Warum viel Wasser zu trinken nicht so gesund ist, wie du vielleicht denkst
Viel Wasser zu trinken gilt als der Gesundheits-Hack schlechthin. Apps, Instagram-Posts und Wasserflaschen fordern zum Konsum der klaren Flüssigkeit auf. Warum mehr nicht unbedingt besser ist und wann zu viel Wasser schaden kann, erfährst du hier.
Wasser soll den Stoffwechsel anregen, beim Abnehmen helfen, das Hautbild verbessern und deine Gesundheit auf unzählige Arten fördern. Klares Wasser ist in den vergangenen Jahren zum Sinnbild für Reinheit, Schönheit und Schlankheit mutiert. Wer auf Instagram aktiv ist, kennt wahrscheinlich die grossen Wasserflaschen als allgegenwärtiges Lifestyle-Accessoire beliebter Influencer und Influencerinnen.
Tatsächlich brauchen Erwachsene täglich einen bis eineinhalb Liter Wasser. Doch zu viel Flüssigkeit kann der Gesundheit schaden. Das gilt insbesondere für Sportlerinnen und Sportler, aber auch für Menschen, die wenig essen und ihr Hungergefühl durch Wasser bekämpfen.
Warum zuviel Wasser riskant ist
Die US-amerikanische Schauspielerin Brooke Shields hat das am eigenen Leib erfahren. Sie erlitt vor einigen Monaten einen schweren epileptischen Anfall, nachdem sie zu viel Wasser getrunken hatte. Die Schauspielerin, die vor allem durch die Serie «Susan» bekannt ist, teilte ihre Erfahrungen über ihre Wasservergiftung in einem Interview im Magazin Glamour.
Was war geschehen? Der Flüssigkeitshaushalt im Körper wird durch ein enges Zusammenspiel von Elektrolyten, vor allem Natrium, das wir in Form von Kochsalz aufnehmen, und Wasser reguliert. Schütten wir zu viel Wasser in uns hinein, sinkt die Natriumkonzentration im Körper. Überschreitet die Wasserzufuhr die Ausscheidungskapazität der Nieren, kann der Körper nicht mehr genug Wasser loswerden. Dadurch schwellen die Zellen im Gehirn an – zerebrales Ödem heisst das in der Fachsprache. Die Folgen sind Kopfweh, Schwindel, Übelkeit, Koordinationsstörungen, Zittern, Bewusstlosigkeit, Krampfanfälle bis hin zum Koma.
Das Perfide: Die Symptome ähneln denen von Dehydratation, also denen von Flüssigkeitsmangel. Wer noch nie von einer Wasservergiftung oder – im Fachjargon – hypotoner Hyponatriämie gehört hat, macht möglicherweise den Fehler und trinkt zusätzlich Wasser. Diese Verwechslung verschlimmert das Ganze noch. Eine unbehandelte Wasservergiftung kann tödlich enden.
Wieviel müssen wir trinken
Um dem Phänomen der Wasservergiftung auf den Grund zu gehen, befrage ich einen Experten. Prof. Dr. Michael Joannidis ist Leiter der Intensivstation der Innsbrucker Universitätsklinik für Innere Medizin und hat sich eingehend mit dem Thema beschäftigt. Zu seinen Publikationen zählt unter anderem ein Weiterbildungskurs für Ärzte in der Fachzeitschrift Medizinische Klinik – Intensiv und Notfallmedizin zu diesem Thema.
«Wir haben ein sehr gut reguliertes System, das unsere Wasserzufuhr über das Durst-Signal steuert», sagt der Mediziner. Für Erwachsene bis zum Alter von 70 bis 80 Jahren funktioniere das sehr gut, ergänzt er. Mehr zu trinken, sozusagen im vorauseilenden Gehorsam, sei nicht nötig. Nur bei spezifischen Erkrankungen wie Gicht oder Nierensteinen kann vermehrtes Trinken etwas bringen. Auch die Vermutung, dass mehr Trinken die Funktion erkrankter Nieren verbessert, hat sich nach Erkenntnissen des Experten nicht bewahrheitet.
Deshalb betrachtet er auch den Trend, viel Wasser zu sich zu nehmen, mit Skepsis. «Das ist ein bisschen eine Lifestyle-Geschichte und auch ein von der Industrie getriggertes Fehlverhalten», sagt er. Auch die Angewohnheit, das Haus selbst für kurze Auswärtstermine nicht mehr ohne Wasser zu verlassen, hält er aus gesundheitlichen Gründen für fragwürdig. «Wenn ich nicht mehr eine Stunde ohne Wasser auskomme, dann habe ich vielleicht einen Tick, der mich dazu zwingt, dauernd etwas zu trinken.» Es sei sehr unwahrscheinlich, dass Menschen in unseren Breitengraden einen relevanten Wassermangel entwickelten, selbst wenn sie einen halben Tag nichts trinken.
Bei gesunden Erwachsenen, die sich normal ernährten, sei ein bisschen zu viel Wasser allerdings kein Problem. Denn die zusätzliche Flüssigkeit würde einfach über den Urin ausgeschieden.
