Screen Teens
Deutsch, Jessica Wawrzyniak, 2023
Die Nutzung neuer Medien kann Eltern zur Verzweiflung bringen. Doch Verbote und technische Einschränkungen sind der falsche Weg, sagt Erziehungs- und Medienwissenschaftlerin Jessica Wawrzyniak. Viel wichtiger: Wie Kinder lernen, digitale Verantwortung zu übernehmen. So hilfst du ihm als Elternteil dabei.
Jedes Kind möchte dazu gehören – und dazu gehört auch, eines Tages ein Smartphone zu haben. Laut «MIKE 2021», der aktuellsten Studie über das Mediennutzungsverhalten von Schweizer Primarschülerinnen und Primarschülern, besitzt bei den Zehn- bis Elfjährigen mehr als die Hälfte der Kinder ein eigenes Handy. Bei den Zwölf- bis Dreizehnjährigen sind es bereits Dreiviertel.
Und sobald ein Heranwachsender ein Handy besitzt, ändert sich erfahrungsgemäß der Familienalltag. Plus: Eltern sind mitunter überfordert. Jessica Wawrzyniak, Erziehungs- und Medienwissenschaftlerin, hat mit «Screen Teens» einen hilfreichen Ratgeber geschrieben und gibt darin viele praxisnahe Tipps, wie du mit Kindern über digitale Verantwortung redest.
Im Interview mit der Expertin erfährst du, was Erziehungspersonen wissen müssen:
Frau Wawrzyniak, starten wir mit einem Beispiel aus dem Elternalltag: Mein 11-Jähriger hat auf Snapchat die Freundschaftsanfrage eines Mädchens angenommen mit dem Namen «Suche Freund 12». Ein anderes nennt sich «Viola Mayer – geil». Bei mir schrillen gleich die Alarmglocken. Zu Recht? Jessica Wawrzyniak: Ja, schon. Eltern sollten in solchen Situationen das Gespräch suchen, um die Sicht des Kindes mitzubekommen: Hat es die mögliche Gefahr überhaupt erkannt? Das hängt auch davon ab, welche Erfahrung es selbst oder durch Freunde schon gemacht hat. Grundsätzlich gilt jedoch: Kinder auf Schritt und Tritt zu kontrollieren, ist keine Lösung. Eltern können und sollen gar nicht immer dabei sein. Aber bevor man ihnen Handys und Apps erlaubt, müssen Eltern ihnen ein Rüstzeug an die Hand geben. Es ist fahrlässig, Kinder im jungen Alter sehr lange alleine an die Geräte zu lassen, solange man sie noch nicht über die Gefahren im Netz aufgeklärt hat. Sie lassen Ihr Kind ja auch nicht am Beckenrand des Pools unbeaufsichtigt spielen, wenn es noch nicht schwimmen kann. Genauso ist es mit Smartphones und dem Zugang zum Internet.
Dann lese ich als Elternteil heimlich die Chats auf dem Handy des Kindes? Aufpassen bedeutet nicht: überwachen. Kinder haben ein Recht auf Privatsphäre. Und es ist wichtig, dass sie selbstständige, selbstbewusste, mündige Nutzer werden. Ich würde empfehlen, bei jungen Smartphone-Nutzern, also Zehn- und Elfjährigen, sich öfter die Chats zeigen zu lassen. Gehen Sie offensiv mit der Thematik um. Eltern sind in der Fürsorgepflicht, selbstverständlich haben sie ein Interesse daran, was geschrieben wird. Aber dieses Interesse muss dann auch wieder aufhören. Bei Jugendlichen, durchaus auch schon ab elf, zwölf Jahren, sind Eltern darauf angewiesen, dass Kinder bei Problemen auf sie zukommen – auch bei Problemen im Netz. Das tun Kinder aber nur, wenn sie ein Vertrauensverhältnis zu ihren Eltern haben und sich nicht permanent davor fürchten, Ärger zu bekommen.
Wie gebe ich meinen Kindern digitales Rüstzeug mit? Oft sagen sie ja: «Das weiß ich eh schon!» Fürs Kind ist klar, dass es immer alles besser weiß. Das sind normale Generationskonflikte. Aber: Lassen Sie sich als Eltern davon nicht abschrecken, denn oft genug stimmt es nicht. Sensibilisieren Sie Ihr Kind immer wieder für die Gefahren im Netz. Erlebt es dann brenzlige Situationen, wird es sich an Ihre Gespräche erinnern und fällt nicht völlig vom Glauben ab, wenn es beispielsweise ungefragt ein Nacktbild zugeschickt bekommt. Gut ist, wenn Sie einen konkreten Gesprächseinstieg haben, wie Ihr Beispiel eben mit Snapchat. Dann schauen Sie als Elternteil nicht von oben auf das Thema herab, sondern begegnen dem Kind auf Augenhöhe.
