Kritik
Filmkritik: «Free Guy» ist verdammt witzig – es hätte aber mehr dringelegen
von Luca Fontana
Also doch: Disney traut sich endlich, den Söldner mit grosser, frecher Klappe von der Leine zu lassen. Aber selbst zwischen Multiversums-Wahnsinn und gewohnt kreativem Schlachtfest findet sich eine überraschend emotionale Story. Let’s f*cking go!
Eines vorweg: In dem Review gibt’s keine Spoiler. Du liest nur Infos, die aus den bereits veröffentlichten Trailern bekannt sind.
Keine fünf Minuten dauert es, ehe ich mich entspannt in den Kinosessel zurücklehnen und beruhigt aufatmen kann. Meine Befürchtungen, dass die immerzu auf Familienfreundlichkeit getrimmten Fesseln Disneys dem «merc with a mouth» das Maul stopfen könnten, lösen sich buchstäblich in blutigen Fetzen auf. Stattdessen beobachte ich vergnügt, wie Deadpool inmitten seines morbiden Gemetzels voller Elan die Hüften zu *NSYNCs «Bye Bye Bye» schwingt. «Maximum effort», haucht er vorher noch zart in die Kamera.
Jep, Ryan Reynolds’ Deadpool ist sowas von zurück.
Nichts läuft für Deadpool. Vor allem nicht in seinem «X-Men»-Universum, Erde-10005. Dort muss er nämlich der traurigen Wahrheit ins Auge sehen: Vanessa (Morena Baccarin) hat ihn verlassen, sein Möchtegern-Helden-Dasein hat er durch einen langweiligen Autohändler-Job ersetzt, und seine Freunde kann er an einer Hand abzählen. Eine deprimierende Überraschungsparty, von besagten Freunden organisiert, ist das Letzte, was er braucht.
Doch dann bekommt Deadpool Besuch von der Time Variance Authority (TVA). Er soll auf Erde-616 zum Avenger werden und dort eine unheimlich wichtige, aber noch unbekannte Aufgabe übernehmen. Dafür müsse er bloss seine wenigen Freunde zurücklassen, die sowieso dem Untergang geweiht seien, erklärt Paradox (Matthew Macfadyen), der TVA-Mitarbeiter aus dem mittleren Management, lapidar. Denn das sogenannte Ankerwesen von Erde-10005 ist gestorben – und so stirbt auch, nach den Gesetzen des Multiversums, dessen Universum langsam mit ihm.
Deadpool hat die Wahl: Entweder wird er endlich ein Avenger – sein Traum, seit er das Multiversum zum ersten Mal bereist hat –, oder er rettet seine eigene Welt. Nur braucht er für letzteres eine neue Version des Ankerwesens. Wie gut, dass das Multiversum gleich mehrere davon parat hat – auch wenn sein Eingreifen eine neue, viel grössere Gefahr heraufbeschwören würde.
Es passiert. Schon wieder. Ryan Reynolds beleidigt und presst alles, was nicht heilig ist, durch den Fleischwolf. Moment. Streich das «heilig». Dem Typen ist nichts heilig. Ausser vielleicht die eine Regel, die ihm Marvel-Chef Kevin Feige auferlegt hat: kein Koks im Film. Kein Nasen-Konfetti. Kein Feenstaub. Und – anders als in Disneys «Frozen» – werden hier auf gar keinen Fall Schneemänner gebaut. «Cocaine is off the table!», schimpft er traurig durch die vierte Wand, weil das ein herber Verlust für ihn ist. Das wissen «Deadpool»-Kennerinnen und -Kenner natürlich.
Baff bin ich trotzdem. Die ersten Trailer liessen zwar schon durchblitzen, dass Deadpool das Marvel-Filmuniversum aufs Korn nehmen darf. Ein wenig, zumindest. Etwa, wenn Deadpool sich selbst als Marvel-Jesus feiert, der das MCU aus seiner nicht enden wollenden Reihe von Misserfolgen retten soll. So richtig glauben wollte ich’s aber erst, wenn ich es mit eigenen Augen gesehen hätte. Und was ich sah, reicht weit übers «aufs Korn nehmen» hinaus.
Tatsächlich könnte der ganze Film als eine einzige irrwitzige Meta-Aussage darüber interpretiert werden, wie das alte Fox-Universum seit dem Tod seines «Ankerwesens» langsam dahinrafft und von Filmstudio Disney gerettet werden soll – in Form des unerhört obszönen und immerzu fluchenden Deadpools. Ausgerechnet.
