Ein Körper, zwölf Persönlichkeiten: Avis lebt mit einer dissoziativen Identitätsstörung (Teil 1)
Hintergrund

Ein Körper, zwölf Persönlichkeiten: Avis lebt mit einer dissoziativen Identitätsstörung (Teil 1)

Avis ist nicht allein in ihrem Körper. Sie hat eine dissoziative Identitätsstörung. Das heißt, dass Avis aus mehreren Persönlichkeiten besteht. Was das konkret für ihren Alltag bedeutet, habe ich im Gespräch mit ihr erfahren.

«Wer bist du und wenn ja, wie viele?»: für Avis ist der Satz Realität. Ihr wurde vor drei Jahren eine dissoziative Identitätsstörung, kurz DIS, diagnostiziert. Einem psychiatrischen Krankheitsbild, bei dem sich das Ich in mehrere Persönlichkeiten aufgespalten hat. Alle unterschiedlich und alle wohnhaft in ihrem Körper. Ich möchte wissen, warum das passiert ist, was es für ihren Alltag bedeutet und wie es sich anfühlt, Körper und Geist mit elf weiteren Personen zu teilen. Deswegen habe ich mich mit der jungen Wienerin zu einem langen Gespräch per Videocall verabredet.

Eine meiner ersten Fragen: Ob ich denn tatsächlich gerade mit Avis rede – oder aktuell eine andere Persönlichkeit auftritt. Avis lacht und bejaht. Räumt aber ein, dass ein Anteil namens Corrin im Hintergrund anwesend ist. Damit wären wir schon mitten in der Thematik, noch bevor meine Gesprächspartnerin sich überhaupt vorstellen konnte: «Ich bin Avis, 20 Jahre alt und komme aus Wien. Aktuell arbeite ich in der Rettung und studiere nebenbei Spanisch und Inklusive Pädagogik auf Lehramt.« Der Unterschied zu vielen anderen Studierenden: «Ich bin ein Anteil eines DIS-Systems, also einer dissoziativen Identitätsstörung. Und zugleich die Persönlichkeit, die am meisten frontet.« Fronten bedeutet, anwesend zu sein und zu agieren – also den Körper zu steuern. Und weil dies zum Großteil Avis tut, gilt sie als der sogenannte Host ihrer DIS und wird auch offiziell auf der Arbeit oder an der Uni mit diesem Namen angesprochen. Was aber nicht heißt, dass auch gerade Avis da ist und antwortet.

Die Frage, die sich automatisch aufdrängt: Wie viele sind denn da noch? «Bisher waren wir elf», erklärt Avis. «Vor Kurzem haben wir aber einen neuen Anteil entdeckt.» Dabei handelt es sich um ein achtjähriges Kind. Sie heißt Ophelia. Hier stellt sie sich in einem kurzen Video vor:

Dass immer wieder neue Personen entdeckt werden, ist nicht ungewöhnlich und jederzeit möglich, wie ich erfahre: «Es können ein Leben lang Anteile hinzukommen. Es kann auch sein, dass man Anteile hat, von denen man noch nicht weiß, dass sie existieren.» Das liegt daran, dass Amnesiebarrieren, also Erinnerungslücken, das Krankheitsbild prägen. Und genauso wie neue Anteile dazukommen können, können auch alte verschwinden – oder sogar fusionieren. Dann entsteht aus dem Zusammenschluss von zwei oder mehreren Persönlichkeiten eine neue.

Klingt alles ziemlich komplex! Und auch ein wenig, als ob es sich bei ihrem Körper um ein Mehrfamilienhaus handelt. «Das stimmt», bestätigt Avis:

«Grundsätzlich kann man sich das wie eine große WG im Kopf vorstellen.»