Allgemeine Empfehlungen für die Wassermengen stossen schnell an ihre Grenzen. Denn ein 105 Kilo schwerer Mann braucht mehr Flüssigkeit als eine 55 Kilo schwere Frau. Auch das Klima, körperliche Aktivität und hormonelle Prozesse spielen eine Rolle. Alle, die viel Obst und Gemüse essen, nehmen durch die Nahrung ebenfalls Flüssigkeit auf, die sie dann nicht mehr trinken müssen. Da wir Tage damit verbringen könnten, unseren tatsächlichen Wasserbedarf auszurechnen, bietet uns der Körper eine sinnvolle Stütze. «Trinken nach Durst ist nach wie vor das Sinnvollste», bringt Medizinprofessor Michael Joannidis es auf den Punkt.
Für wen ein Wasserüberschuss gefährlich werden kann
Anders sieht es bei Sportlerinnen und Sportlern aus, die zusätzlich durchs Schwitzen Salze verlieren. Hier kann es zu einem raschen Sinken des Natriumspiegels und einer Wasservergiftung kommen. Studien zufolge haben nach Marathonläufen rund acht Prozent der Teilnehmenden einen verminderten Natriumspiegel. Bei Ultraläufen sind es bis zu 20 Prozent. Ironman Triathletinnen, Schwimmer, Mountainbikerinnen und Skilangläufer sind ebenfalls betroffen.
Auch Menschen, die abnehmen wollen und deshalb einerseits nur ungesalzenes Obst und Gemüse oder gar nichts essen und andererseits in grossen Mengen Wasser trinken, um das Hungergefühl zu unterdrücken, können eine Wasservergiftung erleiden. Gerade die auf Tiktok beliebte «75 Hard»-Challenge ermutigt zu anstrengenden Workouts und vier Litern Wasser am Tag. Die kanadische Tiktokerin Michelle Fairburn landete Medienberichten zufolge aufgrund der Challenge mit einer Wasservergiftung im Spital.
Nicht nur die Menge, auch der Zeitraum, in dem Flüssigkeit getrunken wird, kann das Risiko erhöhen. Eine Amerikanerin starb laut Medienberichten, nachdem sie an einem heissen Sommertag vier Flaschen Wasser innerhalb von 20 Minuten heruntergestürzt hatte.
Full Disclosure: Ich selbst bin schon in die Falle des Zu-viel-Trinkens getappt. Vor einem Wettkampf in Spanien nahm ich mir den Rat, auf Vorrat zu trinken, zu sehr zu Herzen. Ich trank Wasser, bis mein Urin die empfohlene blasse Farbe annahm. Kurze Zeit später wurde ich ohnmächtig. Glücklicherweise nahm ich das mir angebotene Wasser nicht an, als ich wieder zu mir kam, sondern ass ein paar salzige Chips. Das Rennen startete ohne mich, aber ich erholte mich im Laufe des Tages wieder.
Wie du eine Wasservergiftung vermeidest
Wenn du ausreichend isst, keine spezielle Diät einhältst, Tiktok-Fitness-Challenges und Lifestyle-Trends mit Skepsis betrachtest und dich an deinem Durstgefühl orientierst, ist die Gefahr einer Wasservergiftung gering.
Sportlerinnen und Sportler wissen sich mit Elektrolytgetränken zu helfen. Durch das enthaltene Natrium wird die Balance im Körper aufrechterhalten, sodass die Nieren überschüssiges Wasser ausscheiden können. Bei Langstreckenrennen werden an Verpflegungsstationen auch gerne salzhaltige Snacks wie Chips angeboten, die ebenfalls Natrium spenden. Für extreme Ausdauerwettkämpfe bei sengenden Temperaturen bieten Sportnahrungsmittelhersteller ausserdem spezielle Salztabletten an.
Elektrolytgetränke lassen sich durch die Zugabe einer Prise Salz, etwas Zucker und Zitronensaft auch selbst herstellen. Doch nicht alles, was gemeinhin als Elektrolytgetränk gilt, ist wirklich eins. Stichwort Bier: Generationen von Sportlerinnen und Sportler nahmen nach schweisstreibenden Workouts ein «Reparierer-Bier» zu sich, um die Elektrolyt-Balance wiederherzustellen. Leider reicht das nicht aus: «Bier ist keine isotone Lösung», sagt Medizinprofessor Joannidis. Er hält das eher für Wunschdenken der Sportler.
Tatsächlich gibt es das Biertrinker-Syndrom, bei dem Menschen, die über mehrere Tage hinweg literweise Bier getrunken haben, ohne dazu etwas zu essen, wegen einer Wasservergiftung auf der Notfallstation landen. Das kommt zwar selten vor, doch zeigt, dass über den Durst trinken auch wortwörtlich schlimme Folgen haben kann.
Forschungstaucherin, Outdoor-Guide und SUP-Instruktorin – Seen, Flüsse und Meere sind meine Spielplätze. Gern wechsel ich auch mal die Perspektive und schaue mir beim Trailrunning und Drohnenfliegen die Welt von oben an.