Historischer Spaziergang: Zürich damals und heute
Wie hiess eigentlich die Bahnhofstrasse, bevor es Eisenbahnen und damit Bahnhöfe gab? Und wo sind die Schanzen des Schanzengrabens hingekommen? Begleite mich auf einem historischen Spaziergang durch die Stadt Zürich!
Städte verändern sich stetig und erzeugen eine immer vielfältigere Mixtur von Bauten und entsprechenden Stilen. Zürich ist in dieser Hinsicht – wie auch Bern, Basel, St. Gallen, Luzern und andere grössere alte Schweizer Städte – ein besonders eindrückliches Beispiel: Auf engstem Raum schmiegen sich ultramoderne neue Stadtteile wie die Europaallee, fürchterliche Bausünden aus den technokratischen 1970er-Jahren und putzige Arbeitersiedlungen aus den 1950ern aneinander, rund um eine guterhaltene mittelalterlich-neuzeitliche Altstadt.
Wie dramatisch Städte sich verwandeln, lässt sich anhand historischer Aufnahmen beziehungsweise Zeichnungen und Gemälde erkennen – vor allem in der direkten Gegenüberstellung. Ich bin immer ganz elektrisiert, wenn ich den Gang der Zeit so deutlich vor mir sehe.
Um das mit dir zu teilen, bin ich durch Zürich spaziert und habe exakt dort, wo einige dieser historischen Bilder entstanden sind, mit meiner neuen Fujifilm X-S10 und dem tollen Fujinon 16 mm F/1.4 Fotos aus derselben Perspektive gemacht.
Die Bahnhofstrasse
1847 erhielt Zürich einen Bahnhof. Er stand auf einem Gelände mehrere hundert Meter vor der Stadt, wo bis dahin die Zürcher «Cantonaltruppen» ihre Schiessübungen veranstaltet hatten. Zwar gab es bald eine Strasse von der Stadtgrenze zum Bahnhof, eben die Bahnhofstrasse, aber sie sollte noch lange nicht asphaltiert werden – und endete beim Rennweg. Dort, wo sie heute weiter verläuft, bis zum See, lag damals der Fröschengraben; ein stinkender seichter Wallgraben aus dem Mittelalter. Die dazugehörigen, bis zu elf Meter hohen Mauern mit den vielen Wachtürmen standen damals bereits nicht mehr.
Zwischen 1864 und 1867 wurde der Fröschengraben zugeschüttet. Zahlreiche Zürcher*innen nutzten diese Gelegenheit, um ihren Unrat zu entsorgen. Mit anderen Worten: Wenn du heute die Bahnhofstrasse entlangspazierst, gehst du mit grosser Wahrscheinlichkeit über diverse kaputte Kommoden.
Das Rennweg-Bollwerk
Zürich hatte drei Stadtbefestigungen: eine aus dem 11. und 12. Jahrhundert um den Kern der heutigen Altstadt herum, eine grösser gefasste aus dem 13. Jahrhundert und eine gigantische dritte, die ab 1642 erbaut wurde, Zürich finanziell fast ruinierte und bei ihrer Fertigstellung über hundert Jahre später militärisch bereits wertlos geworden war. Weil sie ausserdem den Handelsverkehr und das weitere Wachstum hemmte, beschloss man 1833 die Schleifung, wie man den Abbruch – friedlich oder kriegerisch – von Bauten nennt.
Das Rennwegtor war Teil der zweiten Stadtbefestigung und wurde 1521-1524 durch ein fettes, dem Kastell von Mailand nachempfundenes Bollwerk ergänzt. Der gesamte Bau wurde 1865 demoliert, übriggeblieben ist nur die Turmglocke. Sie ist im Baugeschichtlichen Archiv der Stadt Zürich zu besichtigen.
Die Katz-Bastion
Die Katz-Bastion wurde von 1648 bis 1675 errichtet, unter dem schockierten Eindruck des Dreissigjährigen Krieges. Viele grosse europäische Städte verbarrikadierten sich danach hinter komplexen Wehranlagen mit riesigen Aufschüttungen – eben «Schanzen» – und Wassergräben. Zürich hatte auf dem Höhepunkt seiner Festungskarriere 15 solcher Bauten, die Katz-Bastion war die grösste. Sie verfügte über zwei unterirdische Gewölbe, sogenannte Kasematten, aus deren – heute noch ersichtlichen – Schiessscharten heraus man die auf der Bastion positionierten Geschütze verteidigen konnte, die sogenannten «Katzen». Sie ist nebst dem «Bauschänzli» das einzige integral erhaltene Bauwerk der Stadtbefestigung. 1835 wurde sie zu einem botanischen Garten umgestaltet.