Kopf-WG: Liste der Mitbewohner

Who is who? Hier eine Übersicht über Avis DIS-System. Folgende Persönlichkeiten sind ihr bekannt und haben diese Eigenschaften:

  • Avis:
    weiblich, Host, mag Astronomie sehr gerne, hatte die Idee, mit TikTok anzufangen, um aufzuklären, frontet am meisten
  • Corrin:
    männlich, Protector, Gatekeeper, kommt in unangenehmen oder gefährlichen Situationen hervor, sehr selbstbewusst, humorvoll, zockt gerne und liebt Skifahren
  • Ash:
    weiblich, Caregiver, kümmert sich um andere Anteile, sehr feminin, liebt Mode und Make-up
  • Farosh:
    männlich, Kind-Anteil (etwa 3 Jahre) und Traumaholder, eher schüchtern, liebt Kuscheltiere, spielt gerne Verstecken und zeichnet gerne
  • Clay:
    männlich, Protector, frontet nur in absoluten Extremsituationen und sonst gar nicht, selbstbewusst und bestimmt
  • Lou:
    weiblich, Protector, Gatekeeper, schnell genervt, sehr direkt, eher pessimistisch
  • Destiny/Lillith:
    weiblich, Persecutor, schadet dem Körper, ist manipulativ, begibt sich in gefährliche Situationen
  • Ophelia:
    weiblich, Kind-Anteil (etwa 8 Jahre), sehr schüchtern, malt und singt gern
  • Bella:
    weiblich, Traumaholder, sehr ruhig und gelassen, liebt den Frühling und sonnige Wälder, erinnert sich an den Großteil des Traumas aus der Jugendzeit
  • Castiel:
    männlich, Caregiver, fronted selten und wenn, um Streit zu schlichten
  • Ryuu:
    weiblich, Caregiver, ist am meisten vom Autismus betroffen, liebt Wissenschaft
  • Holly
    weiblich, Caregiver, etwas hektisch, kleiner Sonnenschein, mag sehr gern Fische

Wie einzelne DIS-Systeme aussehen, ist individuell. Es gibt Betroffene, die 200 verschiedene Anteile haben und kaum zu überschauen sind. Dabei müssen nicht alle Anteile komplett ausgeprägte Alltagspersonen sein, sondern können teils auch nur gewisse Trauma-Erinnerung festhalten. Unabhängig von der Menge an Abspaltungen ist der Auslöser für dissoziative Identitätsstörungen im Regelfall der gleiche: physische, psychische, rituelle und sexuelle Gewalt im Kindesalter. Die ist auch Avis widerfahren – in einem Zeitraum vor ihrem fünften Lebensjahr. Ein schreckliches Schicksal, das viel mehr Kinder trifft, als den meisten von uns vermutlich bewusst ist: in Deutschland etwa wurden laut Polizeilicher Kriminalstatistik 2022 allein pro Tag 48 Kinder Opfer von sexueller Gewalt. Auf das ganze Jahr gerechnet sind das weit über 17.000 Fälle. Eine erschreckende Anzahl. Wobei viele Straftaten unentdeckt bleiben und gar nicht erst in diese Statistik fallen.

Und obwohl also viele Menschen Missbrauch und Misshandlung im Kindesalter erleiden müssen, gibt es nur wenige, die eine dissoziative Persönlichkeitsstörung aufweisen. Was genau führt also zu deren Entwicklung? «Bei einer DIS muss sich das Trauma vor dem sechsten Lebensjahr ereignen und es muss konstant sein», erklärt mir Avis. «Also das Kind muss wirklich in die Ecke gedrängt sein, keinen Ansprechpartner und keinen Ausweg haben und dadurch schafft das Gehirn eben Helfer.» Indem es Teile abspaltet und neue Persönlichkeiten kreiert. Das Ganze ist ein komplexer Schutzmechanismus, der in Gang gesetzt wird:

«Das Gehirn beschließt, dass das Trauma, das das Kind erlebt, einfach zu viel ist, dass es damit quasi nicht überleben kann. Es schaltet auf eine absolute Überlebensstrategie und teilt sich in mehrere Anteile auf, die dann jeweils nur einen Teil des Traumas kennen.»

