Smartphone-Kamera mit 1-Zoll-Sensor: Weniger toll, als es klingt
Die Kamera des Sharp Aquos R6 hat einen riesigen 1-Zoll-Sensor. Doch der grosse Qualitätssprung bei Smartphone-Kameras wird damit nicht eintreten. Denn die Gesetze der Physik gelten auch für Sharp.
Sharp hat für Juni das Smartphone Aquos R6 angekündigt. Es erscheint zwar nur in Japan, ist aber dennoch ein paar Zeilen wert. Denn die Kamera des Geräts hat einen 1-Zoll-Sensor. Die Diagonale beträgt zwar nicht wirklich ein Zoll, sondern nur 16 mm, aber das gilt für alle sogenannten 1-Zoll-Sensoren. Es ist die gleiche Grösse, die in der Sony RX100 VII oder anderen heutigen Kompaktkameras zum Einsatz kommt und mindestens die vierfache Fläche eines üblichen Smartphone-Kamerasensors aufweist.
Grosse Sensoren erreichen eine bessere Bildqualität. Schafft Sharp damit eine Sensation?
Ohne dass ich das Gerät je in der Hand gehalten habe, sage ich: Nein. Die Sensorgrösse allein macht aus einem Smartphone noch keine richtige Kamera. Denn die Grösse des Sensors muss zur restlichen Bauform des Geräts passen. Um es platt auszudrücken: Das Smartphone ist zu flach.
Brennweite und Blickwinkel
Ein grösserer Sensor zeigt, sofern alles andere gleich bleibt, einen grösseren Bildausschnitt. Um den gleichen Bildausschnitt wie bei einem kleinen Sensor zu erreichen, müsste die Brennweite länger werden. Doch das ist in einem Smartphone kaum machbar. Denn die Brennweite wird durch die Dicke des Gehäuses begrenzt. Sie darf nicht länger als der Abstand zwischen Objektiv und Sensor sein, sonst wird das Bild unscharf. Und da wir nun mal flache Smartphones wollen, kann die Brennweite nicht mehr als einige Millimeter betragen.
Darum erstaunt es nicht, dass der Bildausschnitt beim Sharp Aquos R6 einem Ultraweitwinkelobjektiv entspricht. Bei einer Vollformatkamera wäre es eine Brennweite von 19 Millimetern. Die meisten Smartphone-Kameras haben sowieso schon Weitwinkelobjektive, aber nicht so extrem, typischerweise im Bereich von 26 Millimetern Vollformatbrennweite. Für ein Porträt geeignet wären 50 Millimeter oder mehr. Die Kompaktkamera Sony RX100 VII hat einen Brennweitenbereich von 24 bis 200 Millimetern – immer umgerechnet auf das Vollformat.
Das in Zusammenarbeit mit Leica entwickelte Objektiv hat sieben Linsen, ist also für ein Smartphone-Objektiv sehr komplex. Es gibt optische Konstruktionen, die den Bildausschnitt grösser erscheinen lassen, als er mit der vorhandenen Brennweite sein müsste. Ein Telekonverter beispielsweise kann das. Ich dachte zuerst, dass Sharp hier einen solche optische Konstruktion verwendet.
Das ist aber nicht der Fall, wenn wir das mal durchrechnen. Ein 1-Zoll-Sensor hat einen Crop-Faktor von 2,7. Das heisst, dass es für den Bildausschnitt, der 19 Millimetern im Vollformat entspricht, eine reale Brennweite von 7 Millimetern braucht. Das Sharp Aquos R6 ist laut Spezifikation 9,5 Millimeter dick. Passt also. Es braucht keine optische Korrektur des Bildausschnitts.
Aus der Produktseite zu schliessen, dienen die sieben Linsen hauptsächlich dazu, Verzerrungen zu minimieren.
Das «Bokeh»
Sharp behauptet, das R6 habe ein echtes optisches Bokeh. Gemeint ist damit: Der Hintergrund verschwimmt, und zwar nicht von einer Software künstlich berechnet, sondern wegen des grossen Sensors.
Mal abgesehen davon, dass Bokeh etwas anderes ist als Tiefenunschärfe: Die Behauptung widerspricht den Gesetzen der Physik. Und auch hier liegt es an der Brennweite. Diese müsste viel länger sein, um einen Effekt zu erzeugen, wie er bei grossen Kameras entsteht.
Die Tiefenschärfe hängt von verschiedenen Faktoren ab, aber die Sensorgrösse gehört nicht dazu. Das ist ein weit verbreiteter Irrtum. Entscheidend ist die Brennweite. Wenn ein grösserer Sensor eine geringere Tiefenschärfe aufweist, liegt das daran, dass die Brennweite deutlich länger ist. Das ist fast immer der Fall, da für den gleichen Bildausschnitt eine längere Brennweite nötig ist. Doch wie wir gesehen haben, bleibt hier die Brennweite wegen des flachen Gehäuses sehr gering. Sie beträgt 7 Millimeter. Das ist zwar mehr, als Smartphones normalerweise haben, aber immer noch viel zu wenig, um eine wirklich geringe Tiefenschärfe zu erreichen. Ausser im Nahbereich, wo es aber schon mit einem normalen Smartphone möglich ist, ohne Software-Tricks einen unscharfen Hintergrund hinzubekommen.
Fazit: Grosser Sensor als Marketing-Gag
Der grosse Sensor hat zwar Vorteile. Sofern auch die Kamera-Software etwas taugt, wird das Sharp-Smartphone bei schwachem Licht und bei extremen Kontrasten wie einem Sonnenuntergang eine aussergewöhnliche Leistung liefern. Aber die japanischen Käufer können damit ausschliesslich Bilder im Ultraweitwinkelformat machen, was eine extreme Einschränkung gegenüber gewöhnlichen Smartphone-Kameras ist. Denn weitere Frontkameras hat das Gerät nicht. Und echtes Bokeh kannst du im Ultraweitwinkel auch gleich vergessen.
Wenn der grosse Sensor wirklich der grosse Durchbruch in der Smartphone-Fotografie wäre, würde das Gerät sicher nicht nur in Japan verkauft. Mit diesem Konzept bekommt Sharp zwar viel Aufmerksamkeit, deckt aber lediglich eine sehr spezielle Nische ab.
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