Der sternförmige Verlauf des Grabens vor den einst gewaltig aufragenden Schanzen zeigt gut deren einstige Position und Anordnung. Heute ist hier, am ehemals schwer befestigten Stadtrand, ein Männerbad. Vom Wachturm an der darüberliegenden Ecke der Bastion, der «Laterne», ist das Fundament noch ersichtlich, wie das nächste Bild zeigt.
Das Gedeckte Brüggli
Wir beenden unseren Spaziergang, indem wir zum Hauptbahnhof zurückkehren, genauer gesagt zum sogenannten Globus-Provisorium. Es steht auf einer Insel in der Limmat, an der einst ein kurzer Nebenarm des Flusses vorbeiführte. Über diesem stand eine 17,5 Meter lange Holzbrücke, die 1689 erstellt und 1950 abgetragen wurde, was unter der Bevölkerung, die das Brüggli sehr liebte, heftige Empörung auslöste.
Daraufhin wurde der Nebenarm gestaut, trockengelegt und asphaltiert, ebenso wurde die Bahnhofbrücke neu gebaut. Aus der Limmat-Insel wurde damit eine Halbinsel. Bis dahin nannten die Zürcher*innen sie übrigens «Papierwerd», wegen der Papiermühle, die jahrhundertelang auf dieser «Werd», also Flussinsel, gestanden hatte. 1882 wurde hier ein Geschäftshaus eröffnet, der «Bazar ohne Grenzen» – aus diesem wurde später das Warenhaus Globus. Auch dieses wurde 1950 abgebrochen.
Ein Neubau an der alten Stelle wurde 1951 per Volksabstimmung verworfen, weswegen ein Provisorium errichtet wurde, damit das Warenhaus den Betrieb aufrechterhalten und am heutigen Standort ein Gebäude errichten konnte. 1967 verliess Globus das Provisorium, 1969 zog Coop hier ein – und blieb. Die Stadt verlängert den Vertrag immer wieder, was das Wort «Provisorium» immer mehr zum Hohn macht, anstatt dieses Unding endlich zu schleifen und damit Platz zu machen für etwas Schönes und Sinnvolles.
Willst du mehr wissen?
Hat dir dieser historische Spaziergang gefallen? Möchtest du noch mehr alte Aufnahmen sehen? In der Zwischenzeit empfehle ich dir die Website «Das alte Zürich» und natürlich einen Besuch des Baugeschichtlichen Archivs am Neumarkt 1. Hier gibt es ein tolles Modell der Stadt Zürich, das deren Zustand im Jahr 1800 zeigt. Im Weiteren leiht man dir im Stadthaus den Schlüssel für das Gewölbe auf dem Lindenhof, wo du Fundamentteile aller historischen Bauten (da war mal ein römisches Kastell!) besichtigen kannst. Es gibt viel zu entdecken!
Zum Abschluss und als Zusammenfassung noch eine Zeichnung von 1772. Sie zeigt links den Hirschengraben, in dem einst tatsächlich Hirsche ästen, vorn das Paradies-Bollwerk, wo heute die Hotel Central steht, im Fluss die Papierwerd, daneben das Gedeckte Brüggli mit dem Oetenbach-Bollwerk, rechts die Schanzen und davor das militärische Übungsgelände, auf dem heute der Bahnhof steht, und darüber das Rennweg-Bollwerk. Die Türme des Grossmünsters haben übrigens noch keine Kuppeln. Ist das nicht alles höchst faszinierend?
Der Schriftsteller Thomas Meyer wurde 1974 in Zürich geboren. Er arbeitete als Werbetexter, bis 2012 sein erster Roman «Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse» erschien. Er ist Vater eines Sohnes und hat dadurch immer eine prima Ausrede, um Lego zu kaufen. Mehr von ihm: www.thomasmeyer.ch.