Der Sinn der DIS ist also, dass das Kind weniger von all den Dingen mitbekommt. Einige sich abspaltende Anteile wissen auch überhaupt nichts vom Trauma – sondern werden komplett von den belastenden Erinnerungen abgeschirmt. Das ist beispielsweise beim neu entdeckten Anteil Ophelia der Fall. Das Besondere an Ophelia: Sie lebt im Jahr 2010. Das liegt laut Avis daran, dass sie so lange nicht gefrontet ist, sondern offenbar tief im Inneren geschlummert hat. «Für sie ist es so, als hätte sie einmal kurz die Augen zugemacht und wäre auf einmal in einer komplett anderen Welt, in einem komplett anders aussehenden Körper. Ich und die anderen Anteile müssen ihr quasi vorsichtig beibringen, dass die Welt, in der sie denkt, zu leben, eigentlich so nicht mehr existiert und die Zeit vergangen ist.» Da wären wir dann wieder bei den Amnesiebarrieren. Durch die vielen Schutzmechanismen und Erinnerungslücken, die diese Persönlichkeitsstörung begleiten, ist ihr eigentlicher Beginn übrigens meist nicht klar festzulegen. Auch Avis weiß nicht, wann ihre sich das allererste Mal bemerkbar machte. Die ersten beiden Anteile, an die sie sich bewusst erinnern kann, sind jedoch noch aus ihrer Kindheit. Sie hießen Lisa und Elisabeth. «Inzwischen gibt es sie nicht mehr. Ich, Avis, bin ein Zusammenschluss von Lisa und Elisabeth. Ich habe einen Teil ihrer Erinnerungen übernommen, aber nicht alle.»

Was sich in unserem weiteren Gespräch herausstellt: Unabhängig von dem Zusammenspiel aus Erwachsenen- und Kindesanteilen ist Avis DIS-System ein gleichberechtigtes. Das bedeutet, es gibt keine Hierarchie. Keine Cheffigur, deren Wort mehr wiegt als das der anderen. Stattdessen existieren alle Persönlichkeiten mit ihren unterschiedlichen Altern, Rollen und Charaktereigenschaften auf gleichem Rang miteinander:

«Es gibt niemanden, der über anderen steht. Wir entscheiden alles als Kollektiv.»

So war beispielsweise der Schritt zur Kurzhaarfrisur eine demokratische Entscheidung, wie Avis erzählt: «Damals mussten alle zumindest sagen, «Es ist für mich okay und ich kann damit noch umgehen». Aber wenn jetzt einer oder eine gesagt hätte, «Ich fühl mich damit furchtbar, ich möchte es nicht. Das löst in mir etwas aus, was ihr vielleicht nicht wisst, weil ihr das nicht erlebt habt», dann hätten wir uns gegen die Frisur entschieden.» Dass sie die Meinungen und Gefühle der einzelnen Individuen berücksichtigt, erklärt auch, warum Avis meist von «wir» redet. In dem Fall ist sie Sprachrohr für die Gemeinschaft.

Avis noch mit langer Mähne ...
Avis noch mit langer Mähne ...
Quelle: Avis
... bevor sie und die anderen sich einstimmig für kurze Haare entschieden.
... bevor sie und die anderen sich einstimmig für kurze Haare entschieden.
Quelle: Avis

Und wie kommt diese Gemeinschaft sonst miteinander zurecht? Die Dynamik zwischen den einzelnen Anteilen ist «ganz normal», wie Avis mit leichtem Schmunzeln erklärt. Eben wie bei Persönlichkeiten, die nicht Teil eines DIS-Systems sind: Es gibt Freundschaften untereinander, aber auch Personen, die sich nicht besonders mögen. Schließlich handelt es sich um zwölf Individuen mit sehr unterschiedlichen Charaktereigenschaften.


Du möchtest mehr über das Zusammenleben der Anteile wissen und außerdem erfahren, warum Avis öffentlich über ihre Persönlichkeitsstörung spricht? Dann schau dir Teil 2 des Artikels an.

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    Ein Körper, zwölf Persönlichkeiten: Avis lebt mit einer dissoziativen Identitätsstörung (Teil 2)

    von Maike Schuldt-Jensen

Titelfoto: Avis

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Katzenlady und Kaffeeliebhaberin aus Kiel, die das Hamburger Redaktionsteam unterstützt. Immer auf der Suche nach «News und Trends» in den Bereichen Sport und Health Care, DIY & Basteln, Interior, Deko, Geschirr, Sex & Erotik.


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