Wann ist ein Film der erfolgreichste Film aller Zeiten?
Vergangenes Jahr hat sich «Avengers: Endgame» die Krone als erfolgreichster Film aller Zeiten aufgesetzt. Kritiker sagen: Falsch, inflationsbereinigt sei immer noch «Gone with the Wind» ganz oben. Wer hat Recht?
Juli 2019. Marvel-Fans jubeln. «Avengers: Endgame» hat den Rekord geknackt: 2,797 Milliarden Dollar hat der Film weltweit an den Kinokassen eingespielt. Mehr als jeder andere Film zuvor.
«Dank euch ist ‘Avengers: Endgame’ der erfolgreichste Film aller Zeiten», verkündet Marvel-Studios-Chef Kevin Feige vor Tausenden Fans an der Comic-Con in San Diego stolz.
«Stimmt nicht», antworten Branchen-Kenner und Medien, darunter etwa Forbes. Denn: «Gone with the Wind» sei seit seinem Kinorelease im Jahr 1939 viel erfolgreicher gewesen, sofern die jährliche Teuerung – die Inflation – miteinberechnet wird.
Wer hat denn nun Recht?
Inflationsbereinigt: Was heisst das überhaupt?
Inflation? Machen wir’s so kurz wie möglich. Je wertvoller eine Geldwährung, desto mehr kannst du dir vom Geld kaufen. Da reden wir auch von Kaufkraft. Verliert die Währung an Wert, wirst du neu mehr Geld aufbringen müssen, um die gleichen Güter wie vorher kaufen zu können. Soll heissen: Du verlierst an Kaufkraft. Oder andersherum: Die Güter werden teurer.
Das ist Inflation.
Ein Beispiel: Ein Kinoticket in den USA kostete im Jahr 1940 im Schnitt etwa 0.25 Dollar. Aber der Dollar ist heute weniger wert als damals. Die Konsequenz: 0.25 Dollar reichen nicht mehr aus, um das gleiche Kinoticket zu kaufen; heute braucht es dafür 9.26 Dollar – es ist teurer geworden. Ergo: Durch die Inflation ist das Preisniveau gestiegen.
Wenn nun Kevin Feige vom erfolgreichsten Film aller Zeiten spricht, dann vergleicht er die Einspielergebnisse unterschiedlicher Zeitepochen, ohne das damals geltende Preisniveau zu berücksichtigen. Denn ein Film, der in den 1940ern rauskam, konnte selbst dann nicht annähernd so viel Geld wie «Avengers: Endgame» einspielen, wenn er doppelt so viele Eintrittskarten verkauft hätte. Einfach, weil eine Karte damals gerade mal einen Bruchteil dessen gekostet hatte, was sie heute kostet. Das weiss Feige natürlich. Aber: Marketing. Du verstehst.
Was wäre einleuchtender? Sich auf ein Index-Jahr zu einigen, wie beispielsweise Forbes und viele andere Branchenmagazine und -Experten vorschlagen. Also ein Jahr, dessen Preisniveau für alle Jahre davor gelten soll. Denn wenn wir die Einspielergebnisse sämtlicher Filme an das Preisniveau des Index-Jahres anpassten, erhielten wir eine «inflationsbereinigte» Liste. Eine Liste, in der das Preisniveau für alle Filme gleich ist. Damit liesse sich vergleichen, welcher Film denn nun tatsächlich der erfolgreichste aller Zeiten ist.
Genau das tut das Guinness Buch der Weltrekorde jährlich, in dem es das aktuelle Jahr als Index-Jahr nimmt. Das Ergebnis: Nicht «Avengers: Endgame» ist der finanziell erfolgreichste Film, sondern «Gone with the Wind» aus dem Jahr 1939. Der hat anno dazumals 402,3 Millionen Dollar eingespielt. Nach heutigem Preisniveau: 3,71 Milliarden Dollar. Fast eine Milliarde Dollar mehr als der Marvel-Film vergangenes Jahr eingespielt hat.
Die ganze Top-10-Liste findest du hier:
Damit scheint der Gewinner eindeutig gekürt, oder? Warum überhaupt noch weiter debattieren?
