Scheisse bewegt: Zur Kulturgeschichte der Toilette und Reinheitsvorstellungen
Unser Abort ist ein Tabuthema. Deshalb wird das Klo ja auch als stilles Örtchen bezeichnet. Niemand will genau wissen, was hinter verschlossener Tür alles abgelassen wird. Aber wieso ist das so?
Die wenigsten in unserer westlichen Gesellschaft sprechen wohl gerne darüber, was hinter der verschlossenen Klotür so alles abgeht. Eigentlich erstaunlich, es handelt sich ja um einen natürlichen Prozess. Alles, was oben reinkommt, muss unten auch wieder raus. Und wir verbringen nicht gerade wenig Zeit auf der Toilette. Je nach Berechnungsmethode verbringen wir etwa ein Jahr unseres Lebens mit dem Ausscheiden von Flüssigkeit und anderen Dingen. Dabei lassen wir durchschnittlich 100 Kilogramm Kot im Jahr liegen. Die rund 8.5 Millionen Einwohner der Schweiz scheiden also jährlich etwa 850 000 Tonnen dunkle Materie aus. Das ist das Gewicht von 85 Eiffeltürmen! Und Kot ist nicht gerade ungefährlich: Er kann Krankheitserreger und Giftstoffe enthalten. Geraten diese ins Grundwasser, drohen beispielsweise Typhus und Cholera auszubrechen. Zugegebenermassen kann Kot auch als Düngemittel genutzt werden, dazu muss er aber erst von Krankheitserregern befreit werden.
Wer hat’s erfunden?
Als Erfinder des modernen Klos gilt der britische Dichter Sir John Harrington im Jahr 1596. Zum Patent angemeldet wurde es aber erst fast 200 Jahre später, nämlich 1775 von Alexander Cummings. Er hat übrigens auch gleich das Siphon dazu erfunden. Erste WCs wurden aber erst noch später verbaut, nämlich in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts. In den Anfängen der modernen Toilette wurden die Fäkalien noch durch die Kanalisation in Flüsse, Bäche und Seen geleitet. Dadurch wurden sie verschmutzt. Erst vor ungefähr 100 Jahren wurde damit angefangen, das Abwasser in Kläranalgen zu reinigen. Heute sind uns Europäer vor allem drei Arten von Toiletten bekannt: die Tief- und Flachspüler sowie das Absaugklosett. Beim Flachspüler kann man seinem Häufchen noch Tschüss sagen, bevor es von der Spülung gegen vorne gedrückt und runtergespült wird. Den Tiefspüler kennen wohl die meisten in der Schweiz wohnhaften Personen. Dann gibt es noch das amerikanische Absaugklosett, das durch ein stark verengtes Siphon ein Vakuum erzeugt. Im Gegensatz zu den zwei voran genannten Modellen braucht das Amerikanische aber vier Mal mehr Wasser.
Damit unsere Ausscheidungen nicht ungefiltert in den Kreislauf geraten, haben wir in unseren Breitengraden die Toilette. Sie gilt deshalb als Lebensretter. In Teilen der Welt, in der die Menschen keinen Zugang zu sauberen Sanitäranlagen haben, stirbt alle 20 Sekunden ein Kind. Unsere Scheisse sollte also unbedingt mehr thematisiert werden, damit auch der Rest der Welt in den Genuss von sauberen Toiletten kommt. Aber auch bei uns in Europa war die Toilette lange Zeit keine Selbstverständlichkeit.
