«Ein Sturz ist wahrscheinlicher als ein Lottogewinn»
Hintergrund

«Ein Sturz ist wahrscheinlicher als ein Lottogewinn»

125 000-mal pro Jahr verletzt sich ein Mensch beim Sturz in den eigenen vier Wänden. Statistisch fällt also alle vier Minuten jemand von einem Hocker, stürzt auf der Treppe oder rutscht im Badezimmer aus. Welche Risiken kann ich selbst minimieren? Das erfahre ich im Interview.

Ich bin nach Bern gefahren. Dorthin, wo mehr über die Vermeidung von Stürzen nachgedacht und geforscht wird als an jedem anderen Ort in der Schweiz. Und zwar bei der BFU, der Beratungsstelle für Unfallverhütung in der Schweiz. Meine Gesprächspartnerin ist Ursula Meier Köhler. Für das Foto oben hat sie sich zusammen mit dem Teddy aus der aktuellen Kampagne aufs Sofa gesetzt. Sie ist Fachspezialistin für Sturzprävention.

Ursula, was ist wahrscheinlicher: Dass ich einen hohen Lottogewinn abräume oder dass ich bei einem Sturz sterbe?
Ursula: Schlechte Nachrichten: Es ist ein Sturz, der wahrscheinlicher ist. Aber ich habe auch eine gute Nachricht dazu.

Ach ja?
Auf die Wahrscheinlichkeit für einen Lottogewinn hast du keinen Einfluss. Einen Sturz dagegen kannst du verhindern – oder zumindest das Risiko deutlich minimieren, und zwar durch ganz einfache Maßnahmen.

Welche sind das?
Es klingt zwar simpel, doch was tatsächlich hilft, ist aufzuräumen. Wir wissen aus unserer Forschung hier bei der BFU, was in den eigenen vier Wänden gefährlich ist, obwohl wir uns dort in der Regel am sichersten fühlen. Fakt ist: Viele Gefahren lassen sich in den Griff bekommen, indem man Ordnung hält. Im Wohnungseingang ist es zum Beispiel der Rucksack auf dem Boden, dessen Träger und Gurte zu Stolperfallen werden. Im Homeoffice ist es das Ladekabel, das jemanden aus dem Tritt bringen kann.

Alle vier Minuten gibt es einen Sturz im privaten Haushalt – oft mit schlimmen Folgen.

Aber ist es denn gleich ein Drama, wenn man da mal hinfällt?
Zum Glück nicht. Oft geht es glimpflich aus, man lacht sogar über das kleine Missgeschick. Trotzdem ist kaum bekannt, dass der Sturz schweizweit der häufigste Unfallhergang in der Freizeit ist – sowohl unterwegs als auch zu Hause. Bei Stürzen in der Wohnung, im Haus oder im Garten erleiden pro Jahr allein etwa 125 000 Personen Verletzungen. Einige auch mit Invalidität als Folge. Und 1700 Menschen sterben pro Jahr bei Stürzen zu Hause und in der Freizeit, übrigens nicht nur Ältere. Unter den Todesopfern sind pro Jahr auch 80 Personen im Alter von 17 bis 64. Das sind zum einen vor allem menschliche Dramen. Es sind aber auch materielle Kosten von 3,2 Milliarden Franken pro Jahr für die Gesellschaft.

Wo ist es denn am gefährlichsten?
Auch wenn die meisten Stürze ebenerdig passieren, ist das Sturzrisiko auf Treppen am höchsten. Hier sind Dinge gefährlich, die auf einer Stufe herumliegen – und sei es nur der Teddy, der wieder ins Kinderzimmer muss. Am besten räumt man alles sofort wieder an seinen Platz. Und dann gibt es die Menschen, die selbst beim Treppenlaufen den Blick nicht vom Smartphone lassen. In der Schweiz haben wir zudem ein Problem mit dem Handlauf, vielmehr mit der Nichtbenutzung des Handlaufs.

Warum ist das so?
Jüngere meinen, den nicht zu brauchen. Andere haben Angst vor Viren und Bakterien und fassen ihn deshalb nicht an. Es gibt viele Gründe. Oft fangen die Menschen erst an, den Handlauf zu nutzen, wenn es nicht mehr anders geht. Oder wenn sie schon einmal auf einer Treppe gestürzt sind, und es quasi durch den Schreck und Schmerz gelernt haben.

