Vom Berserker zum Opa: Warum ich heute anständig Rad fahre
Meinung

Vom Berserker zum Opa: Warum ich heute anständig Rad fahre

Thomas Meyer
9.9.2020

Vor 15 Jahren hielt ich mich beim Velofahren an genau eine Verkehrsregel: Die Vorfahrt gehört mir! Zum Glück bin ich älter geworden. Unzählige Passanten und Autofahrer danken es mir täglich.

Zürich, ein Nachmittag im Sommer 2005. Eine Fussgängerampel schaltet auf Grün. Auf beiden Seiten der Strasse setzen sich Menschen in Bewegung. Währenddessen nähert sich zwischen den wartenden Autokolonnen ein Radfahrer. Er macht keine Anstalten zu bremsen, sondern zielt auf die immer schmaler werdende Lücke zwischen den Passanten.

Ist er farbenblind? Ist er wahnsinnig?

Nein. Er ist ein 31-jähriger Mann. Sein junges Gehirn arbeitet noch nicht optimal; regelmässig unterlaufen ihm schwere Fehlbeurteilungen. Zum Beispiel: «Diese Frau hat mich angelächelt, also will sie eindeutig Sex mit mir!» Oder: «Wir lieben einander, also passen wir perfekt zusammen!» Oder: «Das Strassenverkehrsgesetz gilt für mich nicht, weil ich zu schnell und zu agil bin!»

Zu allem Übel ist der Mann auch noch Velokurier, hält die farbigen Lampen an den Kreuzungen und die Bemalungen auf dem Boden also ohnehin nur für Dekoration, und steht nach einer fast fünfstündigen Schicht massiv unter körpereigenen Drogen. Er ist jetzt kein Radfahrer mehr. Er ist jetzt ein mächtiger Götterbote, der auf einem Blitz reitet.

Am Abend dieses Tages werden zahlreiche Menschen ihren Familien am Esstisch fassungslos von dem dummen Arschloch erzählen, das direkt vor ihnen über den Fussgängerstreifen gedonnert sei.

Ampel aus Sicht eines Velokuriers.
Ampel aus Sicht eines Velokuriers.

Dieses Arschloch, das war ich. Ich war einer dieser Velofahrer*innen, die sich an keine Regel halten und sich dabei auch noch gut vorkommen. Ich schäme mich heute sehr dafür und bitte hiermit bei allen, die ich erschreckt habe durch mein Verhalten, aufrichtig um Verzeihung. Es waren nicht wenige, denn ich war jahrelang so unterwegs, vor allem in meiner Zeit als Velokurier.

Mittlerweile fahre ich so, wie es die niedliche Verkehrserziehungskampagne empfiehlt: als würde mein Grosi mitfahren. Ich halte an, wenn eine Ampel auf Rot steht und wenn Menschen vor einem Fussgängerstreifen warten. Was diese jeweils kaum glauben können – ein Velofahrer, der für Fussgänger anhält! Bleiben sie dann weiter stehen, ängstlich in meine Richtung starrend, weiss ich, was als Nächstes passieren wird: Ein*e Velofahrer*in wird links an mir vorbeisausen und ein genervtes Geräusch machen wegen des dummen Arschlochs, das hier den Weg versperrt, weil es sich an die doofen Regeln hält.

Herleitung des Wortes «Rücksicht»

Der Grund für meine gewandelte Gesinnung besteht darin, dass die Dinge, die mir 2005 wichtig waren, sich fundamental von den Dingen unterscheiden, die mir heute wichtig sind. Damals ging es mir um den Thrill in allen Varianten; jetzt ist mir an meinem Wohlergehen gelegen sowie an jenem meines Sohnes und meiner Umwelt. Darum fahre ich immer mit Helm, immer mit Licht und immer nach dem Gesetz. Weil ich möchte, dass ich und alle anderen gesund nach Hause kommen. Und am Esstisch von dem netten Herrn erzählen, der extra für sie angehalten habe.

Ich will, wenn ich zurückschaue, in freundliche Gesichter blicken. Das ist vermutlich der Gedanke, der einst zum metaphorischen Begriff «Rücksicht» geführt hat: im Auge behalten, was man in der Welt zurücklässt.

Stopp-Schild aus Sicht eines Velokuriers.
Stopp-Schild aus Sicht eines Velokuriers.

PS: Liebe Radfahrerin, lieber Radfahrer, wenn du vor einem Fussgängerstreifen nicht stoppst, verärgerst du die Passanten, die dort warten und somit Vortritt haben. Hältst du hingegen an, freuen sich diese Menschen über den Respekt, den du ihnen entgegenbringst. Du hast also direkten Einfluss auf die Gefühlslage deiner Mitmenschen!

PPS: Auf besagtem Fussgängerstreifen haben nur Fussgänger Vortritt, darum heisst er auch so. Wenn du dort mit dem Velo die Strasse überqueren und ebenfalls in den Genuss dieses Rechts kommen möchtest, musst du absteigen und schieben. Andernfalls
hast du keinen Vortritt – und somit auch keinen Grund, Autofahrer anzupöbeln, die nicht für dich anhalten

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Der Schriftsteller Thomas Meyer wurde 1974 in Zürich geboren. Er arbeitete als Werbetexter, bis 2012 sein erster Roman «Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse» erschien. Er ist Vater eines Sohnes und hat dadurch immer eine prima Ausrede, um Lego zu kaufen. Mehr von ihm: www.thomasmeyer.ch. 


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