Erledigt und abgehakt – Warum es gut ist, Dinge zu vergessen
Begonnen, erledigt, vergessen. Ein normaler Aufgaben-Zyklus. Praktisch, dass unser Gehirn dabei mitspielt. Der Zeigarnik-Effekt erklärt, wie das funktioniert.
«Sich Dinge zu merken, kann man gut lernen, da gibt es verschiedene Techniken, aber vergessen ist nicht so einfach». So oder so ähnlich hat es mir Prof. Dr. Erb, Sozialpsychologe an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg in unserem Gespräch erklärt.
Denn was ich von ihm wissen will, hat mit unserem Gedächtnis zu tun. Genauer: dem sogenannten Zeigarnik-Effekt. Und der hat mit dem Vergessen von Dingen zu tun, sobald sie erledigt sind.
Der Zeigarnik-Effekt entlastet das Gehirn
Der Geschichte nach entdeckte die russische Psychologin Bljuma Zeigarnik den Effekt 1927 – und zwar bei einem Kellner in einem Berliner Kaffeehaus. Der konnte sich Dinge sehr gut merken, solange sie noch unerledigt waren. Denn sobald die Bestellung ausgeliefert war, schien sein Gehirn die genauen Speisen und Getränke, die an die jeweiligen Tische zu servieren waren, wie von Geisterhand aus dem Gedächtnis zu löschen.
Die Schülerin des damals schon berühmten Psychologen Kurt Lewin, Mitbegründer der Feldtheorie, wiederholte ihre Beobachtungen anhand weiterer Experimente und stellte eine Regel fest: Ist eine Aufgabe noch nicht abgeschlossen, merken wir sie uns besser, als wenn sie bereits erledigt ist.
Praktisch, denn auf diese Weise bleiben wir am Ball, solange er in der Luft ist. Dieses Phänomen machen sich beispielsweise auch Medienunternehmen zum Vorteil. Der Zeigarnik-Effekt ist hier besser bekannt als Cliffhanger-Effekt: Fernsehserien halten unsere Neugier aufrecht, indem Handlungen erst in einer neuen Episoden weitergeführt und beendet werden. Fortsetzung folgt! Nur, wie lange kann man sich gedulden bzw. wie lange hält der Effekt an?
Gedächtnis: Begrenzte Aufnahmefähigkeit ist normal
Zuerst einmal: Das menschliche Erinnerungsvermögen lässt sich vereinfacht gesagt in zwei Systeme unterteilen: in das Kurzzeit- und das Langzeitgedächtnis. «Das Kurzzeitgedächtnis hat eine Haltedauer von einigen Sekunden bis hin zu einigen Minuten – bei Schachspielern womöglich auch länger», sagt Professor Erb.
Die Informationsmenge, die das Kurzzeitgedächtnis generell aufnehmen kann, wird in der Wissenschaft in sogenannten Chunks – also Informationseinheiten – verstanden. Die auf den US-amerikanischen Psychologen George A. Miller zurückgehende Faustregel lautet: Der Mensch kann nicht mehr als 7 +/- 2 Informationseinheiten gleichzeitig verarbeiten und im Kurzzeitgedächtnis behalten.
Anders dagegen das Langzeitgedächtnis. Hier werden Informationen lange abgespeichert und können auch nach Jahren wieder hervorgeholt werden. Grundsätzlich lautet der Ablauf stets wie folgt: Eine begonnene Aufgabe aktiviert das Gehirn und sorgt für Spannung zwischen den Neuronen. Wird diese Spannung nicht umgehend abgebaut – zum Beispiel, weil sie erledigt ist – tritt das Langzeitgedächtnis an die Stelle und merkt sich das noch offene Projekt.
Diesen Transfer können demente Menschen nicht mehr leisten: Sie vergessen, was gerade eben war – es wandert keine Information aus dem Kurzzeitgedächtnis mehr ins Langzeitgedächtnis. Es folgt also keine weitere Verarbeitung des Erlebten, weshalb es verschwindet.