Es wäre ja besser für alle, wenn es gar keine Stürze gäbe.
Genau, wenn gar keine Stürze passieren, müssen wir uns auch nicht um die Folgen kümmern. Davon profitieren wir alle, denn die Kosten für Behandlung oder für den Arbeitsausfall nach einem Sturz werden von der Gemeinschaft getragen. Also sollte auch jeder für sich motiviert sein, erst gar keinen Sturz zuzulassen.

Es ist offenbar schwierig, allein mit dem Präventionsgedanken und auf freiwilliger Basis die Herzen der Menschen zu erreichen?
Obwohl die Zahlen eine klare Sprache sprechen, obwohl die Folgen schmerzhaft sind und obwohl es so einfach wäre, Stürze zu vermeiden, ist es ein schwieriges Thema, ja. Oft verschweigen wir Stürze, weil es uns peinlich ist. Und oft werden Stürze auch heute noch als Bagatelle abgetan. Wir setzen deshalb auf Kampagnen, die Gedankenanstösse liefern.

Also, bei mir hat‘s geklappt. Was wären die drei wichtigsten Tipps, die du mir geben würdest? Dazu kenne ich Dich natürlich noch zu wenig. Aber allgemein würde ich Hindernisse auf dem Boden wegräumen. Jacken, Rucksäcke und Taschen aufhängen, Schuhe in den Schrank. Wenn du Teppiche auf Parkett oder Plattenboden hast, dann sollte ein Gleitschutz darunterliegen. Treppenstufen werden sicherer mit Anti-Rutsch-Band zum Aufkleben.

Okay, notiert. Weitere Tipps?
Zur Sturzprävention gehört definitiv gezieltes Training von Kraft und Gleichgewicht. Wer seine Muskulatur erhält und die Reaktionsfähigkeit trainiert, stürzt weniger und wenn, dann sind die Folgen in der Regel geringer. Am besten sollte man im Alter von 30 Jahren anfangen, ab 50 würde ich sagen, ist es Pflicht.

Da kann der innere Schweinehund aber schon sehr stark sein …
Stimmt, so eine Verhaltensänderung ist schwer zu erreichen. Deshalb ist die Sturzprävention bei uns seit vielen Jahren ein Dauerthema – und wird es auch bleiben.

Die BFU hat ambitionierte Ziele: Derzeit gibt es abseits von Strassenverkehr und Sport jährlich 570 000 Verletzte bei Unfällen, die Hälfte der Unfälle passieren zuhause. Die BFU möchte, dass diese Zahlen nicht weiter steigen. Obwohl die Bevölkerung wächst, obwohl der Anteil der Älteren wächst und obwohl es wenige bis keine gesetzlichen Vorgaben gibt. Wie soll das gehen?
Es braucht eine gemeinsame Kraftanstrengung – von uns allen. Es gibt überall Hebel und Stellschrauben. Wir könnten schon heute damit beginnen, immer den Handlauf zu nutzen. Oder Vermieter könnten Treppen konsequent mit Antirutschstreifen versehen. Oder die Schuhhersteller könnten Finken auf den Markt bringen, die an den Fersen Halt geben, rutschsicher sind und trotzdem gut aussehen. All diese Beispiele zeigen, dass das Thema Stürze noch nicht den Stellenwert hat, den es haben sollte. Wir müssen also anfangen, mehr über Stürze zu sprechen.

Transparenzhinweis: Ab Ende September findest du bei Lieferungen von Galaxus womöglich eine aktuelle Broschüre der BFU im Karton. Diese Beileger sind eine kostenpflichtige Leistung von Galaxus für interessierte Unternehmen. Dieses Interview ist eine begleitende Information zur aktuellen Kampagne des BFU. Auf die von mir gestellten Fragen hatte das BfU keinen Einfluss.

Wenn du dich auf der BFU-Website informierst, kannst du bei einem Gewinnspiel mit etwas Glück einen Einkaufsgutschein von Galaxus gewinnen.
Titelbild: Martin Jungfer

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Journalist seit 1997. Stationen in Franken, am Bodensee, in Obwalden und Nidwalden sowie in Zürich. Familienvater seit 2014. Experte für redaktionelle Organisation und Motivation. Thematische Schwerpunkte bei Nachhaltigkeit, Werkzeugen fürs Homeoffice, schönen Sachen im Haushalt, kreativen Spielzeugen und Sportartikeln. 


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