Zumindest ist das die Version, die Deadpool glauben will. Denn Deadpool macht gerade eine Midlife-Crisis durch. Eine, an der seine Beziehung mit Vanessa zerbrochen ist. Wo ein grimmiger Mann mit Adamantium-Klauen das Ankerwesen von Erde-10005 war, ist Vanessa sowas wie Deadpools «eigenes» Ankerwesen. «Seine» Welt scheint darum genauso langsam dahinzuraffen wie das Universum selbst. Gelingt es Deadpool, Erde-10005 zu retten, rettet er womöglich auch seine Beziehung. Oder zumindest seine Freunde. So die Theorie des einstigen Super-Söldners.
Die Praxis ist natürlich nicht so einfach. Deadpool läuft nicht erst seit dem Auftauchen der TVA von seinen Gefühlen davon. Genau darin liegt der emotionale Kern der Story: die Frage, was einen wahren Helden ausmacht.
Zugegeben, innovativ ist das nicht. Vielleicht sogar das abgelutschteste Klischee des gesamten Superhelden-Genres. Und doch: Reynolds und Regisseur Shawn Levy, die zusammen das Drehbuch geschrieben haben, geben ihre Schüsse auf die wunden Punkte ihrer Helden unheimlich zielsicher ab. So sehr sogar, dass selbst die fantasievolle Metzelei im ganzen Multiversums-Irrsinn nicht die eine oder andere Männerträne zurückhalten kann.
Dass «Deadpool & Wolverine» nicht nur saukomisch und brutal ist, sondern auch eine gehörige Portion Herz mitbringt, ist auch Hugh Jackmans langersehnte Rückkehr als Wolverine zu verdanken.
Wie die zustande kam, erzählte der Australier gerade erst vor ein paar Wochen während einer exklusiven Pressekonferenz, an der ich teilnehmen durfte. Damals habe er noch während seinen Dreharbeiten zu «Logan» stolz verkündet, ganz bestimmt zum allerletzten Mal in die Rolle des Wolverine zu schlüpfen und dem «X-Men»-Universum dann endgültig den Rücken zu kehren. Schliesslich sei er mittlerweile auch einfach «zu alt für den Mist». Dann kam «Deadpool» in die Kinos. Hugh Jackmans erster Gedanke, als der Abspann lief: «Fuck. Hätte ich bloss die Fresse gehalten.»
Bis Deadpool und Logan endlich im gleichen Film auftreten durften, mussten sich Fans gedulden. 20th Century Fox befand sich gerade im Übernahme-Prozess durch Disney. Ob und wie Deadpool ins familienfreundliche MCU passen würde, hatte für Kevin Feige keine Priorität. Und da Wolverine in «Logan» schon ein episches, würdiges Finale gefunden hatte, war das Thema eigentlich eh vom Tisch.
Und nur so nebenbei: Nein, die jämmerliche Verunstaltung von Deadpools Charakter in «X-Men Origins: Wolverine» aus dem Jahr 2009 zählt nicht als Crossover. Punkt.
In der Tat hatte Reynolds schon kurz nach «Deadpool 2» im Jahr 2018 eine Story-Idee für eine Wolverine-Rückkehr, so Reynolds während derselben exklusiven Pressekonferenz. Kevin Feiges diplomatische Antwort darauf: «Nein.» Reynolds drehte in der Zwischenzeit andere Filme. «Free Guy». Dann «The Adam Project». Beides Filme, bei denen Shawn Levy Regie führte. Reynolds und Levy verstanden sich so gut, dass Reynolds beschloss, mit Levy auch den dritten «Deadpool»-Film schreiben und drehen zu wollen.
Hugh Jackman indes trat am Broadway in «The Music Man» auf. Eines Abends, immer noch darüber reminiszierend, zu früh seinen Abschied von Wolverine verkündet zu haben, rief er aus einer puren Laune Reynolds an. Reynolds sei gerade im Aufzug mit Levy und auf dem Weg zu einem finalen Story-Meeting mit Kevin Feige für «Deadpool 3» gewesen. In den wenigen Minuten, die ihnen noch bis zum Meeting blieben, schusterten Reynolds und Levy eine komplett neue Story zusammen – mit Wolverine als zentralen Charakter. Ein letzter, verzweifelter Versuch, doch noch das epische Team-Up zu bekommen.
