufen. In der zweiten Woche muss ich den auf Samstag gelegten Shopping-Tag jedoch auf Donnerstag vorziehen. Ich kann nichts dafür – schuld ist der Mensch, der auf Digitec eine Drohne zurückgegeben hat, die nun vergünstigt im Wiederkauf steht.
(Ja, ich habe schon eine Drohne, mit schwächerem Sensor, weswegen ich eine bessere «brauche». Darum «muss» ich den Tag vorziehen. Aber schuld bin natürlich ich. Ich hielt den günstigen Preis für einen ausreichend guten Grund. Was er ja tatsächlich ist!)
Ich kaufe viel weniger, was sich auf meinem Konto deutlich bemerkbar macht. Allerdings verbringe ich die konsumfreien Tage oft mit Recherche und die Konsumtage erst recht. Ich durchforste das Netz, bevor ich etwas kaufe, und mache hinterher weiter damit. Ich könnte ja das Falsche gekauft haben! Was ein guter Grund wäre, das Richtige zu kaufen. Oder es könnte zwischenzeitlich etwas Besseres zu kaufen geben. Es hört nicht auf.
«Nein, liebe Sucht!»
Meine Sucht ist ein eloquenter Teufel. Ständig redet sie mir ein, ich müsse meine Gefühle von Stress und Ohnmacht gar nicht erdulden. Es seien überflüssige Gefühle, jederzeit abzustellen durch einen Besuch bei Digitec, Galaxus, Bandcamp und AliExpress (ja, sie sagt «und», nicht «oder»).
Früher habe ich diese Stimme gar nicht wahrgenommen, so hörig war ich ihr. Mittlerweile kann ich ihr sogar widersprechen: «Nein, ich kaufe mir jetzt nichts. Ich würde zwar gern und wüsste auch, was, aber es wäre nur Ablenkung. Darum beschäftige ich mich lieber mit meinem aktuellen Gefühlsdruck und der Frage, was ich sonst noch gegen ihn unternehmen könnte.»
Da gibt es durchaus Methoden. Die einfachste besteht darin, gar nichts zu tun. Dann bin ich eben kurz verärgert. Oder traurig. Oder auch länger als kurz. Man kann das alles so stehenlassen, es braucht keine Handlungsreaktion. Die Gefühle, denen ich ständig ausweiche, sind nicht weiter schlimm. Es scheint einfach eine grundsätzliche Entscheidung zu geben, sie nicht fühlen zu wollen.
Es wäre gut, die Shops würden einen bremsen!
«Hallo, Herr Meyer, hier Florian Teuteberg, CEO von Digitec Galaxus. Wir haben gesehen, dass Sie ein bisschen gar oft bei uns eingekauft haben – geht es Ihnen gut?» Dieser Anruf kam natürlich nie. Mich hat niemand gebremst. Solange man die Rechnungen bezahlt, kann man immer weiter bestellen.
Bei Swisslos gibt es einen sogenannten Spielerschutz mit obligatorischen und freiwilligen Limiten. Ich finde das gut und denke, auch Onlineshops sollten sowas anbieten. Der Kunde sollte die technische Möglichkeit haben, sich selbst Limiten zu setzen.
Mir tut es leid um das viele Geld. Ich stünde heute finanziell wesentlich besser da ohne dieses Problem. Ich hätte auch mehr Selbstachtung. Es ist nicht geil, sich einzugestehen, dass man ein Suchtproblem hat. Aber das ist tatsächlich der erste und wichtigste Schritt, um es zu überwinden.
Der Weg ist noch lang. Während der Erstellung dieses Textes hatte ich einen teuren Rückfall. Ich hatte mir wieder mal einen Bedarf zurechtgezimmert, in bester Textermanier, und bin voller Geilheit, anders kann man es nicht nennen, in die Recherche-Bubble eingetaucht.
Anders als früher machte die Suche aber keinen Spass, sondern sie stresste mich. Und der Kauf erzeugte keinen Rausch, sondern Scham. Weil er an einem Nicht-Konsum-Tag stattfand. Und überhaupt. Und die Nutzung des Gadgets machte null Freude.
Das sind, wie meine Beraterin bestätigte, alles sehr gute Zeichen.
Umfrage
Kaufst du auch zu viel? Bist du auch süchtig?
Nein. Ich bin im Gegenteil geradezu knauserig und vergleiche ewig, bis ich mich schliesslich durchringe, etwas zu kaufen. Es gefällt mir, wenig zu besitzen.
13%
Nein. Ich kaufe, was ich brauche, und benutze es, solange es hält. Es ist kein Thema.
31%
Vielleicht. Ich kaufe mehrmals pro Monat etwas Neues zum Anziehen oder ein Gadget.
38%
Ja. Ich bin jeden Tag hier auf Digitec Galaxus und anderen Onlineshops und bestelle mehrmals pro Woche etwas. Aber ich benutze es auch.
15%
Definitiv. Ich kaufe mehr, als ich mir leisten kann, lebe über meinen Verhältnissen und benutze vieles nicht, was ich bestelle. Manche Pakete öffne ich nicht mal.
Der Schriftsteller Thomas Meyer wurde 1974 in Zürich geboren. Er arbeitete als Werbetexter, bis 2012 sein erster Roman «Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse» erschien. Er ist Vater eines Sohnes und hat dadurch immer eine prima Ausrede, um Lego zu kaufen. Mehr von ihm: www.thomasmeyer.ch.