Body Positivity: Warum ich nicht jede Narbe, jedes Kilo, jedes Grübchen freudig umarmen will
Frauen werden heute für üppige Bäuche genauso geschmäht wie für Sixpack oder schmale Hüften. Na toll. Was kann der Ausweg sein? Body Neutrality.
Ich fühle mich von Nackten umzingelt – und zwar nicht nur im Bad oder in der Sauna. In der digitalen Welt vor allem von Frauen (jungen wie alten), die mir stolz ihre üppigen Bäuche, Pos und Hüften entgegenhalten – weil: Body Positivity. Mittlerweile in den sozialen Medien omnipräsent, werden ihre Wurzeln gerne vergessen: In der ursprünglichen Bewegung ging es um die politische Antwort auf die extreme Gewichtsdiskriminierung in unserer Gesellschaft.
Heute scheint dieses Ziel verwässert: Unter dem Hashtag #bodypositivity finden sich meistens Posts, die sich eher der #bodyconfidence annehmen, also dem körperbezogenen Selbstbewusstsein. Deshalb hagelt es auch immer wieder Kritik von Feministinnen: Denn so wie Body Positivity auf Instagram & Co. nun dargestellt wird, geht es wieder einmal um Attraktivität. Eine echte Befreiung von (Selbst-)Objektivierung erscheint so unmöglich. Monetarisiert und politisiert wurde die eigentlich so wichtige Bewegung, bis sie schließlich zerfranste.
Body Positivity im Reality-Check
Und in der analogen Welt? Werde ich vor allem akustisch bedrängt. Neben den abfälligen Kommentaren über die Körperformen anderer Menschen höre ich auch so manche, die eigentlich nett gemeint sind, aber zu hinterfragen sind. Weil die Gratulation zum Gewichtsverlust immer noch so etwas wie das goldene Kalb unter den Komplimenten ist – nebst dem zweifelhaftem «Für deine XX Jahre siehst du ja toll aus». Aber Gewicht zu verlieren? Das erscheint noch erstrebenswerter als nicht zu altern.
Und dann kämpfen in mir zwei Seiten, nein, sogar drei: Das Mädchen, das sich darüber freut, dass es gefällt. Die Frau, die genau das zum Kotzen findet. Und die Journalistin, die weiß, dass nicht unbedingt jedes Pfund eines zu viel ist. Dennoch führt in einem gewissen Alter gröberes Übergewicht – vor allem, wenn man zudem unsportlich ist – zu Problemen mit der Beweglichkeit, der Gesundheit und daher auch mit dem Wohlbefinden. Muss ich dazu noch mit Studien und Fakten um mich werfen? Ich denke nicht. Krasses Unter- sowie Übergewicht ist nicht gesund. Punkt.
Body Shaming: Jetzt dürfen wir uns alle mies fühlen
Ich gebe es zu: Obwohl selbst über dem idealen Body Mass Index (der, obwohl heute oft kritisch betrachtet, immer noch sehr oft als allein massgeblich für Übergewicht gesehen wird), bin ich kein Fangirl der derzeitigen Body-Positivity-Bewegung. Schon klar: Es ist wichtig und gut, dass unsere Gesellschaft Körperformen abseits eines unrealistischen Supermodel-Ideals akzeptiert. Ich denke aber: Auch eine Frau, die sich in ihrem Körper unwohl fühlt, hat ein Recht darauf, das zu ändern oder ändern zu wollen. Nicht nur jeder Körper ist anders, auch der individuelle Wohlfühlfaktor.
Es ist nichts falsch daran, uns selbst zu lieben, wenn wir uns damit konfrontieren, was diese «Liebe» bedeutet. Ich wehre mich nur gegen die Vorstellung, dass wir in der Lage sein sollten, einen ständigen Strom von Glücksgefühlen zu empfinden – oder dass wir jedes Grübchen, jedes Wackeln, jeden Zentimeter freudig umarmen müssen.
Neutrale Freiheit: Verkneif dir den Kommentar
Und jetzt? Stecken wir in der Bredouille. Menschen (und wenn ich Menschen sage, meine ich tendenziell eher Frauen) werden nicht nur geschmäht, wenn sie ihren üppigen Bauch nackig präsentieren, sie werden auch geschmäht, wenn sie Sixpack oder schmale Hüften zeigen. Yeah. Das haben wir ja wirklich toll gemacht! Endlich kann sich jede Frau ausgegrenzt und bewertet fühlen – «Shaming-Equality» liegt nebst Body Positivity total im Trend. Das einzige Gegengift? Körperneutralität aka Body Neutrality.
Zu besseren Erklärung: Body Positivity ermutigt dich, dich immer schön zu fühlen und deinen Körper in jeder Größe zu lieben. Hingegen konzentriert sich Körperneutralität mehr darauf, wie du dich fühlst, als darauf, wie du aussiehst. Body Neutrality lädt dazu ein, sich selbst und andere zuerst als ganze Menschen zu verstehen und ein Werte-Konzept auch auf der Grundlage des inneren Selbst einer Person zu entwickeln.
Sie hilft also, die vielen Schichten komplexer sozialer Konditionierung abzustreifen, die dir eintrichtern, was unterschiedliche Körperformen bedeuten, um schließlich die Wahrheit sehen zu können: Dass Schönheit, Schlankheit und Attraktivität angenehm sein können, aber nichts über den Charakter, die Persönlichkeit, den Lebensstil und das Glück eines Menschen aussagen.
Schau lecker, da ist mehr dran
Was bedeutet das in seiner aktiven Ausübung? Schlucks runter, also den nächsten (und jeden weiteren) Kommentar. Egal, ob in der digitalen oder realen Welt. Ich weiß, das ist leichter gesagt als getan. Körper zu bewerten, ist alltäglich – aber ist es ein natürlicher Instikt oder doch nur gesellschaftlich angelernt? Wurden wir darauf konditioniert uns gegenseitig zu schwächen, indem wir uns permanent bekritteln? Oder steckt da einfach noch der Ur-Mensch in uns, dem Gesundheit – und daher Fruchtbarkeit – über alles geht?
So oder so, ich finde es unangenehm, wenn mir solche «Komplimente» gemacht werden: ‹dass bei mir die Pfunde ja eh gut aussehen›, ‹dass an mir mehr dran ist, und das sei soooo sexy›. Ich fühl mich dann immer ein bisschen wie die preisgekrönte Sau am Dorffest. ‹Schau lecker, da ist mehr dran›.
Unlängst wurde ich aber Zeugin einer weitaus unangenehmeren Situation. Frau A zu Frau B im Schwimmbad, offensichtlich entfernte Bekannte: «Wow, so super, du hast ja ordentlich abgespeckt. Wie hast du das gemacht?» Frau B: «Ich habe Darmkrebs.» Grauslich, gell? Aber das ist der Preis dafür, wenn man sich gehen lässt. Nicht körperlich. Sondern menschlich.
Titelfoto: shutterstockLebe lieber ungewöhnlich: Ob Gesundheit, Sexualität, Sport oder Nachhaltigkeit, jedes Thema will entspannt, aber aufmerksam entdeckt werden. Mit einer gehörigen Portion Selbstironie und niemals ohne Augenzwinkern.