Voilà: Feige war begeistert. Die Rückkehr Wolverines besiegelt. Und ein gänzlich neuer Film geboren.
Wir werden wohl nie erfahren, wie die Geschichte eines dritten «Deadpool»-Films ohne Wolverine ausgesehen hätte. Dass es überhaupt mal eine Version ohne ihn gab, mutet schon beinahe lächerlich an, so zentral ist dieser Charakter für die jetzige Story. Müde davon, Hugh Jackmans mies gelaunt grunzen zu sehen, während er die Krallen ausfährt, werde ich sowieso nicht. Niemand wird das. Nicht mal Feige. Das sagt auch Deadpool. Denn Feige werde ihn melken, bis er neunzig sei, so der Merc.
Vermutlich hat er sogar recht. Hat er mit vielen seiner Meta-Aussagen. Ich hätte kein Problem damit. Jackman und Reynolds harmonieren perfekt. Genauso wie ihre Charaktere Wolverine und Deadpool. Mal als eine Art Buddy-Cop-Komödie mit FSK-16-Freigabe. Mal als blutige Cage-Fight-Action-Bonanza in einem Honda Odyssey. Und mal auch als Charakterstudie über Verlust, Familie und Schuldgefühle. Keine der beiden kommt zu kurz. Und wo nötig, lässt das Drehbuch sogar den ruhigen, emotionalen Momenten Zeit zum Atmen. Gerade letzteres ist eigentlich eine nervige Marvel-Krankheit, wenn im dümmsten Moment ein Witz der Szene die emotionale Wirkung nimmt. Hier nicht. Gottseidank.
Dabei hat «Deadpool & Wolverine» mit seiner Multiversum-Absurdität alle Hände voll zu tun. So wimmelt es nur so von unerwarteten, aber umso grandioseren Cameo-Auftritten. Anders als in «Doctor Strange in the Multiverse of Madness» fühlen sie sich aber nie wie reiner Fan-Service an. Stattdessen passen sie wie die Faust aufs Auge, lösen bestimmte Charakterentwicklungen aus oder beeinflussen den Plot sogar nachhaltig.
Cameos hin oder her: «Deadpool & Wolverine» könnte trotzdem sowohl als ultimativer «Deadpool»- als auch als ultimativer «Wolverine»-Film durchgehen. Kein Wunder: Schon in den Comics verbindet die beiden Charaktere eine verdammt gut geschriebene Hassliebe. Diese endlich auch auf der Grossleinwand zu sehen, ist die Erfüllung meines Traums. Und dass das inmitten von brachialer Action passiert, die aber nie überbordet und grösser als seine eigenen Charaktere wird, ein Segen.
Wehe, die hören jetzt damit auf.
Keine Frage: «Deadpool & Wolverine» ist nicht nur einer der besten MCU-Filme aller Zeiten. Oder der barbarischste, wenn’s um Gewaltdarstellung geht. Sondern auch der dringend benötigte Triumph, den Marvel seit «Avengers: Endgame» brauchte. Vor allem im Kontext des Multiversums. James Gunn's «Guardians of the Galaxy: Volume 3» vermochte den Zauber früherer und erfolgreicherer MCU-Zeiten zwar heraufbeschwören. Aber vielleicht auch nur, weil sich die Story dort nicht ums Multiversum scherte.
Was bleibt, ist die Hoffnung. Die Hoffnung darauf, dass wir die dunklen Zeiten, in denen man nicht so recht wusste, wo Marvel mit der Multiversum-Saga hinwill, endlich vorbei sind. Schliesslich ist jetzt ja Deadpool da. Pardon, Marvel-Jesus. Und der hat hoffentlich noch lange nicht ausgeflucht.
Kinostart ist der 24. Juli.
Abenteuer in der Natur zu erleben und mit Sport an meine Grenzen zu gehen, bis der eigene Puls zum Beat wird — das ist meine Komfortzone. Zum Ausgleich geniesse ich auch die ruhigen Momente mit einem guten Buch über gefährliche Intrigen und finstere Königsmörder. Manchmal schwärme ich für Filmmusik, minutenlang. Hängt wohl mit meiner ausgeprägten Leidenschaft fürs Kino zusammen. Was ich immer schon sagen wollte: «Ich bin Groot.»