Ein großes Thema ist die Bildschirmzeit. Was raten Sie da? So groß ist das Thema Bildschirmzeit eigentlich gar nicht. Man sollte Kinder natürlich nicht unbegrenzt rumdaddeln lassen. Es muss Grenzen geben. Aber schauen Sie mehr auf die Inhalte statt auf die Uhr. Es geht nicht so sehr um die Gesamt-Bildschirmzeit. Denn: Wir können heute ohnehin nicht mehr trennen zwischen Offline und Online, weil sich fast alle Tätigkeiten ins Netz verschieben. Früher haben wir stundenlang mit Freunden das Festnetztelefon blockiert. Heute sind es Messenger & Co, über die wir mit den Freunden zusätzlich zum Telefonieren kommunizieren.
Wie gehen Eltern also konkret vor? Schauen Sie sich die Handy-Nutzung Ihres Kindes an und gehen Sie logisch vor. Aber lassen Sie nicht das Handy zu einer bestimmten Uhrzeit oder nach einer vorgegebenen Dauer automatisch ausschalten. Das ist gemein und provoziert die Konflikte erst. Stellen Sie sich vor, Ihr Kind spielt gerade ein Game am Handy und das geht mitten im Level aus. Oder der Video-Call mit dem Freund bricht einfach ab. Das wäre für Erwachsene genauso frustrierend. Besser ist es, plausible Zeiteinheiten zu finden, nach denen das Kind das Handy weglegen soll. Da kommt es nicht auf ein oder zwei Minuten an – das können Sie Kindern nicht erklären. Aber Sie können ihnen logisch klarmachen, warum Sie zum Beispiel beim Game nur eine Dauer von zum Beispiel einem Level erlauben oder das Gespräch mit den Freunden für die Dauer einer Schulpause.
Bei welchen Themen im Netz brauchen Kinder Begleitung? Ich zähle einmal einige wichtige Themen auf, viel mehr Infos gibt es dazu in meinem Buch. Cybermobbing ist etwas, wo Kinder Rüstzeug benötigen: Wieso mobbt jemand, warum wird so viel Hass verbreitet, was macht Anonymität mit Menschen? Hass ist ein Riesending im Netz, damit müssen alle Kinder, die Social Media nutzen, lernen umzugehen. Schauen Sie sich einmal mit Ihrem Kind die Kommentare im Web an und überlegen gemeinsam: Was ist konstruktiv? Was ist ein Hater-Kommentar? Was ist nur durch die Masse getragen? Welche Kommentare würden Leute sich nie trauen, jemand anderem live zu sagen? Und welche Kommentare sind automatisch von Bots erstellen worden?»
Cybergrooming, also dass sich Erwachsene mit sexuellen Absichten an Minderjährige ranmachen, ist auch ein Riesenthema. Dazu könnten wir ein eigenes Interview führen... Ja. Kinder sollten wissen, wie sie sich selbst daraus befreien können, wenn sie sich durch Cybergrooming bedrängt fühlen. Sie können sich Hilfe holen über Vertrauenspersonen oder Beratungsstellen. Außerdem müssen Screen Teens über Funktionsweisen von Algorithmen Bescheid wissen. Mit wem man sich im Netz anfreundet, wird zu großem Teil durch Kontaktvorschläge gelenkt. Heißt: Algorithmen merken sich, mit wem man Kontakt hatte, und schlagen ähnliche/passende Personen wieder vor. Wer also häufig Cybergrooming erlebt, steckt womöglich in einer so genannten Filterblase. Schon deshalb ist es wichtig für Eltern zu wissen, was ihr Kind im Netz macht. Input ist gleich Output. Kinder – genauso wie Erwachsene – kreieren ihre Inhalte selber.
Hm, dabei glauben wir, uns berieseln zu lassen... ... doch dem ist nicht so. Wer sich 20-mal gewaltvolle Filme angeschaut hat, bekommt immer wieder Gewaltfilme angezeigt. Wer über eine massiv datensammelnde Suchmaschine wie Google recherchiert, bekommt auf allen möglichen Seiten später dazu passende Werbung angezeigt. Die persönlichen Daten, darunter eben auch Interessen der Internetnutzerinnen und -nutzer, sind für Firmen Gold wert. Anderes Beispiel: Wer sich im Netz für konkrete Verschwörungserzählungen interessiert, wird auch davon weitere angezeigt bekommen.