Nun, ganz so einfach ist es nicht…
Die Tücken der inflationsbereinigten Liste
Sicher, die inflationsbereinigte Liste gleicht den Faktor «Preisniveau» aus. Zumindest teilweise. Denn je nach Wirtschaftslage ist die Inflation nicht überall auf der Welt dieselbe. Oder die Wirtschaftslage selbst. Überhaupt – die Methoden, mit denen Inflation gemessen wird, sind umstritten. Und: Über die vergangenen 80 Jahre sind dutzende neue Kinomärkte dazugekommen. China zum Beispiel. Auch das Filmemachen wird generell teurer: Produktionskosten, die nichts mit Inflation zu tun haben, schlagen sich aufs Ticket nieder. Genauso wie Preistreiber wie IMAX- und 3D-Zuschläge, die es früher noch nicht gab.
Darüber hinaus berücksichtigt die Liste viele Faktoren nicht, die zum Erfolg oder Misserfolg eines Films beitragen. Um ein paar davon zu nennen:
- Kriege
- Grösse der Weltbevölkerung
- Freizeit-Alternativen und Konkurrenz
- Wiederaufführungen
- Ticketzuschläge
Nehmen wir «Gone with the Wind» als Beispiel. Seit seiner Uraufführung am 15. Dezember 1939 im Loew's Grand Theatre in Atlanta – das Kino gibt’s seit einem Brand im Januar 1978 nicht mehr – ist der Film zwölfmal wieder aufgeführt worden. «Avengers: Endgame» erst einmal. Das gab «Gone» mehr Zeit, mehr Tickets zu verkaufen. Innerhalb der USA etwa 200 Millionen davon. «Endgame» hat mit etwa 94 Millionen Tickets nur knapp die Hälfte geschafft, dafür aber innerhalb weniger Monate, nicht Jahrzehnten.
Das, obwohl das Publikum heute viel mehr Optionen hat, zu entscheiden, wofür es sein Geld ausgeben will. Selbst dann, wenn wir konkurrierende Freizeitaktivitäten wie etwa Sport-Events, Festivals, Konzerte oder das boomende Streaminggeschäft aussen vor lassen.
Welche Optionen? Die schiere Auswahl an Kinofilmen und Grossproduktionen, die es vor fünfzig Jahren noch nicht gab. 2018 etwa brachte Marvel «Black Panther», «Avengers: Infinity War» und «Ant-Man and the Wasp» raus. Im gleichen Jahr kamen auch «Jurassic World: Fallen Kingdom», «Bohemian Rhapsody» und «Mission Impossible: Fallout» ins Kino. Keiner dieser Filme lief länger als wenige Monate, ehe der Blu-Ray und DVD-Release anstand – oder der nächste grosse Film, den es zu sehen galt.
«Gone with the Wind» kannte diese Konkurrenz nicht. Im Gegenteil. Ähnliche Grossproduktionen gab’s nur einmal alle paar Jahre. Und wenn so ein Film da war, dann lief er nicht ein paar Monate, sondern eben Jahre. Anfangs gar zu horrenden Preisen von etwa einem Dollar je Ticket.
Alternativen? Keine. Die VHS-Kassette würde erst in den 1970er-Jahren eingeführt werden. Streaming kommt erst 2007. Von Internetpiraterie fange ich gar nicht erst an. Jahrzehntelang war der einzige Ort, an dem ein derart beliebter Film wie «Gone with the Wind» geguckt werden konnte, das Kino. Und wenn so ein Film erst mal einen Lauf hatte, dann war er kaum noch zu bremsen.
Ja, aber was gilt denn nun?
Ist die inflationsbereinigte Liste eine exakte Wissenschaft? Nein. Sie ist ein Versuch, grundverschiedene Zeitepochen einander anzunähern. Ein Gedankenexperiment, um Äpfel mit Birnen zu vergleichen. Das ist spannend. Aber schlussendlich nicht aussagekräftig genug, um zu behaupten, dass ein 4-Stunden-Romantik-Epos, der vor 80 Jahren erfolgreich war, es heute auch noch wäre.
Wann können wir also wirklich vom «erfolgreichsten Film» sprechen, mit Betonung auf «aller Zeiten»?
