«Star Wars: Visions» ist ein fantastisches Experiment
Anime und «Star Wars»? Das passt. Und dann auch nicht. Genau das macht den Reiz von «Star Wars: Visions» aus. Dass es ein Experiment ist. Ein Experiment, das scheitern darf.
Eines vorweg: In dem Review gibt’s keine Spoiler. Du liest nur das, was aus den bereits veröffentlichten Trailern bekannt ist.
Es ist kein alltägliches Melk-die-Star-Wars-Kuh-Projekt, das Disney da ins Leben gerufen hat. Zu wenig massentauglich das Konzept. Zu viel Liebe zum Detail. Denn in «Star Wars: Visions» produziert nicht Lucasfilm, sondern sieben japanische Anime-Studios neun Anime-Kurzfilme. Sie alle spielen im Star-Wars-Universum.
Und keiner gleicht dem anderen.
Gewagt? Ja, definitiv. Wird es allen Fans der Sternenkriegs-Saga gefallen? Womöglich nicht. Manche werden es verreissen. Andere heiss und innig lieben. Aber – Genau das macht den Reiz von «Star Wars: Visions» aus.
Eine Kakophonie der Stile
Nicht, dass Anime abseits seiner asiatischen Wurzeln kein grosses Publikum hätte. So richtig gross ist das westliche Anime-Publikum allerdings nicht. Noch nicht. Gerade in den USA. Und trotzdem ist es da, «Star Wars: Visions».
Aber was genau ist «Star Wars: Visions»?
Ähnlich wie anno dazumals bei «Animatrix» handelt es sich um eine Anthologie. Neun Kurzfilme sind’s, alle zwischen 10 und 15 Minuten lang. Die Kurzfilme bauen nicht aufeinander auf, sondern erzählen eine für sich abgeschlossene Geschichte. Mal grossartig, mal nett, mal okay – und mal auch richtig mies.
Die Episode aus dem Hause Trigger, zum Beispiel – «The Twins».
Sie ist visuell übertrieben knallig, viel zu überladen und abstossend pompös. Zwillinge, die die Macher ganz offensichtlich auf Luke und Leia basieren, kämpfen da um einen mächtigen Kyberkristall – die Quelle der Macht eines jeden Lichtschwerts. Von der Idee her spannend. Aber die kunterbunte Inszenierung und die Dialoge, die ständig zwischen schamlosen Zitaten und flachen Plattitüden schwanken – «Du hast Recht! Es gibt kein Versuchen. Nur tun!» – sind unnötig in-your-face.
Im krassen Gegensatz dazu steht «The Duel» vom Anime-Studio Kamikaze Douga. Darin geht’s um eine Auseinandersetzung zwischen einem Jedi, der ein hilfloses Dorf verteidigt, und einem Sith, der es angreift.
«The Duel» ist schlichtweg fantastisch. Nicht nur erzählerisch. Stilistisch, vor allem. Zunächst, weil die Geschichte genauso gut ein Duell zweier Samurai im feudalen Japan sein könnte, die zufällig Lichtschwerter tragen. Passend dazu gibt’s gar einen Astromech mit Strohhut. Dann aber kommt der gelungene Zeichenstil dazu: Schwarzweiss, meistens, ausser Explosionen und Lichtschwerter. Die stilisierten Bleistiftstriche werden bewusst nicht kaschiert. Das lässt die Folge roh wirken – genau wie das Duell.
Inspiriert wurde «The Duel» offensichtlich von den alten Samurai-Filmen Akira Kurosawas. Das passt: «Star Wars»-Schöpfer George Lucas selber hat grosse Inspiration aus den Schwarzweiss-Samurai-Filmen der japanischen Regielegende gezogen. Die Idee etwa, dass die Geschichte in «Star Wars» aus der Perspektive von C-3PO und R2-D2 erzählt wird – zwei Nebenfiguren – stammt aus «The Hidden Fortress».
Dazu die Jedi, die den Samurai in Erscheinung, Philosophie und Waffe nicht unähnlich sind; statt Katanas tragen sie futuristische Lichtschwerter, mindestens genauso ikonische Symbolbilder, die für Stärke und Überlegenheit stehen.
In genau jene Kerbe schlägt Production IGs «The Ninth Jedi». Die Geschichte dort entsprang aus zwei grossen, unabhängigen Ideen, die erst später zu einer Story zusammengefasst wurden.
