Du knirschst mit den Zähnen? Dann bist du in guter Gesellschaft
Hintergrund

Du knirschst mit den Zähnen? Dann bist du in guter Gesellschaft

Diesen Reflex wirst du kennen: Bei Anspannung presst du deinen Kiefer zusammen. Doch manche Menschen haben im Schlaf eine übermäßig aktive Kaumuskulatur und knirschen mit den Zähnen. In der Fachsprache Bruxismus genannt, lässt sich das Phänomen behandeln: mit der SMS-Therapie.

Zähneknirschen ist beileibe kein neues oder seltenes Phänomen: Schon in der Bibel ist davon die Rede. Doch während bei Hiob und Matthäus Menschen ihr Gebiss vor Wut oder Angst zusammenpressten, knirscht die Welt heute, um Stress abzubauen. Zuletzt taten dies sogar noch mehr Menschen als zuvor: «In der Fachliteratur gibt es klare Belege dafür, dass während der COVID-19-Pandemie in allen Altersgruppen die Prävalenz von Bruxismus zugenommen hat», sagt Prof. Dr. Jens Christoph Türp von der Klinik für Oral Health & Medicine am Universitären Zentrum für Zahnmedizin Basel (UZB). Mehrere Studien belegen das. Türp ist ausgewiesener Bruxismus-Experte und beschäftigt sich am UZB mit Erkrankungen der Kaumuskulatur und der Kiefergelenke.

Doch nicht nur die Wissenschaft hat sich mit dem Thema während der Pandemie auseinandergesetzt: «Auch Laien hat dieser Zusammenhang interessiert, wie diese Studie zeigt: Sie hat die Nachfrage nach dem Begriff Bruxismus in der Google-Suche zur Zeit der Pandemie auswertet.»

Zähneknirschen: Ein zentralnervöses Phänomen

Mit Bruxismus bezeichnen Fachleute zwei Phänomene: das Knirschen mit den Zähnen und das Kieferpressen, also wenn du fest mit den Seitenzähnen aufeinanderbeißt. Das macht sich oft morgens nach dem Aufwachen bemerkbar, aber auch den gesamten Tag über.

Heute sind sich Forschende einig: Bruxismus ist ein Phänomen des zentralen Nervensystems – und nicht, wie lange angenommen wurde, ein anatomisch-morphologisches. Und: Zähneknirschen oder -pressen wird auch nicht dadurch ausgelöst, dass deine Zähne von Ober- und Unterkiefer in einem bestimmten Kontakt zueinanderstehen.

Zudem wird Bruxismus mittlerweile nicht mehr als Störung oder Dysfunktion betrachtet. Vielmehr ist er ein Ausdruck für physiologische und verhaltensbiologische Prozesse: Knirschen ist einerseits ein Stressventil. Andererseits – das wirst du sicher schon einmal selbst an dir beobachtet haben – pressen Menschen ihre Zähne aufeinander, wenn sie schwere Lasten tragen. Plus: Knirschen im Schlaf bewirkt praktischerweise offene Atemwege.

Es bruxen übrigens richtig viele Menschen: Jens Christoph Türp berichtet von Bevölkerungsstudien, laut denen ungefähr 60 von 100 Erwachsenen vom Bruxismus betroffen sind. «8 von 100 sogar so schwer, dass eine Therapie angezeigt ist.»

Wie hoch jedoch die Dunkelziffer der Betroffenen ist, weiß man nicht. Schließlich ist Bruxismus keine bewusste Angelegenheit. «Niemand sagt: Ich habe Stress, jetzt werde ich pressen und knirschen», sagt Türp. Deshalb habe weder COVID-19 einen Zähneknirsch-«Trend» ausgelöst noch hätten Menschen Bruxismus als stressentlastende Maßnahme entdeckt. Sie tun es einfach. Meist ohne es zu merken.

Bruxismus: Knirschen und Pressen leitet Körperspannung ab

Doch was passiert eigentlich bei der wiederholten, unbewussten Aktivität der Kaumuskulatur? Betroffene leiten damit Spannung aus dem Körper ab. Die Folge: «Eine verstärkte Belastung von Kaumuskeln, Kiefergelenken und Zähnen.» Das ist erst einmal nicht tragisch, denn: Unser Körper hat «grundsätzlich eine hohe Anpassungsfähigkeit an erhöhte Krafteinwirkung. Aber in nicht vorhersehbaren Fällen kann es dazu kommen, dass diese Fähigkeit irgendwann erschöpft ist und der Patient Symptome spürt: Verspannungen der Kiefermuskulatur, oder gar Schmerzen in Kaumuskeln, Kiefergelenken oder an Zähnen.»

Optisch erkennen lässt sich ausgeprägter Bruxismus auch an den verstärkten Massetermuskeln (Kaumuskel zwischen Jochbein und Unterkiefer) – und das, sagt der Experte, «sieht optisch nicht immer attraktiv aus». Ebenso erkennt das fachkundige Auge den Abrieb von Zahnschmelz oder sogar dem darunterliegenden Dentin.

