Andropause: die Wechseljahre der Männer
Wechseljahre – das ist ein Begriff, den wir ausschliesslich Frauen zuschreiben. Aber auch Männer werden ab 40 mit einer Umstellung ihres Hormonhaushaltes konfrontiert. Bericht eines Betroffenen.
Meine erste Konfrontation mit Geschlechtsverkehr im weiteren Sinne fand in einem Wohnblock am linken Zürichseeufer statt. Ein Gymi-Kollege hatte Zugriff auf entsprechende Videokassetten seines Vaters, die er mir und zwei anderen an einem Mittwochnachmittag vorführte, was seinen sozialen Status erheblich steigerte. Es gab damals, Ende der 1980er-Jahre, noch kein Internet und keine Smartphones. Wir mussten uns die Pornographie noch regelrecht erarbeiten. Sie war in elterlichen Kleiderschränken versteckt, auf VHS oder in abgegriffenen Magazinen.
Ich war begeistert. Lauter nackte Frauen in aufreizenden Posen! Nicht mal in meinen kühnsten Phantasien hatte ich mir solch herrliche Szenen ausgemalt, und ich wollte nichts mehr, als sie sofort selber in die Tat umzusetzen. Dem stand allerdings die Realität entgegen: Ich war ein pickliger Teenager, und Frauen fanden mich, falls sie mich überhaupt beachteten, allenfalls niedlich. Rundherum wurde geknutscht, und ich stand daneben und trank Martini Bianco.
Eines Tages, ich besass längst einen Führerschein, verliebte ich mich in eine Frau, die meine Gefühle erwiderte, was mich erst mal in einen Schockzustand versetzte. Aber ich erholte mich rasch, und schon bald war Sex zum Zentrum meines Daseins geworden. Ich dachte ständig an Sex, redete ständig über Sex, und wenn ich mich recht erinnere, hatte ich auch von früh bis spät eine Erektion.
Ein Leben ohne Latte?
In jenen Tagen las ich, dass Rudy Giuliani, damals Bürgermeister von New York, Prostatakrebs hätte und die Operation, der er sich unterziehen müsse, den Verlust der Erektionsfähigkeit zur Folge hätte. Ich fragte mich, warum so etwas in der Zeitung stehen muss, und beschloss, mich sofort umzubringen, würde ich jemals meine Erektionsfähigkeit verlieren. Ein Leben ohne Latte? Unerträglich. Unvorstellbar.
Meine sexuelle Hochblüte war eine erfreuliche Phase. Sie bildete aber auch die Grundlage für ein Problem, das sich erst Jahre später bemerkbar machen sollte: Die Frauen, mit denen ich intim war, erlebten einen Mann, der ständig Sex haben wollte und konnte. Und sie begegneten später anderen jungen Männern, die ebenfalls ständig Sex haben wollten. Es ist ihnen daher nicht zu verdenken, dass sie aus diesen Erfahrungen die feste Überzeugung ableiteten, dass Männer ständig Sex haben wollen und können. Egal, wie alt sie sind.
Mit Ende 30 bemerkte ich, dass mein Vorhaben, mit allen schönen Frauen der Stadt zu schlafen, an Dringlichkeit einzubüssen begann, was aber nicht weiter schlimm war. Es bedeutete ohnehin eine Menge Stress und Enttäuschung. Und mein Penis war auch nicht unglücklich darüber, nicht mehr ein- bis zweimal pro Tag einer rabiaten Erleichterungsmassnahme unterzogen zu werden.
Die erste Unlust
Das erste Mal eindeutig keine Lust auf Sex hatte ich mit 44. Das war vor allem deswegen unangenehm, weil er gerade dabei war, sich zu ergeben. Aber es interessierte mich einfach nicht. Ich wollte lieber Musik machen mit meinem Synthesizer. Das sagte ich natürlich beides nicht. Ich sagte: «Ich mag gerade nicht, ich bin müde, tut mir leid.»
Die Frau, die sich das anhören musste, hatte bis zu diesem Moment in der bereits erwähnten Überzeugung gelebt, dass so etwas ganz und gar unmöglich ist. Ein Mann, der keine Lust hat? Der zu müde sein will für Sex, und das am Nachmittag? Das muss ein Code sein für «Ich liebe dich nicht mehr» oder «Ich finde dich nicht mehr attraktiv». Entsprechend gekränkt und verunsichert war sie. Ich versuchte, mich zu erklären, was aber misslang – nicht zuletzt, weil ich selber irritiert war. Ich kannte mich so nicht.
Mit der nächsten Partnerin fiel es mir leichter, mein Problem zu benennen. Ich sagte schon zu Beginn: Hör mal, ich bin nicht mehr zwanzig, ich habe nicht mehr jeden Tag Lust auf Sex. Wir richteten ein Ampelsystem ein: Rot heisst «keine Lust auf Sex», gelb heisst «aktuell keine Lust, könnte mich aber durchaus animieren lassen», und grün heisst «los, ausziehen». Es gibt zwar ein gewisses Ungleichgewicht, aber keine Kränkung. Meine Unlust wird nicht mit dem Zustand der Beziehung oder meiner heimlichen Einschätzung der Attraktivität meiner Partnerin gleichgesetzt.
