«White Bird» – Marc Forsters Ode an die Menschlichkeit
Mit «White Bird» wagt sich Marc Forster an ernste und aktuelle Themen wie Mobbing und Antisemitismus. Der Schwere zum Trotz soll das Kinopublikum aber auch einen Funken Hoffnung mitnehmen. Ich durfte mit dem deutsch-schweizerischen Regisseur über seine Motivation für seinen neuen Film sprechen.
Die junge Sara (Ariella Glaser) wächst von ihren Eltern geliebt und behütet in einem Dörfchen im Elsass auf. Für erste Risse in dieser Idylle sorgt der Einmarsch der Nazis in Frankreich. Die Ressentiments gegen jüdische Menschen werden immer stärker, was auch Saras Familie zu spüren kriegt. 1942 endet Saras unbeschwertes Leben endgültig. Sie und die anderen jüdischen Schülerinnen und Schüler sollen während des Unterrichts deportiert werden. Ihr gelingt zwar die Flucht, doch sie weiss nicht wohin. Da erfährt sie Hilfe von unerwarteter Seite. Ihr Mitschüler Julien (Orlando Schwerdt), der wegen einer Polio-Erkrankung körperlich beeinträchtigt ist und den sie bislang kaum beachtet hat, findet Sara und versteckt sie in einer Scheune neben dem Haus seiner Familie. Welche Risiken diese mutige und zutiefst uneigennützige Tat mit sich bringt, erfahren alle Beteiligten nach und nach.
«White Bird» ist nach «Wonder» die zweite Verfilmung eines Romans von Raquel J. Palacio. Bindeglied beider Filme ist der junge Julian (Bryce Gheisar). Hatte dieser in «Wonder» noch einen Mitschüler gemobbt, tut er sich nun selbst schwer an seiner neuen Schule. Als seine Grossmutter (Helen Mirren) davon Wind kriegt, erzählt sie ihm ihre Geschichte. Es ist die Geschichte von Sara im Elsass während des Zweiten Weltkrieges.
Es ist ein regnerischer Montagnachmittag im Mai. Von der Hotelbar des «La Réserve Eden au Lac» hätte ich beste Sicht auf den Zürichsee, und doch habe ich nur Augen für mein Gegenüber: Marc Forster. Der Mann, der auch mich mit seinen Filmen schon viele Stunden bestens unterhalten hat. Anlässlich des Starts von «White Bird» in den Schweizer Kinos weilt er für eine Vorpremiere in Zürich in seiner alten Heimat. Ich bin etwas nervös, denn trotz vieler Interviews zuvor hatte ich bislang nie die Gelegenheit, mit einer solchen Bekanntheit zu sprechen. Mit seinem freundlichen und interessierten Wesen sorgt Marc Forster allerdings dafür, dass meine Nervosität rasch verfliegt. Er hat das Schweizerdeutsch nach all den Jahren in den USA nicht verlernt, auch wenn sich immer wieder englische Ausdrücke daruntermischen.
Marc, du hast es geschafft: Mit deinem neuen Film «White Bird» hast du mir Tränen in die Augen getrieben. Was lösen solche Rückmeldungen in dir aus?
Marc Forster: Es freut mich natürlich, dass dich der Film bewegt hat. Mir ging es genauso, als ich das Drehbuch las. Es brachte mich fast zum Weinen. Deshalb wollte ich «White Bird» auch unbedingt machen. Ich hoffe sehr, dass ich die Menschen damit bewegen kann, gerade auch die Jungen. Bei einer Liebesgeschichte ist es ja immer eine Gratwanderung, vor lauter Gefühlen nicht ins Kitschige zu verfallen. Gleichzeitig hat der Film auch etwas Märchenhaftes, was im Gegensatz zur Grausamkeit des Zweiten Weltkrieges und des Holocausts steht.
Was genau hat dich denn an der Geschichte so bewegt?
Dazu trug zum einen meine eigene Situation bei, als ich das Drehbuch las. Das war während der Corona-Pandemie, etwa sechs Wochen nach dem Lockdown. Der grösste Teil von «White Bird» spielt sich in einer Scheune ab, auf sehr engem Raum. So etwas zu lesen, während ich selbst nicht raus konnte und in meinen eigenen vier Wänden quasi gefangen war, hat mich emotional noch viel mehr berührt. Zudem behandelt die Geschichte mit Mobbing und Antisemitismus Themen, die mir persönlich sehr wichtig sind. Ich habe den Eindruck, dass diese Probleme immer schlimmer werden, auch durch äussere Einflüsse wie Social Media. Ich möchte gerne dazu beitragen, den Kreislauf der Gewalt zu durchbrechen. Und da habe ich mir gedacht, wenn ich eine Geschichte mit diesen Themen als Liebesgeschichte erzähle und das die Menschen inspiriert, darüber zu sprechen und nachzudenken, dann habe ich meinen Job gemacht.
«Vive l’Humanité!» («Lang lebe die Menschlichkeit!»), dieser Spruch zieht sich wie ein roter Faden durch den Film. Und genau das ist «White Bird» für mich, eine zeitlose Ode an die Menschlichkeit, und gleichzeitig eine erschreckend aktuelle.
Tatsächlich sind wir da etwas vom Weltgeschehen eingeholt worden, während des Drehs war die Thematik der Geschichte noch nicht ganz so aktuell. (Denkt nach) Wir leben in einer sehr schwierigen Zeit. Trotzdem bin ich Optimist, um nicht zu sagen naiv. Ich hoffe sehr, dass die aktuellen Kriege nicht noch schlimmer werden, und dass es diplomatische Lösungen gibt. Wir Menschen müssen miteinander sprechen, denn schliesslich wollen wir doch alle das Gleiche: das tun, was uns glücklich macht und mit der Familie und den Menschen, die wir lieben, ein friedliches Leben führen. Ich glaube daran, dass eine solche Koexistenz möglich ist. Wir müssen einander ja nicht alle gleich lieben, aber gegenseitig dafür respektieren, was wir sind, was wir tun und wie wir unser Leben leben möchten.