Doch selbst wenn Bruxismus noch nicht zu schweren Symptomen geführt hat, ist er für Laien sichtbar: «Schauen Sie in einen Spiegel, ziehen Sie Ihre Lippen auseinander und lassen den Unterkiefer locker herunterhängen», sagt Türp. «Sind Ihre Eckzähne noch spitz, wie sie einmal waren – oder sehen sie aus wie die benachbarten Schneidezähne, mit einer breiten Kante? Dann ist dies wahrscheinlich die Folge von langjährigem Zähneknirschen. Durch die zahngeführten Unterkieferbewegungen haben sich die Eckzahnspitzen wie auch die Schneidekanten der seitlichen und mittleren Schneidezähne abgeschliffen.»

Entwarnung: Warum Bruxismus – meist – nicht so tragisch ist

Falls du dich jetzt vor den Spiegel stellst und besorgt deine Zähne prüfst, sei unbesorgt: «Trotz dieser bedrohlich klingenden Auflistung ist Bruxismus weit weniger schlimm als sein Ruf. Gegen Verspannung und Schmerzen aufgrund bruxismusbedingter Überbelastung kann man etwas tun. Außerdem: Bis vor wenigen Jahrhunderten waren die beschriebenen Veränderungen an den Zähnen – allen voran der Abrieb von Zahnschmelz und Dentin – während der gesamten Geschichte der Menschheit viel ausgeprägter als das, was wir heute sehen. Mit Mitte 20 waren die Zähne allesamt eingeebnet, und das war normal. Heute hingegen hat sich unsere Art und Zubereitung der Speisen verändert und führt nicht mehr zu dem davor üblichen frühen starken Verlust von Zahnhartsubstanz.»

Ist der Bruxismus so stark, dass er eine Behandlung braucht – und das entdecken spätestens Zahnarzt oder Zahnärztin oder du wirst an verspannten Kiefern oder Kieferschmerzen leiden – empfehlen Fachleute das SMS-Vorgehen. Das erste «S» bedeutet: Selbstbeobachtung. «M» steht für Muskelentspannung und das zweite «S» für Schiene.

Therapie-Weg 1: Selbstbeobachtung

Experte Türp erklärt das Prozedere für die Selbstbeobachtung: «Ich gebe für diesen Zweck Patienten rote, runde Aufkleber mit. Diese sollten sie für drei Tage daheim und bei der Arbeit an Stellen aufkleben, auf die sie ab und zu schauen. Es reicht aus, wenn man jede Stunde unverhofft auf einen dieser farbigen Aufkleber blickt. In diesem Moment soll man sich fragen: Berühren sich meine Zähne jetzt gerade oder hängt mein Unterkiefer entspannt herunter, ohne dass die unteren Zähne Kontakt mit oberen aufweisen? Entspannt wäre der Kiefer, wenn im Alltag die Zähne nicht zusammenbeißen – außer beim Kauen natürlich.»

Weil die meisten Betroffenen viel häufiger knirschen und pressen, als ihnen bewusst ist, geht es in der Therapie darum, die Häufigkeit und Heftigkeit der übermäßigen Muskeltätigkeit zu verringern. «Dazu nimmt man zum Beispiel tagsüber einen Kirschkern oder ein Kaugummi in die Mundhöhle. Das führt in der Regel dazu, dass unbewusst die Zunge mit dem Kern oder dem Kaugummi – mit dem man durchaus auch kauen darf – spielt. Das geht aber nur, wenn die Zähne des Ober- und Unterkiefers keinen Kontakt haben. Durch unbewusstes Senken des Unterkiefers und sich damit vergrößerndem Abstand der Zahnreihen zueinander wird der erforderliche Platz geschaffen. Die Zähne haben keinen Kontakt und können somit nicht pressen oder knirschen.»

Therapie-Weg 2: Muskelentspannung

Bei der Muskelentspannung wiederum lernen Patientinnen und Patienten Entspannungsverfahren, zum Beispiel Progressive Muskelrelaxation nach Jacobson. Meist reicht dafür ein einmaliger Besuch bei einem klinischen Psychologen oder einer Psychotherapeutin.

Therapie-Weg 3: Schiene

Die Schiene, hergestellt im Dentallabor mit Briefing durch die Zahnarztpraxis wird ausschließlich während des Schlafs im Oberkiefer getragen. Goldstandard, so Experte Türp, ist die Michigan-Schiene. «Sie verfolgt das Ziel, Zahnabrieb zu vermeiden und soll die auf Kiefer und Zahn wirkenden Kräfte gleichmäßiger verteilen. Aufgrund der Wirkung der anderen zwei Maßnahmen sollten diese Krüfte ohnehin weniger intensiv sein und seltener auftreten. Wenn sie fachgerecht hergestellt wurde, ist die Schiene sehr bequem. Patienten möchten in der Regel nicht mehr ohne sie schlafen.»

Solange aber dein Zähneknirschen und/oder Kieferpressen keine Schmerzen hervorruft oder deinen Kauapparat übermäßig belastet, kannst du mit dieser unbewussten Strategie ruhig weiter Dampf ablassen.

Titelfoto: shutterstock

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Mareike Steger
Autorin von customize mediahouse
oliver.fischer@digitecgalaxus.ch

Ich hätte auch Lehrerin werden können, doch weil ich lieber lerne als lehre, bringe ich mir mit jedem neuem Artikel eben selbst etwas bei. Besonders gern aus den Themengebieten Gesundheit und Psychologie.


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