Einfach nur schön: Welchen Sinn hat der weibliche Orgasmus?
Wenn Männer kommen, kann ein Kind entstehen. Wenn Frauen kommen, entsteht nichts weiter als Freudenfunken. Wieso ist das so?
Etwas überspitzt könnte man sagen: Gäbe es keinen männlichen Orgasmus, gäbe es keine Fortpflanzung. Denn: Ohne Ejakulat keine Kinder (Ja klar, ohne viele andere Dinge auch nicht, aber hier geht’s ja um den Orgasmus). Eine beachtliche Leistung der Männer in nur durchschnittlich 10 explosiven Sekunden.
Beim Orgasmus der Frau ist das anders. Ihn braucht es nicht, um Kinder zu zeugen und er trägt auch sonst nichts zur reproduktiven Leistung zweier Menschen bei. Er macht einfach nur Spaß. Und so verfolgt auch das primäre Sexualorgan der Frau – die Klitoris – keine höheren Ziele als einzig und allein die Lust.
Warum Frauen dann überhaupt einen Orgasmus haben, gibt der Wissenschaft bis heute Rätsel auf: Warum brauchen Männer einen Orgasmus, um sich fortzupflanzen und Frauen nicht? Welche Funktion hat das weibliche Vergnügen in der Reproduktion? Kurzum: Warum kommen Frauen? Neuste Forschungen könnten Aufschluss geben.
Orgasmus-Theorien zwischen Schall und Rauch
Theorien zum weiblichen Orgasmus überschlagen sich im Grunde bereits seit Aristoteles. Schon er stellte mit «Scharfsinn» fest: «Das Weibchen ist wie ein verkrüppeltes Männchen.» Seine These begründet der Gelehrte auf der simplen Annahme: Ejakulat schlägt Scheidensekret – und sonst habe die Frau zur Reproduktion ohnehin nichts beizutragen.
Auch der Vater der Psychoanalyse und Frauenflüsterer Sigmund Freud hat am weiblichen Orgasmus kein gutes Haar gelassen: Er diskreditierte den klitoralen Orgasmus als infantile Spielerei für kleine Mädchen und erfand so das Luftschloss «vaginaler Orgasmus».
Heute weiß man längst: Jeder Orgasmus ist klitoral, da auch bei der Penetration die innenliegenden Klitorisschenkel durch die Vaginalwand stimuliert werden. Apropos Penetration: Durch sie alleine erreicht nicht mal ein Viertel aller Frauen weltweit ihren Höhepunkt.
Selbst wenn man sich heute von Freuds und Aristoteles' Überlegungen distanziert hat, gibt der weibliche Orgasmus und sein reproduktiver Nutzen Forschenden nach wie vor zu denken.
Sein Ursprung wurde lange Zeit anatomisch erklärt: Klitoris und Penis entstehen im Mutterleib aus derselben Schwellkörperanlage und sind in der embryonalen Entwicklung während den ersten Wochen nicht voneinander zu unterscheiden. Das erkläre aber noch nicht, weshalb der Mann den Orgasmus zur Fortpflanzung braucht und die Frau nicht, geben aktuelle Studien zu bedenken.
Theorien aus der Evolutionsbiologie
Und auch andere Theorien der Evolutionsbiologie konnten in den letzten Jahren nicht abschließend belegt werden. Zum Beispiel die des evolutionären Vorteils: Der weibliche Orgasmus erhöhe die Wahrscheinlichkeit einer Befruchtung durch Muskelkontraktionen der gesamten Genitalregion. Die würden dabei helfen, Spermien schneller in die Gebärmutter zu transportieren. Handfeste Beweise fehlen bis heute, wie auch die Autorinnen und Autoren dieser Vergleichsstudie schreiben: «Die Mehrheit verfügbarer Studien kommt zu dem Schluss, dass der weibliche Orgasmus wenig bis keine Rolle im Transport von Spermien während des Koitus spielt.»
Verwandt mit dieser These ist die Theorie der Partnerwahl: Der Orgasmus als Garant für einen fitten Partner mit 1a-Erbgut. Aber auch hier wirft die Evolutionsbiologie mit Fragezeichen um sich: Einer Studie im Fachblatt Socioaffective Neuroscience & Psychology zufolge erleben Frauen zwar häufiger einen Orgasmus mit Männern, die attraktive (Charakter-)Merkmale wie Humor, Kreativität oder Fitness besitzen. Unbeantwortet bliebe jedoch die Frage: Warum braucht es die Klitoris zur Bestimmung der Partnerqualität? Aus heutiger Sicht scheint es nahezu naiv, von der Qualität im Bett auf die Qualität als Familienvater zu schließen.