Kleine Kulturgeschichte der Toilette
Die Geschichte der Toilette reicht nach heutigem Wissensstand vermutlich bis 2800 vor Christus zurück. So wurden im Nordpalast in Mesopotamien sieben nebeneinanderliegende Löcher gefunden. Die Forscher gehen davon aus, dass es sich dabei um einen Vorläufer des Klos handelt. Auch die Griechen kannten ähnliche Einrichtungen. Erst bei den Römern ist der Stuhlgang besser dokumentiert. Die Latrine war bei ihnen alles andere als ein stilles Örtchen. Sie war Treffpunkt zum Spielen, Geschäften etc. Latrinen fassten bis zu 60 Menschen die sich gleichzeitig erleichterten. Einige Prachtexemplare hatten sogar Fussbodenheizung. Von der Latrine wurde der Unrat über einen Wassergraben in die Kloake transportiert. Auch zu Hause wurde während den Gesprächen einfach in den Topf gemacht. Den Abtransport haben dann die Sklaven vorgenommen. Da der Abort nicht gereinigt werden konnte, verbreiteten sich trotzdem Krankheiten. Denn nach dem Ausheben der Latrine landete der Dreck meistens auf dem Feld und dadurch auch wieder in den Mägen. Historisch gesehen waren die Latrinen aber eine grosse Errungenschaft, die das Mittelalter wieder zunichtemachte.
Auf dem Land wurde die Durft direkt auf dem Feld verrichtet oder zu Hause über einem Loch im Boden. Die Fäkalien landeten dann auch gerne mal im darunterliegenden Stall. In der Stadt entschied der Stand darüber, wie öffentlich man sein Geschäft verrichtete. In vornehmen Stadthäusern gab es Aborte, auch «Heimliches Gemach» genannt. In diesen konnte das Geschäft auch in etwas ruhigerer Atmosphäre erledigt werden. Da es kein System zum Abtransport gab, wurde der gesamte Unrat einfach auf die Strasse geleert. Hier verrichteten übrigens auch die einfacheren Leute ihre Durft. Der gehobenen Stand verschob das Verrichten des Geschäfts also mehr ins Private und wie die Durft verrichtet wurde, wurde so zum Statussymbol.
Im 18. Jahrhundert wurde der öffentliche Stuhlgang dann etwas privater. In Städten gingen sogenannte Abtrittsanbieter auf und ab, die in weite Mäntel gehüllt waren. Darunter befanden sich Eimer, in denen die einfachen Leute von der Strasse ihr Wasser lassen oder auch mehr konnten. Aber auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts war das öffentliche Wasserlassen oder Kacken noch an der Tagesordnung. So liessen es auch Frauen unter ihren langen Röcken einfach mal fliessen. Die bürgerliche Gesellschaft verschob den Gang zur Toilette dann aber mehr ins Private. Der Stuhlgang wurde immer mehr mit Scham- und Peinlichkeitsgefühlen belegt und die Toilette zum stillen Ort.
Unreinheit vs. Reinheit
Der kurze historische Abriss zeigt, dass die Vorstellungen von Hygiene und Sauberkeit und damit einhergehend vom Stuhlgang einem stetigen Wandel unterworfen sind. Sie sind von gesellschaftlichen und geschichtlichen Bedingungen abhängig. Unsere heutigen Vorstellungen sind erst mit der bürgerlichen Gesellschaft und deren Normzwängen um unsere Körper entstanden. Der Begriff Hygiene kommt im 19. Jahrhundert auf. Er ist Resultat der Aufklärung und des Fortschritts der Medizin. Krankheiten sind nichts Gott gegebenes mehr, sondern die Menschen können sich durch Sauberkeitsverhalten selbst davor schützen. Der Körper wird zum Ort des Schmutzes und die Körperpflege setzt sich in einem breiten Teil der Bevölkerung durch. Die Hygiene wird mit der Entdeckung von Bakterien auch zu einer moralischen Verpflichtung. Um die soziale Ordnung nicht zu gefährden wird der Körper einer zunehmenden Kontrolle unterworfen. Diese Kontrolle geht mit der Verstärkung von Scham- und Peinlichkeitsvorstellungen einher. Dadurch wird auch der Stuhlgang immer mehr in den intimen Bereich gedrängt.
