«Risiko»: Ist es okay, wenn ich die Ukraine erobere, ähm, befreie?
Hintergrund

«Risiko»: Ist es okay, wenn ich die Ukraine erobere, ähm, befreie?

Das Brettspiel «Risiko» ist eines der erfolgreichsten Spiele der Welt. Seit 1957 kannst du Armeen verschieben und die Weltherrschaft erwürfeln. Ist der Strategie-Klassiker noch zeitgemäss?

Ich dürfte vielleicht elf Jahre alt gewesen sein, als ich zuletzt Herrscher der Welt war. Zumindest auf dem Spielbrett von «Risiko». Meine Armeen hatten immer mehr Gebiete erobert und die Truppen der Gegner vom Spielfeld geworfen. Das war ums Jahr 1990 herum. Der Eiserne Vorhang war erst gerade gefallen, Deutschland wiedervereinigt, der Historiker Francis Fukuyama hatte «das Ende der Geschichte» ausgerufen und ein Buch darüber verfasst. In dieser Zeit schien ein Krieg, bei dem ein Land ein anderes angreift und zu erobern versucht, sehr weit weg zu sein. Obwohl das natürlich die Perspektive der nördlichen Hemisphäre war. In dieser Zeit spielte ich «Risiko» und machte mir keine Gedanken. Ein Bürgerkrieg wie jener, der von 1990 bis 1994 in Ruanda wütete, war weit weg.

Kürzlich fiel mir das Spiel wieder in die Hände. Nicht der vermutlich ohnehin zerfledderte Karton mit Soldaten-Figuren, Würfeln, Karten und Spielbrett. Nein, Apple schickte mir seine wöchentlichen App-Empfehlungen. Darunter war eine iPad-Version des Strategiespiels. Ausprobieren kann man es mal, dachte ich mir, und lud es herunter.

Die Adaption des Brettspiel-Klassikers «Risiko» fürs iPad. Ich spiele gegen drei mehr oder minder künstlich intelligente Möchtegern-Weltherrscher.
Die Adaption des Brettspiel-Klassikers «Risiko» fürs iPad. Ich spiele gegen drei mehr oder minder künstlich intelligente Möchtegern-Weltherrscher.
Quelle: Martin Jungfer

Ein paar Partien später ist klar: Die Erfolgsfaktoren des Brettspiels gelten auch in der digitalen Version:

  1. Sichere dir so schnell wie möglich einen oder mehrere Kontinente, um den Truppenbonus zu erhalten.
  2. Sichere die Aussengrenzen deines Reiches ab, um Gegner gar nicht erst auf den dummen Gedanken eines Angriffs zu bringen.
  3. Achte auf mögliche Truppenkonzentration deiner Gegner (um deren Mission zu antizipieren) und reagiere durch cleveres Verschieben deiner eigenen Armeen.

Während ich das hier schreibe, kehrt die frühere Faszination zurück. Vermutlich waren die Partien «Risiko» für mich Vorläufer für spätere «Civilization»-Nächte am PC. Seit aber in Europa wieder Krieg herrscht, seit Russland seine Truppen zuerst an den Grenzen zur Ukraine gesammelt hat und dann mit dem Ziel der Eroberung einmarschiert ist, frage ich mich, ob ich heute noch unbeschwert und guten Gewissens «Risiko» spielen kann. Wo im Spiel schlimmstenfalls ein paar Plastikfiguren fallen, sterben in der Realität seit Februar 2022 täglich Menschen.

Ukraine fehlt als Spielfeld bei «Risiko»

In der aktuellen «Risiko»-Brettspiel-Version gibt es die Ukraine als mögliches Schlachtfeld nicht mehr. Das Spielfeld auf dem Brett kennt nur «Russland» als eines der 42 Territorien auf der Weltkarte. Das Staatsgebiet der Ukraine ist in Russland aufgegangen. In den 1970er-Jahren dagegen gab es Spielfelder ohne «Russland», dafür mit einer «Ukraine», die vom Schwarzen Meer bis zur Ostsee reichte.