Als ich im vergangenen Trailer Tuesday die Top 10 der finanziell erfolgreichsten Filme nach Inflationsbereinigung präsentierte, hat Leser augenblickmedia einen Vorschlag gemacht:
Ich mag den Gedanken. Womöglich ist er sogar etwas aussagekräftiger, auch wenn sich meiner Meinung nach nicht viel ändert, wenn wir anstelle des finanziellen Erfolges auf die Anzahl verkaufter Tickets als «Erfolgsmesser» ausweichten. Die Zählweise wäre ja an sich dieselbe. Nur die Masseinheit würde sich ändern: Statt Dollar zählten wir Tickets. Beeinflussende Faktoren wie Kriege, Wirtschaftslage, Konkurrenz und Freizeit-Alternativen bleiben aber über die Dekaden hinweg bestehen.
Update, 18.4.2020, 12:00 Uhr:
Auf Input der Kommentarspalte (danke @Leser Jonaman76!): Innerhalb der USA hat «Gone with the Wind» am meisten Tickets abgesetzt – 202 Millionen insgesamt. «Avengers: Endgame» schafft’s mit 95 Millionen Tickets nur auf Platz 16.
Wie sieht’s weltweit betrachtet aus?
Das scheint niemand zu wissen. Offizielle oder als zuverlässig geltende Zahlen gibt es nicht. Offenbar, weil Hollywoods Buchhaltung mehr der Umsatz als die Anzahl verkaufter Tickets interessiert. Dazu kommt die nicht einheitliche Preisstruktur bei kleinen Kinobesitzern und grossen Kinoketten, 3D-, IMAX- oder gar Frühstückskino-Zuschläge. Das macht es Statistikern schwer, den Durchschnittspreis der verkauften Tickets festzustellen. Den bräuchte es aber, um aus dem Gesamtumsatz auf die Anzahl verkaufter Tickets zu schliessen.
Wohl auch deswegen spricht Box Office Mojo – eine US-amerikanische Website, die über Einspielergebnisse von Kinofilmen berichtet – bei seinen nur auf den US-Markt bezogenen Zahlen explizit von Schätzungen.
Denken wir das mal durch. Anders als «Gone with the Wind» wurde «Avengers: Endgame» auch auf dem chinesischen Kinomarkt gezeigt. Gesamtumsatz: 614,3 Millionen Dollar. Der Preis eines Kinotickets in China variiert stark. Je nach Kinokette und Provinz sind wir da zwischen 2 und 14 US-Dollar. Gehen wir mal von 10 Dollar je Ticket aus. Das wären 61 Millionen verkaufte Tickets, die wir den 95 Millionen Tickets Box Office Mojos hinzufügen könnten. 61 Millionen Tickets, die «Gone with the Wind» garantiert nicht hat verkaufen können, weil der Film nie in China gezeigt worden ist – gemäss Box Office Mojo jedenfalls.
Damit liegen die beiden Filme gar nicht mehr so weit auseinander. Und wer weiss, ob die Romanze vor dem Hintergrund des Amerikanischen Bürgerkriegs in Europa oder anderswo ausserhalb der USA tatsächlich öfters gesehen worden ist als der Superhelden-Streifen? Wissen können wir’s nicht. Wir können nur raten.
Das Problem ist also nicht, woran wir Erfolg messen, sondern, dass wir Erfolg über Epochen hinweg messen und vergleichen wollen, die wenig bis nichts gemein haben. Als ob wir herausfinden wollten, wer zwischen Messi und Maradona der bessere Fussballer sei. Oder zwischen Maradona und Pelé. Dabei ignorierten wir aber Faktoren wie verbessertes Material oder weiterentwickelte Trainingsmethoden, die sich auf wissenschaftliche Studien stützen. Wie sollen da faire und tatsächlich aussagekräftige Vergleiche entstehen?
Meiner Meinung nach gar nicht. So etwas wie «den erfolgreichsten Film aller Zeiten» gibt es einfach nicht. Wenn, dann nur im Marketing-Sprech. Vorschlag: Wie wäre es, wenn wir uns auf «den erfolgreichsten Film seiner Zeit» einigten? Das fände ich angemessen.
Abenteuer in der Natur zu erleben und mit Sport an meine Grenzen zu gehen, bis der eigene Puls zum Beat wird — das ist meine Komfortzone. Zum Ausgleich geniesse ich auch die ruhigen Momente mit einem guten Buch über gefährliche Intrigen und finstere Königsmörder. Manchmal schwärme ich für Filmmusik, minutenlang. Hängt wohl mit meiner ausgeprägten Leidenschaft fürs Kino zusammen. Was ich immer schon sagen wollte: «Ich bin Groot.»