Frauen erwähnen statt mitmeinen: Ich ändere meine Sprache
Ich bin 1974 geboren – drei Jahre, nachdem in der Schweiz das Frauenstimmrecht eingeführt worden war. Also in keiner sonderlich progressiven Epoche. So sehr war ich Kind meiner Zeit, dass ich feministische Linguistik bis vor wenigen Jahren nur belächelte. Mittlerweile sehe ich ein, wie arrogant das war – und wie wenig es einen kostet, sich eine andere Sprache anzugewöhnen.
Liebe Leser!
So hätte ich es früher geschrieben, so wie der Sprecher der deutschen Tagesschau während vieler Jahre sagte: «Guten Abend, verehrte Zuschauer.» Ich hielt das generische Maskulinum, also die verallgemeinernde männliche Form, stets für ausreichend. Und die Reklamationen von Frauen, sie würden durch diese Schreibweise nicht «mitgemeint», für unnötig aufgeregt und obendrein unbegründet – sie waren ja mitgemeint.
Der Denkfehler, den ich damals beging und nicht einsehen wollte, bestand darin, dass ich für andere Menschen zwei grundsätzliche Dinge bestimmte: Erstens, wie über sie gesprochen wird – beziehungsweise eben nicht –, und zweitens, wie sie dabei zu empfinden hatten – beziehungsweise eben nicht. Das war ausgesprochen anmassend von mir.
Wohlgemerkt hatte ich damals längst ausreichend eigene Erfahrung mit Diskriminierung gesammelt. Ich habe eine jüdische Mutter, bin also selber jüdisch, und muss mir seit Jahrzehnten die gleichen idiotischen Sprüche anhören: über meine angeblich markante Nase (tatsächlich ist sie schmal und klein), über meine angeborene Geschäftstüchtigkeit (nach der ich bis heute suche), darüber, dass ich ein «schlechter Jude» sei (weil ich das gemeinsame Mittagessen bezahlt habe – sowas machen Juden offenbar nicht).
Wehrte ich mich gegen diese Bemerkungen, liess man mich wissen, ich sei überempfindlich, humorlos oder anstrengend, vermutlich alles zusammen. Niemand liess meine Ansicht je gelten, niemand bat je um Verzeihung. Ich hätte also wissen müssen, wie es sich anfühlt, wenn man mit einer Sprache konfrontiert wird, die einen erniedrigt. Aber offenbar genügte das nicht, um meine eigene diskriminierende Wortwahl zu verändern.
Regeln sind Regeln, fand ich
Meine Arbeit, erst als Werbetexter, dann als Autor, half diesbezüglich auch nicht. Ich war und bin ein Grammatikpedant. Über fehlende Kommata kann ich noch knapp hinwegsehen, aber wenn jemand, dessen Muttersprache Deutsch ist, «dass» mit einem S schreibt oder «Ich wünsche dir ein schöner Tag», ärgert mich das. Ich empfinde es als nachlässig und lieblos. Entsprechend unflexibel stand ich der vor ungefähr 20 Jahren aufgekommenen Idee gegenüber, nicht mehr «Mitarbeiter» zu sagen, sondern «Mitarbeitende». Das Partizip Präsens drückt eine momentane Tätigkeit aus, und ich sah nicht ein, wieso man es zusätzlich für einen geschlechtsneutralen Plural einsetzen sollte. Formen wie «LeserInnen» bzw. «Leser_innen» und «Leser*innen» fand ich erst recht unmöglich. Ein Grossbuchstabe bzw. ein gänzlich fremdes Zeichen inmitten eines Wortes? War denn gar nichts mehr heilig?
schwo
Die Versuche, Frauen sprachlich sichtbar zu machen, überzeugten mich alle nicht. Und wenn ich ehrlich bin: die zugrundeliegende Idee auch nicht. Regeln sind Regeln, fand ich, und wenn die Regeln besagen, dass eine Gruppe aus neunundneunzig Leserinnen und einem Leser als «hundert Leser» bezeichnet wird, dann ist das eben so, damit müssen die neunundneunzig Leserinnen leben. War schon bei den Römern so.