Dort, wo heute realer Krieg herrscht, gibt es bei «Risiko» je nach Erscheinungsland entweder nur «Ukraine» oder nur «Russland». Diese Karte zeigt eine Kartenversion von «Risiko», wie es zum 40-Jahr-Jubiläum publiziert wurde. Nur mit Ukraine.
Dort, wo heute realer Krieg herrscht, gibt es bei «Risiko» je nach Erscheinungsland entweder nur «Ukraine» oder nur «Russland». Diese Karte zeigt eine Kartenversion von «Risiko», wie es zum 40-Jahr-Jubiläum publiziert wurde. Nur mit Ukraine.
Quelle: Wikimedia / cmglee, Gr0gmint

Die aktuelle «Refresh»-Edition stammt von 2016. Zur Erinnerung: Bereits 2014 hatte Russland die Krim annektiert. Ich werfe Hasbro, die das Spiel herausgeben, jedoch nicht vor, hier Weltpolitik abbilden oder gar voraussagen zu wollen. Denn je nach Land und Version des Spiels heissen die Spielfelder unterschiedlich. Was in Deutschland «Russland» ist, heisst woanders weiterhin «Ukraine», dort gibt es dafür gar kein «Russland». Eine Übersicht zum aktuellen Stand nach Versionen und Ländern hat wohl nur Hasbro.

Ich habe bei Hasbro nachgefragt, inwiefern die aktuelle Weltpolitik eine Rolle spielt bei der Grenzziehung auf dem Spielbrett. Die Antwort der Hasbro-Zentrale aus den USA ist fast schon unverschämt diplomatisch, insbesondere weil es ja um ein eher kriegerisches Spiel geht. Und so verständlich wie die Befehle eines Feldmarschalls im Wodka-Rausch. Sie lautet im Wortlaut:

Die Refresh-Edition von «Risiko» ist ein (...) Spiel, das einen bestimmten Moment der Zeitgeschichte hervorhebt. Neuere Versionen («Risk Strike» und «Risk Shadow Forces») arbeiten daran, zeitgemässe Ausführungen auf der Weltkarte einzuführen, die veraltete territoriale Grenzen beseitigen, aber das Spielerlebnis des Originals ehren.
Hasbro Global PR

In welcher Version auch immer: Für sensible Kleinstaaten-Seelen ist «Risiko» eher ein schwieriges Spiel. Die Schweiz zum Beispiel findet auf dem Spielfeld gar nicht erst statt. Hier empfiehlt sich ein Blick auf eine der zahlreichen Sondereditionen, zum Beispiel die Röstigraben-Variante.

Wer hat’s erfunden …?

Historisch reicht der Kampf auf dem heutigen Staatsgebiet der modernen Schweiz bei dieser Variante noch weiter zurück, als es damals wohl die Erfinder des Originals im Sinne hatten. Die Köpfe hinter «Risiko» sind der französische Regisseur Albert Lamorisse und der Spielredakteur Jean-René Vernes. In einer ersten Idee von Lamorisse gab es Landtruppen und Schiffe. Letztere wurden dann gestrichen, dafür wurde ein Bonus für verteidigende Truppen eingeführt. 1957 erschien das Spiel unter dem Titel «La Conquête du Monde» in Frankreich. Für die USA erwarb der Spiele-Gigant Parker Brothers die Rechte am Spiel. Und die Amerikaner schraubten noch einmal am Konzept, um das Spiel weniger langwierig zu machen. Sie stärkten die Position des Angreifers wieder. Verteidiger durften jetzt nur noch maximal zwei Würfel benutzen. Und Parker Brothers führte auch den Namen «Risk» ein, unter dem es 1959 erstmals erschien.

In der Nachkriegszeit waren nicht alle Manager bei Parker Brothers Fans des neuen Spiels. Sie gaben ihm wenig Chancen auf Erfolg, weil sich Spielzeuge, die den Krieg thematisierten, schlecht verkauften. Ausserdem war es teuer: Die meisten Brettspiele kosteten damals um die zwei Dollar, «Risk» dagegen über sieben, wie Tristan Donovan in seinem Buch «It’s All A Game» zur Geschichte der Brettspiele notiert hat.