Ein großes Thema ist da auch die Aufklärung über Falschnachrichten. Kinder glauben gern alles, was ihre Lieblings-Youtuber oder -Tiktoker so erzählen. Gerade in Social Media wird vieles für bare Münze genommen. Ohne Quellenangabe, ohne Verständnis dafür, welche wirtschaftlichen und politischen Interessen dahinterstehen könnten und welchen Schaden Falschnachrichten anrichten können. Auch hier hilft das Gespräch. Gehen Sie als Eltern immer wieder darauf ein und fragen Sie: Woher weißt du das? Ist das eine gesicherte Info? Woher weiß der Influencer das? Das lässt sich auch mit Memes trainieren, die ja oft ein (angebliches) Faktum ohne Beleg enthalten. Natürlich finden die Kinder die Quellen nicht immer heraus, und ja, die Nachfragen ihrer Eltern nerven sie. Aber irgendwann fangen die Kinder an, ihre Informationsquellen selbstständig zu hinterfragen.
In Ihrem Buch empfehlen Sie Alternativen zu den Monopolisten, die unsere Daten sammeln und verkaufen. Empfinden es Kinder überhaupt als etwas Schlechtes, gläserne User zu sein? Ich habe oft Workshops in Schulen gemacht. Wenn es da um personalisierte Werbung ging, haben Teenager natürlich erst einmal gesagt: «Ich find das praktisch, wenn mir Werbung von Produkten angezeigt wird, die ich ohnehin gut finde.» In den Workshops habe ich es zwar geschafft, dass sie über Tracking und die Anfeuerung von Kauflust nachdenken, aber ob es langfristig geholfen hat, weiß ich nicht. Trotzdem ist es wichtig, Kindern zu vermitteln: Bei den meisten Apps, hinter denen eine große Werbemaschinerie steckt, verfügen die Unternehmen über viele Geldmittel, mit denen sie die alternativen Anbieter erdrücken können. Dass eine App von großen Massen genutzt wird, sagt über ihre Qualität nicht viel aus. Kinder sollten Alternativen, vor allem quelloffene, lizenzfreie Programme kennenlernen, die nicht auf das Sammeln und Verkaufen von Daten aus sind. Auch für WhatsApp, Facebook, Instagram und Twitter (jetzt X) gibt es Alternativen. Das ist in meinen Augen der erste wichtige Schritt. Ob sie letztlich doch zu den altbekannten Apps greifen, ist eine andere Frage.
Beim Thema WhatsApp könnten Jugendliche die Tragweite durchaus verstehen: Wenn man ihnen erklärt: Das Unternehmen kann auf alle Kontakte im Adressbuch zugreifen – auch auf jene, die den Messenger-Dienst nicht nutzen. Und damit verstößt man gegen die Rechte dieser Personen. Ja, Kinder erfassen diesen Schreckmoment. Aber das heißt noch nicht, dass sie auf WhatsApp verzichten. Auf lange Sicht passiert in punkto Sensibilisierung durchaus etwas. Haben sie im Kinder- und Jugendalter von Datenflüssen und Spuren gehört, erinnern sie sich im Erwachsenalter wieder daran. Bei WhatsApp haben mittlerweile viele Menschen verstanden: Ihre Daten sind dort nicht in guten Händen. Einzelne Menschen steigen aber ungern um. Doch vielleicht lässt sich anregen, dass die gesamte Schulklasse auf alternative Messenger wie zum Beispiel Signal wechselt.
Ab wann können Kinder die digitale Verantwortung selbst übernehmen? Es gibt gute Gründe, warum die meisten Apps ab 13 oder 16 sind. Daran sollte man sich schon halten. Mein Rat: Erlauben Sie als Eltern keine App, deren Funktionen Sie sich nicht vorher angeschaut und mit dem Kind besprochen haben. Zugleich brauchen sie sich nicht verrückt machen, wenn eine neue App auf den Markt kommt. Denn die Mechanismen sind gleich: Man tauscht Fotos aus, man chattet miteinander – das unterscheidet sich nicht groß voneinander. Das bringt viel Entspannung für Eltern, die fürchten, dass sie nicht allem Neuen hinterherkommen.
Titelfoto: stutterstockIch hätte auch Lehrerin werden können, doch weil ich lieber lerne als lehre, bringe ich mir mit jedem neuem Artikel eben selbst etwas bei. Besonders gern aus den Themengebieten Gesundheit und Psychologie.