Ist natürlich leicht gesagt, als Mann.
Dann kamen Donald Trump, Harvey Weinstein und #metoo und eine intensive Diskussion über die Frage, warum unsere Gesellschaft Frauen nicht genügend Respekt entgegenbringt. Neu war die Debatte nicht, aber sie wurde so engagiert geführt, dass ich mich fragen musste: Habe auch ich Sexismus in mir? Wohnt auch in mir ein kleiner Trump?
Lange überlegen musste ich nicht. Wenn einer über Jahre hinweg Frauen den Wunsch abschlägt, sprachlich sichtbar gemacht zu werden, und über ihre Vorschläge nur lachen kann, ist das sexistisch.
Ich überlegte mir, was ich tun könnte, um meine offenbar antiquierte und diskriminierende Sprache zu modernisieren. Niemals, schwor ich mir, würde ich in einem meiner Bücher «Leser*innen» schreiben. Dort will ich perfektes Deutsch haben. Aber vielleicht könnte ich überall sonst zwar nicht ganz regelkonformes, aber dafür neutrales Deutsch schreiben? In Mails, Kolumnen und Texten wie diesem? Das war ein akzeptabler Kompromiss für mich. Und in Büchern würde ich mich einfach erklären. Schliesslich werden sie auch von Frauen gekauft.
Ich merkte, dass es überhaupt nicht schlimm ist, «Schweizer*innen» zu schreiben. Oder, wenn ich etwas erzähle, von meinen «Freundinnen und Freunden» zu sprechen. Es ist zugegebenermassen etwas umständlicher. Aber was für mich einen kleinen zusätzlichen Aufwand bedeutet, beim Denken, Reden und Schreiben, bedeutet für die Hälfte der Menschheit, von mir gesehen, gehört und geachtet zu werden. Zudem kann es andere inspirieren. Gerade durch den schreibenden Beruf.
Vor allem aber wurde mir bewusst, dass nicht ich zu bestimmen habe, wie über andere Menschen gesprochen werden soll, sondern diese selbst. Wenn eine Gruppe von Menschen sich wünscht, dass ich sie LGBTIQA nenne, nenne ich sie LGBTIQA, auch wenn ich mir eben erst angewöhnt habe, LGBT zu sagen. Genau so, wie ich mir wünsche, dass man in meiner Gegenwart keine antisemitischen Witzchen macht, auch wenn man sie selber saumässig lustig findet – ich finde sie nicht lustig. Sowenig Frauen es nicht lustig finden, wenn man sie «Emanzen» nennt, weil sie nicht «Leser» genannt werden möchten.
Meine Sprache hat sich auch sonst verändert. Oder besser: Mein Umgang mit der Sprache anderer Menschen. Spricht jemand von «Tunten» oder «Transen», weise ich diese Person mittlerweile offen zurecht. Nennt jemand etwas «schwul», im Sinne von «unmännlich» oder gar «dumm», bitte ich ihn ebenso, mal darüber nachzudenken, was er da genau von sich gibt. Wie auch, wenn jemand «schizophren» sagt, aber eigentlich «widersprüchlich» meint – Schizophrenie ist eine schwere psychische Krankheit und soll nicht auf diese Weise verharmlost werden.
Ich finde, wir müssen sprachlich besser miteinander umgehen. Sorgfältiger. Mitfühlender. Auch wenn wir nichts davon haben, sondern sogar Mehraufwand betreiben müssen. Andere haben aber etwas davon, nämlich Respekt. Darum finde ich es nicht seltsam, wenn Galaxus von «Kund*innen» spricht, sondern richtig und anständig. Die Hälfte der Leute, die hier einkaufen, sind nun einmal keine «Kunden».
Der Schriftsteller Thomas Meyer wurde 1974 in Zürich geboren. Er arbeitete als Werbetexter, bis 2012 sein erster Roman «Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse» erschien. Er ist Vater eines Sohnes und hat dadurch immer eine prima Ausrede, um Lego zu kaufen. Mehr von ihm: www.thomasmeyer.ch.