Ich finde Sex weiterhin grossartig, ich finde ihn sogar aus diversen Gründen wesentlich grossartiger als früher. Ich habe auch immer noch ziemlich häufig Lust darauf. Naja, wenn ich «ziemlich häufig» lese, klingt das nach mehr, als es ist. Am besten vergleichen wir meine Libido mit einem Campingfeuer, in das schon länger keine frischen Scheite gelegt wurden, das man aber dennoch nicht unbeaufsichtigt lassen sollte.
Ergösse sich nun aber ein Gewitter über dem Campingplatz und brächte das Feuer für immer zum Erlöschen, würde ich mir nicht das Leben nehmen deswegen. Was für ein lächerlicher Quatsch.
Das Ganze hat einen Namen
Ich bin jetzt 48 Jahre alt und in der Andropause. So lautet das Wort für die männlichen Wechseljahre – ein Begriff, den wir ausschliesslich mit Frauen in Verbindung bringen. Die hormonelle Umstellung betrifft jedoch auch Männer, und die Unterschiede sind gar nicht mal so gross (Müdigkeit, Stimmungsschwankungen, Schlafstörungen etc.). Während jedoch allgemein bekannt ist, dass Frauen irgendwann nicht mehr menstruieren und somit ihre Zeugungsfähigkeit verlieren, ist der Begriff Andropause noch weitgehend ungeläufig; es ist sogar umstritten, ob die Andropause als solche überhaupt existiert.
Ausserdem ist er nicht ganz korrekt. Die Menopause bezeichnet die letzte Monatsblutung im Leben einer Frau und somit einen konkreten Zeitpunkt in der Phase der Wechseljahre. Eine entsprechende Zäsur fehlt beim Mann. Seine sexuelle Lust nimmt einfach zusehends ab (während dafür seine Lust, gegen eine angebliche «linksgrüne Diktatur» zu wettern, im gleichen Mass zuzunehmen scheint).
Es ist nicht verwunderlich, dass Männer untereinander nicht über die Andropause reden. Denn nicht nur die Frauen, die uns nahe waren, haben bislang unter dem Eindruck gestanden, dass wir unermüdliche Liebesmaschinen sind, sondern auch wir selbst. Warum sonst sehen wir uns bemüssigt, die Welt bei jeder Gelegenheit unserer Zeugungskraft zu versichern? Fragt uns jemand, wieviele Kinder wir hätten, grölen wir: «Zwei! Von denen ich weiss! Höhöhö!» Müssen wir beim Arzt eine Spermaprobe abgeben, zeigen wir auf das Gefässlein und rufen: «Das ist aber viel zu klein für mich, höhöhö!» Und wenn wir ein Tinder-Profil einrichten, richten wir die Suche auf Frauen aus, die 15 bis 20 Jahre jünger sind – als hätten die auf uns gewartet.
Es ist keine Krise
Früher fasste man diese Problematik unter dem Begriff Midlife-crisis zusammen und begründete sie mit Stress: Der Mann ist nicht mehr jung, er ist müde, er vermisst die innere Orientierung, er fragt sich, was im Leben noch komme und wo künftig Erfüllung zu finden sei. Warum blutjunge Freundinnen, Motorräder und Sauftouren mit anderen Graumelierten als kluge Antworten auf diese Fragen akzeptiert werden, ist ein Rätsel für sich, aber es handelt sich zumindest nicht um eine philosophische Krise oder Arbeitsüberlastung, sondern um eine körperliche Veränderung: Die Hormonproduktion lässt nach. Schleichender und milder als bei der Frau, aber dennoch überraschend und verstörend.
In besonders vertrauten Momenten reden wir trotzdem darüber. Dass die Behauptung, wir hätten zweimal pro Woche Sex, der Wirklichkeit schon lange nicht mehr standhält. Dass es eher alle zwei Wochen sind. Und dass auch alle vier Wochen völlig okay wären. Dass einige von uns dabei zu pharmazeutischer Unterstützung greifen. Dass wir unser Gegenüber im Restaurant nicht fragen, was es aus dem Menü wähle, weil es uns interessiert, sondern weil wir die Karte nicht mehr lesen können. Dass unser Urinstrahl, mit dem wir früher in aller Ruhe unseren Vornamen in den Schnee hinein pissten, heute nicht mal mehr für den Anfangsbuchstaben reicht.
Man könnte über den Verlust von Seh- und Manneskraft und den Beginn des Greisentums traurig werden. Und wird das auch manchmal. Man kann aber auch ziemlich gut darüber lachen. Erst recht, wenn es alte Freunde betrifft.
Vor allem aber ist der Abschied von der Jugend, so bitter er bisweilen sein mag, ein Privileg. Viele von uns werden keine 40 Jahre alt. Manche nicht mal 20. Es ist ein Geschenk, 50 Jahre und länger zu leben. Dass der Penis, einst ein umjubelter Stürmer, erst auf der Ersatzbank landet und schliesslich in die Garderobe geschickt wird, ist, meine ich, ein fairer Preis dafür.
Der Schriftsteller Thomas Meyer wurde 1974 in Zürich geboren. Er arbeitete als Werbetexter, bis 2012 sein erster Roman «Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse» erschien. Er ist Vater eines Sohnes und hat dadurch immer eine prima Ausrede, um Lego zu kaufen. Mehr von ihm: www.thomasmeyer.ch.