Sauberkeit und Hygiene sind mit Ideen von Reinheit verbunden. Sauberkeit wird laut Bergler mit Vorstellungen von symbolischer Bedeutsamkeit in Verbindung gebracht. So steht Sauberkeit auch für Ehrlichkeit, Unschuld oder Moral. Sie ist ein sozial erwünschtes Verhalten. Eine Abwesenheit von Sauberkeit respektive mangelnde Hygiene kann soziale Aversionen und Antipathien hervorrufen. Die Anthropologin Mary Douglas hat sich in ihrer Arbeit vertieft mit Reinheit auseinandergesetzt. In ihrer Analyse eruiert sie Verunreinigung als eine Gefahr. Eine Gefahr, die nur dort droht, wo die Gesellschaft Reinheit eindeutig definiert hat. Das heisst, dass Vorstellungen von Sauberkeit und Schmutz Teil der sozialen Ordnung sein müssen, Teil der Sozialisierung. Denn Unreinheit ist nie etwas Absolutes. Sie existiert nur vom Standpunkt des Betrachters. Der verunreinigende Mensch ist immer im Unrecht. Er hat sich durch seine Taten/sein Verhalten in eine Situation gebracht, die die gesellschaftliche Ordnung nicht akzeptiert. Seine Aktion bringt andere Menschen in Gefahr, weil sie das soziale Gleichgewicht stört. Wenn sich eine Person ausserhalb der gesellschaftlichen Norm befindet, kann das durchaus subversives Potenzial haben. Hinter dem Begriff Reinheit steht gemäss Douglas eine Vorstellung von Einheit und Abgeschlossenheit der Gesellschaft. Diese Vorstellung basiert auf Gemeinsamkeiten aber ebenso auf Ausschluss von allem, was unrein oder verunreinigend ist.
Das lässt sich sehr gut auf die Kulturgeschichte der Toilette übertragen. Unsere Gesellschaft hat den Stuhlgang in private Häuschen verlegt. Wenn wir unser Geschäft erledigen, tun wir das in speziell dafür vorgesehenen Räumen. Bei öffentlichen Toiletten kommen dann noch die Kabinen hinzu. Für den Gang zur Toilette müssen wir nicht nur physisch in die Peripherie, sondern wir haben die Toilette auch in unseren Diskursen an den Rand gedrängt. Wir sprechen weder über unsere Scheisse noch nennen wir sie so, oder zumindest nicht im Gespräch mit dem Chef. Dass das aber stark an den jeweiligen Zeitgeist und gesellschaftliche Umstände gebunden ist, hat der obige historische Abriss gezeigt. Bei den Römern beispielsweise war der Gang zur Toilette ein sozialer Akt. Die Grenze zogen die Römer aber beim Verrichten der Durft auf der Strasse. Das verstiess gegen ihre Reinheitsvorstellungen. In eine andere Richtung ging es im Mittelalter. Die höheren Stände nutzten die Aborte, um sich von den tieferen Ständen abzugrenzen. Die tieferen Stände galten als unrein, weil sie ihren Stuhlgang auf der Strasse machten, die hohen Stände galten als rein, weil sie sie in ihrem trauten Heim verrichteten. Wer sich einen Abort leisten konnte, war rein und konnte sich von den Unreinen, die auf die Strasse kackten, abgrenzen. Reinheitsnormen sind also keineswegs angeboren, sondern Ausdruck von gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen. Anhand dieser Normen wird eine Abgrenzung zum Anderen vorgenommen. Wenn die Normen eingehalten werden, wird die Zugehörigkeit zur Gesellschaft bekräftigt. Diese Normen werden aber stetig verhandelt und können sich wieder ändern. Das geschieht unter anderem durch Subversion, die im Laufe der Zeit zur Norm werden kann.
Im Hinblick darauf, wie viele Menschen aufgrund mangelnder Toilettenhygiene sterben, täte uns etwas mehr Subversion gut. Denn wenn wir mehr über Scheisse sprechen, sind wir uns auch mehr der dahinterliegenden Problematiken bewusst.
Galaxus fürs stille Örtchen
Technologie und Gesellschaft faszinieren mich. Die beiden zu kombinieren und aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu betrachten, ist meine Leidenschaft.