Ein Film steht und fällt auch mit dem Cast. «White Bird» wird von den Jungschauspielerinnen und -schauspielern in grandioser Art und Weise getragen. Wie schwierig war es, die richtigen Personen für die Rollen zu finden?
Für diesen Film habe ich zum ersten Mal überhaupt online gecastet, das war ja während der Pandemie. Ariella Glaser und Orlando Schwerdt – die beiden Hauptdarsteller – lasen und sprachen via Zoom miteinander vor. Ich hatte etwas Angst vor einem Recast, wenn die Chemie zwischen ihnen dann beim Dreh nicht stimmt. Das war zunächst etwas stressig, hat dann aber doch richtig gut funktioniert. Besonders beeindruckt war ich von Orlando, der jeden Morgen gut vorbereitet kam und völlig in seiner Rolle war, von Anfang bis Schluss. Er hatte am Set nie ein Handy dabei und konnte sich völlig fokussieren. Und das als 15-Jähriger! Das war schon sehr faszinierend.
Mit Helen Mirren und Gillian Anderson spielen auch wieder zwei absolute Topstars mit, wie schon so viele in deinen Filmen. Wie empfindest du die Arbeit mit solchen Kalibern im Filmgeschäft? Musst du dich öfter mit Starallüren herumschlagen?
Was das angeht, hatte ich bis jetzt eigentlich immer recht viel Glück. Die meisten Schauspielerinnen und Schauspieler haben es mir leicht gemacht, auch bei «White Bird». Helen und Gillian waren unglaublich professionell und sehr vorbereitet. Ich diskutierte mit ihnen über ihre Rollen und was ich mit ihnen vorhabe, und dann haben sie genau das umgesetzt. Es war wirklich grossartig. Grundsätzlich ist es ja so, dass man schon im Vorfeld weiss, welche Schauspielerinnen und Schauspieler eher schwierig sind und welche weniger. So etwas spricht sich in der Branche nun mal herum.
Um die grausame Realität zu ertragen, machen die beiden Hauptfiguren wiederholt Abstecher ins Imaginäre. Hast du manchmal auch solche Momente?
Absolut. Ich bin ja als Kind in Davos aufgewachsen und ging dort immer im Wald spielen, um in meine Fantasiewelt zu flüchten. Dort fühlte ich mich immer wohler und sicherer als in der Realität. Es war für mich immer schwierig, mich mit der Realität auseinanderzusetzen. Heute ist das Filmemachen quasi meine Fantasie- oder Traumwelt. Das gefällt mir schon sehr.
Ein wiederkehrendes Element im Film ist der titelgebende weisse Vogel, der für mich Hoffnung symbolisiert. Bist du auch ein «White Bird», Marc?
(Lacht) Das kann ich schlecht beurteilen. Ich probiere jedenfalls immer, mein Bestes zu tun, für die Menschen, die ich liebe und kenne.
Du hast sehr unterschiedliche Filme aus diversen Genres gemacht. War das Absicht oder hat sich das einfach so ergeben?
Das war tatsächlich schon immer meine Absicht. Ich mag jedes Genre und ich wollte schon immer Filme machen, die mir gefallen und die mich inspirieren. Ich liebe das Schaffen von Filmemachern wie Billy Wilder oder Howard Hughes, weil auch sie in verschiedenen Genres gearbeitet haben. Solche Leute gibt es immer weniger. Heute musst du als Regisseur fast schon ein Brand sein, der immer das gleiche tut, so wie das schon bei Alfred Hitchcock der Fall war. Ich jedoch bin immer auf der Suche nach einer neuen Herausforderung und dem Reiz des möglichen Scheiterns. So muss ich immer wieder neue Welten entdecken und mich darauf einlassen.
Ich bin grosser Fan deines Films «Stay» von 2005, ein Psychothriller. Drehst du vielleicht auch wieder mal einen solchen Film?
Schön, dass dir «Stay» gefallen hat. Dann solltest du dir unbedingt mal «All I See Is You» von 2017 anschauen. Der geht zumindest von der Struktur her in eine ähnliche Richtung. Tatsächlich mag ich solche abstrakten Filme sehr und ich denke auch, dass sie mir liegen. Das Problem ist nur, dass sowohl «Stay» als auch «All I See Is You» Flops waren (lacht). Deshalb hätte ich wohl grosse Schwierigkeiten, das nötige Geld für einen weiteren solchen Film von mir zusammenzukriegen.
Auf was dürfen wir uns von dir als nächstes freuen? Woran arbeitest du gerade?
Nun, so wie es aussieht, werde ich Neil Gaimans Buch «The Graveyard Book» verfilmen dürfen. Darauf freue ich mich sehr.
«White Bird» läuft seit dem 8. Mai 2024 im Kino. Laufzeit: 120 Minuten. Freigegeben ab 12 Jahren.
Ich bin Vollblut-Papi und -Ehemann, Teilzeit-Nerd und -Hühnerbauer, Katzenbändiger und Tierliebhaber. Ich wüsste gerne alles und weiss doch nichts. Können tue ich noch viel weniger, dafür lerne ich täglich etwas Neues dazu. Was mir liegt, ist der Umgang mit Worten, gesprochen und geschrieben. Und das darf ich hier unter Beweis stellen.