
Hintergrund
Krafttraining: Der Einfluss des Bewegungsausmasses
von Claudio Viecelli
Laut der Beratungsstelle für Unfallverhütung haben knapp ein Viertel aller Skiunfälle, die im Jahr 2022 passiert sind, Verletzungen an den Armen zur Folge gehabt. Zur Heilung wird der verletzte Arm immobilisiert. Das hat negative Auswirkungen auf die Muskulatur. Wie du das verhindern kannst, erklären wir dir hier.
Ein Verschneider beim Skifahren, den Faceplant mit den Armen zu verhindern versucht und schon ist es passiert: Der Rettungsdienst diagnostiziert einen gebrochenen Arm und das folgende Röntgenbild bestätigt den Verdacht. Statt die langsam hinter den Bergen verschwindende Sonne vor der letzten Talabfahrt zu geniessen, wirst du gefragt, welche Farbe denn der Gips haben soll. Nicht nur für sportlich aktive Personen eine Horrorvorstellung, da ein immobilisierter Arm an Kraft und Muskelmasse verliert, was dann mühsam wieder aufgebaut werden muss. Kann man das verhindern?
Muskeln erzeugen Kraft, sind ein Speicherorgan und kommunizieren mit anderen Organen. Werden sie jedoch nicht gebraucht, nehmen sie an Masse und Kraft ab. Das ist gut dokumentiert und vor allem bekannt durch die Ruhigstellung von Gliedmassen nach Gelenksoperationen [1], verordneter Bettruhe [2] und längeren Aufenthalten im Weltall [3]. Bereits eine 5-tägige Immobilisierung eines Beins reduziert das maximal willentlich erzeugbare Drehmoment des Kniestreckers um beinahe 10%. Die Querschnittsfläche des m. quadriceps nimmt in dieser Zeit um etwa 4% ab [4]. Bei längeren Immobilisierungsphasen von 4 bis 6 Wochen werden noch grössere Muskelmassenverluste beobachtet. So nimmt zum Beispiel die Querschnittsfläche in den Beuge- und Streckmuskeln des Ellbogens um 11% [5], respektive 20 – 32% [6] und in den Streckmuskeln des Knies um 16% ab [7].
Im Jahr 1894 veröffentlichte Edward Scripture gemeinsam mit Theodate Smith und Emily Brown eine Studie mit dem Titel «Über die Ausbildung der Muskelkontrolle und Kraft» [8]. Die beiden Mitautorinnen waren gleichzeitig die einzigen Teilnehmerinnen der Studie. Frau Brown trainierte «Muskelkraft» (Krafttraining) und Frau Smith «Muskelkontrolle» (Techniktraining). Das Training wurde jeweils mit einem Arm durchgeführt und dauerte 9 bzw. 10 Tage. Sowohl im trainierten als auch im untrainierten Arm verbesserte sich die Kraft um 40% bzw. 25%. Es war die erste Arbeit, die die sogenannte «Cross Education» identifizierte, also die bilaterale Verbesserung der Leistung durch einseitiges Training.
Wir wissen immer noch nicht genau, wie der Mechanismus funktioniert. Es gibt jedoch zwei Haupt-Hypothesen, um zu erklären, wie neuronale Anpassungen zur Cross-Education führen können Krafttraining könnte neuronale Schaltkreise aktivieren, die die Effektivität motorischer Bahnen verändern, die auf die nicht trainierte Extremität projiziert werden. Die zweite Hypothese lautet, dass es zu Anpassungen in motorischen Gehirnregionen kommt, die eine spezifische Rolle bei der Kontrolle von Bewegungen in der trainierten Extremität spielen, auf die die untrainierte Extremität bei hochintensiven willentlichen Kontraktionen zugreifen kann.
So oder so können wir diesen Mechanismus zu unseren Gunsten nutzen und zum Thema gibt es bereits viele Studien. Die neuste Studie greift die Hypothese auf, dass einarmiges Krafttraining das Ausmass an Muskelschädigungen in einem immobilisierten Arm mindern könnte, wenn nach der Immobilisierung exzentrische Übungen durchgeführt werden [11]. Hierzu rekrutierten Chen und sein Team 36 gesunde junge Männer. Allen Probanden wurde der nicht-dominante Arm für 3 Wochen immobilisiert. Zudem wurden sie in 3 Gruppen von je 12 Probanden aufgeteilt. In eine Kontrollgruppe, eine exzentrische Gruppe und eine konzentrische Gruppe. Während der 3-wöchigen Immobilisationsphase trainierten die exzentrischen und die konzentrischen Gruppen ihren Ellbogenbeuger 2-mal pro Woche. Die Kontrollgruppe trainierte nicht. Jedes Training bestand aus 5 Sätzen von 6 rein exzentrischen oder rein konzentrischen Kontraktionen mit Hilfe einer Hantel. Die Belastung wurde von Training zu Training gesteigert und begann mit 20% der maximal isometrisch erzeugbaren Kraft und erreichte gegen Ende der Studie 80%. Die Kraft wurde für beide Gruppen jede Woche neu gemessen. Nach der Studie machten alle Probanden mit dem immobilisierten Arm 5 Sätze von jeweils 6 Repetitionen mit ihrer maximal erzeugbaren isometrischen Kraft.
Nachdem die Immobilisation aufgehoben wurde, betrug der Kraftverlust in der Kontrollgruppe, die nicht trainiert hatte im immobilisierten Arm über 20%. Bei der Gruppe, die einarmig rein konzentrisch trainiert hatte, machte der Kraftverlust lediglich 4% aus und in der rein exzentrisch trainierenden Gruppe manifestierte sich ein Kraftzuwachs von 3% im immobilisierten Arm.
Betrachten wir die Muskelquerschnittsfläche: In der Kontrollgruppe nahm die Querschnittsfläche im immobilisierten Arm um 14% ab. In der exzentrischen Gruppe blieb sie gleich während sie in der konzentrischen Gruppe um 4% abnahm.
Die 30 exzentrischen Kontraktionen im immobilisierten Arm führten bei der Kontrollgruppe zu starkem Muskelkater, hervorgerufen durch muskuläre Verletzungen. Auf molekularer Ebene waren die Marker für Muskelkater noch bis 5 Tage nach Studienende signifikant erhöht im Vergleich zu den beiden anderen Gruppen. Am besten vor Muskelkater geschützt war die exzentrische Gruppe. Exzentrisches Training entfaltete im immobilisierten Arm eine protektive Wirkung, da sie zu einer Verminderung des Muskelkaters von 83% im Vergleich zur Kontrollgruppe führte. Für die konzentrische Trainingsgruppe betrug die protektive Wirkung 43%.
Je nach Schwere der Verletzung bedeutet ein immobilisierter Arm oder Bein also nicht, dass eine Trainingssaison abgebrochen oder ein sportliches Ziel nicht dennoch erreicht werden kann. Wir können uns das Phänomen der Cross Education zu Nutze machen und unilateral trainieren. Dabei scheint es im Vergleich zu konzentrischem Training einen grösseren Vorteil zu erzeugen. Da vor allem exzentrisches, aber auch konzentrisches Training im Vergleich zu gar keinem Training signifikante Vorteile mit sich bringt, bedeutet dies, dass du den durch Immobilisation verursachten Kraft- und Muskelmassenverlust bei einer Verletzung mit unilateralem Krafttraining mindern kannst.
Molekular- und Muskelbiologe. Forscher an der ETH Zürich. Kraftsportler.