Was Frauen mit Kaninchen gemein haben
Keine der Theorien liefert eine befriedigende Antwort auf die Frage: Warum haben Frauen einen Orgasmus? Eines scheint festzustehen: Für einen evolutionären Zufall ist der weibliche Orgasmus zu komplex.
Was bleibt dann also noch, wenn er kein Mittel zur Partnerwahl, kein evolutionärer Vorteil und auch kein Zufall ist? Womöglich das: ein entstehungsgeschichtliches Relikt.
Das behaupten zumindest Mihaela Pavlicev und Günther Wagner in ihrer Studie in der Fachzeitschrift «Proceedings of the National Academy of Sciences». Darin erklären sie einerseits: Der Orgasmus der Frau könnte einmal evolutionär so wichtig gewesen sein, wie der des Mannes. Und: Um das zu verstehen, müsse man Frauen nicht mit Männern, sondern mit anderen weiblichen Säugetieren vergleichen. Zum Beispiel mit der Kaninchen-Zibbe.
Denn bei Kaninchen kommt es – wie übrigens auch bei Katzen oder Frettchen – zum induzierten Eisprung: Der Orgasmus löst den Eisprung aus und erfüllt damit eine direkte reproduktive Funktion. Beim Menschen kommt es dagegen zum monatlichen Eisprung – unabhängig von Orgasmus und Geschlechtsverkehr.
Um die Theorie zu prüfen verabreichten die Forschenden Kaninchen das Antidepressivum Fluoxetin, das dafür bekannt ist, Orgasmen zu hemmen. Und tatsächlich kam es bei den behandelten Kaninchen um 30 Prozent seltener zum Eisprung, als bei der Kontrollgruppe.
Emanzipation der Klitoris: Wie der regelmäßige Zyklus entstand
Auch bei der Frau könnte der Orgasmus einst diese wichtige reproduktive Funktion übernommen haben. Heute ist der weibliche Eisprung – und damit die Fruchtbarkeit – unabhängig von äußeren Einflüssen wie Penis und Orgasmus. Auch eine Frau, die in ihrem Leben noch keinen Orgasmus erlebt hat, kann schwanger werden und ein Kind zur Welt bringen.
Warum sich der induzierte Zyklus zu einem regelmäßigen, hormongesteuerten entwickelt hat, ist nicht abschließend geklärt. Einen Zusammenhang scheint es mit der Lage der Klitoris im Körper zu geben: Bei Säugetieren mit induziertem Eisprung liegt das Organ zur optimalen Stimulation im Inneren des Körpers, während die Klitoris bei Frauen heute zumindest zu kleinen Teilen außerhalb liegt. Eine Stimulation der Klitoris durch Penetration wird so zwar unwahrscheinlicher – aber immerhin braucht es sie nicht mehr für den Eisprung. Ob allerdings die Wanderung der Klitoris nach Außen der Grund für die Entwicklung eines unabhängigen, regelmäßigen Zyklus war oder die Folge davon, ist nicht geklärt.
Der weibliche Orgasmus gibt bis heute Rätsel auf – auch wenn die Studie von Pavlicev und Wagner etwas Licht ins Dunkel gebracht hat. «Die Ergebnisse sind wichtig für unser Verständnis weiblicher Sexualität» sagt Yale Dozent und Studienleiter Wagner in einer Aussendung der Yale School of Medicine. Das Freudsche Sexualverständnis der Frau, das vor nicht allzu langer Zeit den Diskurs bestimmte, kann spätestens jetzt ad acta gelegt werden.
Titelfoto: shutterstockIch liebe blumige Formulierungen und sinnbildliche Sprache. Kluge Metaphern sind mein Kryptonit, auch wenn es manchmal besser ist, einfach auf den Punkt zu kommen. Alle meine Texte werden von meinen Katzen redigiert: Das ist keine Metapher, sondern ich glaube «Vermenschlichung des Haustiers». Abseits des Schreibtisches gehe ich gerne wandern, musiziere am Lagerfeuer oder schleppe meinen müden Körper zum Sport oder manchmal auch auf eine Party.