Der Weg vom Kurzzeitgedächtnis ins Langzeitgedächtnis
Zurück zum Zeigarnik-Effekt: Dieser findet im Langzeitgedächtnis statt – aber nur kurzfristig. Experte Erb erklärt: Der Kellner aus dem obigen Beispiel merkt sich nicht nur die Bestellung, sondern verknüpft sie mit den Personen und dem Tisch, an dem sie aufgegeben wurde. Dadurch wandert die Information vom Kurzzeitgedächtnis kurzfristig ins Langzeitgedächtnis – und kann von dort wieder abgerufen werden.
«Wenn wir beim Kellner bleiben, so zeigt sich: Die Information, zum Beispiel Tisch 7, zwei Bier und eine Bockwurst, landet sozusagen kurzzeitig im Langzeitgedächtnis und wenn er dann ausgeliefert hat, wird sie überschrieben. Das Gehirn braucht diese Information nicht mehr und löscht sie», sagt Prof. Erb.
Vom Vergessen und Merken lernen
Aber was heißt eigentlich «löschen», wenn es ums Gedächtnis geht? Fraglich ist tatsächlich – und darüber ist man sich in wissenschaftlichen Kreisen bisher uneins – ob der Mensch überhaupt in der Lage ist, etwas ganz zu vergessen. Mittels Hypnose kann man auch alte, also weit zurückliegende, Gedächtnisinhalte wieder hervorholen, sagt der Sozialpsychologe: «Da gibt es verschiedene Tricks, mit denen man Gedächtnisinhalte noch einmal aufrufen kann. Vielleicht den Kontext herstellen – also wenn ich wieder genau in der Situation bin und mich auch so fühle, kann es durchaus sein, dass man Gedächtnisinhalte wiederfindet.»
Bekannt sind unter anderem sogenannte Memotechniken, wie etwa Reime und Merksätze, Mindmaps oder Geschichten, die du dir als Merkhilfe einfallen lassen kannst, um Inhalte aus dem Gedächtnis zu kramen.
Lass dir helfen: Den Zeigarnik-Effekt bewusst nutzen
Das Spannende am Zeigarnik-Effekts ist nun: Wenn du dir über seine Wirkung bewusst bist, kannst du ihn auch aktiv einsetzen. Denn einerseits kann der Effekt natürlich dazu führen, dass du unvollendete Aufgaben und Projekte aus Job, Ausbildung oder der Uni mit nach Hause nimmst, wo sie dich weiter beschäftigen und dir womöglich Schlaf und Nerven rauben.
Bewusst eingesetzt, kannst du andererseits den Zeigarnik-Effekts für dich nutzen:
Lass Projekte, deren Lösung dir bisher nicht gelang oder mit der du noch nicht zufrieden bist, absichtlich liegen, um sie zu einem späteren Zeitpunkt zu behandeln. Hier greift dann der sogenannte Inkubationseffekt, sagt Erb:
«Ich nutze den Effekt bewusst und sage mir: Ja, das lege ich jetzt weg, mir fällt nichts ein – macht aber nichts. Mal sehen, wie es morgen oder übermorgen aussieht.» Die Idee dahinter: Lösungen dürfen, wenn Zeit ist, auch spontan über uns kommen. Man gibt dem Gehirn sozusagen eine Pause und verlässt sich getreu dem Zeigarnik-Effekt darauf, dass man die Aufgaben nicht vergisst, weil sie ja noch nicht abgeschlossen sind. Und das funktioniert mitunter sehr gut: Bei dem immer noch nicht zu Ende geschriebenen Paper für die Uni genauso wie mit den Ideen für das nächste Weihnachtsgeschenk.
Titelfoto: shutterstockNotizbuch, Kamera, Laptop oder Smartphone. Leben heißt für mich festhalten – analog oder digital. Immer mit dabei: mein iPod Shuffle. Die Mischung macht’s eben. Das spiegelt sich auch in den Themen wider, über die ich schreibe.