In der einen ging’s um eine Lichtschwert-Schmiedin, die die abgetauchten und mittlerweile als Mythos geltenden Jedi sucht, um ihnen ihre ikonischen Waffen zu geben. Damit sollen sie der erstarkenden dunklen Seite der Macht die Stirn bieten. In der anderen Idee kommen acht Personen zusammen, die einerseits ergründen müssen, wie gut sie wirklich in der Beherrschung der Macht sind, und andererseits, ob sie einander überhaupt trauen können.
Das Ergebnis ist eine optisch beeindruckende Erzählung, die deutlich sauberer und klarer gezeichnet ist als die anderen Episoden.
Aber – Ist das überhaupt noch «Star Wars»?
Das waren drei Episoden. Auf alle einzeln einzugehen, würde den Rahmen dieses Review sprengen. Aber: «The Village Bride» ist herzzerreissend melancholisch. Mochte ich sehr. «T0-B1» hingegen für meinen Geschmack etwas zu kindisch und stilistisch zu nahe an «Powerpuff Girls». «The Duel» und «Lop and Ochō» wiederum sind eine Wucht.
Ich mag diesen abgefahren erfrischenden Mix. Dennoch: So richtiges «Star Wars»-Gefühl stellt sich selten ein. Das liegt nicht mal am Medium – Anime –, sondern viel mehr an den Geschichten; sie alle haben rein gar nichts mit den Filmen oder Serien am Hut. Nichts und niemand nimmt inhaltlich Bezug. Wann und wo die Geschichten historisch gesehen stattfinden, ist selten klar. Nicht mal bereits bekannte Planeten oder Orte werden als Schauplätze wiederverwertet – mit der einzigen Ausnahme der eher schwachen Episode «Tatooine Rhapsody» von Studio Colorido.
Aber genau das finde ich super. «Star Wars» muss nicht immer die Familiengeschichte der Skywalkers sein.
Tatsächlich gelingt «Star Wars: Visions» das, woran ich zunächst gezweifelt habe: Es grenzt sich ab. Will sich abgrenzen. Zu keiner Sekunde kann die Rede von Ideenlosigkeit oder Recycling sein. Jedes der sieben japanischen Studios hat die kreativen Freiheiten zum Anlass genommen, ihre zweifelsohne talentierten Künstlerinnen und Künstler «einfach mal machen» zu lassen, selbst wenn das Ergebnis uns Star-Wars-Fans vor den Kopf stossen könnte.
Diese Hit-and-Miss-Herangehensweise – sie ist verflucht spannend. Dass ein paar wenige Episoden nicht gefallen könnten, ist Trumpf, keine Schwäche. Das zeugt von Mut. Von Risikobereitschaft. Im Pressetext ist von einer «einzigartigen japanische Sensibilität» die Rede. Ich hatte reinstes Marketing-Bla befürchtet.
Zu unrecht.
Fazit: Ein gelungenes Experiment
Sieben Studios. Neun Kurzfilme. Und keiner gleicht dem anderen auch nur im Geringsten. Mal ist das Zielpublikum erwachsen und düster. Mal kindlich und niedlich. Und oft ist der einzige Hinweis, dass eine Geschichte im Star-Wars-Universum spielt, das blosse Erwähnen der Macht. Das zeigen eines Lichtschwerts. Ein TIE-Fighter hier. Ein Sternzerstörer da. Selten alles zusammen. Und (fast) nie etwas, das direkt mit den Filmen und Serien zu tun hat.
Nicht alle werden das lieben. «Star Wars: Visions» hat durchaus das Potenzial, zu spalten. Nicht unfreiwillig wie «Star Wars: Episode VII – The Last Jedi», sondern mutig und mit breiter Brust. Das hätte ich Disney nicht zugetraut.
Aber genau darum feiere ich diese neue «Star Wars»-Interpretation.
«Star Wars: Visions» läuft ab dem 22. September auf Disney+. Alle Episoden werden gleichzeitig veröffentlicht.
Abenteuer in der Natur zu erleben und mit Sport an meine Grenzen zu gehen, bis der eigene Puls zum Beat wird — das ist meine Komfortzone. Zum Ausgleich geniesse ich auch die ruhigen Momente mit einem guten Buch über gefährliche Intrigen und finstere Königsmörder. Manchmal schwärme ich für Filmmusik, minutenlang. Hängt wohl mit meiner ausgeprägten Leidenschaft fürs Kino zusammen. Was ich immer schon sagen wollte: «Ich bin Groot.»