Mit über 100 000 Verkäufen war es 1959 dann aber trotzdem das meistverkaufte Spiel. In den folgenden Jahren wurden weltweit Millionen Exemplare verkauft, «Risiko» ist damit eines der erfolgreichsten Spiele aller Zeiten, in jedem Fall unschlagbar im Segment der Kriegs- und Strategiespiele.

Seit 1985 wird nicht mehr «erobert», sondern «befreit»

Trotz des kommerziellen Erfolgs – vielleicht auch deswegen –, gab es immer wieder Kritik am Spiel. In den 1980er-Jahren monierte in Deutschland die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften militärische Formulierungen in der Spielbeschreibung. Konkret ging es um die auf Karten gedruckten Aufträge, die du als Spieler zu erfüllen hast. Zum Beispiel: «Erobern Sie 18 Länder Ihrer Wahl, und besetzen Sie sie mit je zwei Armeen» oder «Vernichten Sie alle schwarzen Armeen». Solche Ansagen würden Krieg und Gewalt verharmlosen. Ausserdem richte «die spielerische Nachvollziehung von diktatorischem Handeln sich zwangsläufig gegen den Gedanken der Erziehung zum Frieden». Durch das Spiel entstehe die Gefahr, Angriffskriege positiv zu bewerten, stellte die Prüfstelle zudem fest.

«Risiko» stand 1985 kurz davor, auf dem Index zu landen. Es wäre dann wie ein Hardcore-Porno damals wohl nur noch unter der Ladentheke zu bekommen gewesen. Parker als Hersteller wehrte sich aber erfolgreich. Schliesslich erklärte das Verwaltungsgericht in Köln, das zur Klärung der Frage angerufen wurde, das Spiel für moralisch unbedenklich, weil es zu abstrakt sei, um der Kriegsverherrlichung verdächtigt werden zu können. Trotzdem editierte Parker die deutsche «Risiko»-Version. Seitdem gilt es, Kontinente zu «befreien». Niemand musste mehr schwarze Armeen «töten». Man darf aber Länder immer noch «besetzen». Als Kind muss also in den späten 1980er-Jahren bereits die semantisch entschärfte Version von «Risiko» gespielt haben. Ohne es bemerkt zu haben.

Heute, über 20 Jahre später, sind die juristischen Kämpfe vergessen. In der App-Version von «Risiko» lässt es Hasbro rumpeln und krachen. Es gibt Angriffs- und Befestigungsphasen, und die künstliche Intelligenz rät mir auf Anfrage dazu, bestimmte Länder zu «erobern». Als hätte es den Streit von 1985 nie gegeben. Was nicht weiter überrascht. Denn inzwischen gibt es Games, die um einiges kriegslüsterner sind – ob sich vor 37 Jahren jemand etwas wie «Call of Duty» hätte vorstellen können?

Im Vergleich zu modernen Kriegssimulationen wirkt «Risiko» in der analogen Brettspiel-Variante heute geradezu antiquiert. So wie viele andere PC-Spiele aus meiner Kindheit, zum Beispiel das DOS-Game «Tank Wars», bei dem sich zufällig in der Landschaft platzierte Panzer Artilleriefeuer-Schlachten lieferten.

«Tank Wars» – ein DOS-Spiel aus dem Jahr 1990.
«Tank Wars» – ein DOS-Spiel aus dem Jahr 1990.
Quelle: Martin Jungfer

Beides, «Risiko» wie auch frühe Games, sind von der Realität sehr weit entfernt. Trotzdem, ich fühle mich nicht wohl damit, Panzer oder ganze Armeen herumkommandieren. Das Kriegsspiel hat für mich den Reiz verloren, seit er in der Realität wieder so nahe ist.

Was denkst du? Sind Brettspiele wie «Risiko» heute noch zeitgemäss? Schreibe einen Kommentar und teile deine Gedanken mit mir und der Community.

Titelfoto: Martin Jungfer

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Journalist seit 1997. Stationen in Franken, am Bodensee, in Obwalden und Nidwalden sowie in Zürich. Familienvater seit 2014. Experte für redaktionelle Organisation und Motivation. Thematische Schwerpunkte bei Nachhaltigkeit, Werkzeugen fürs Homeoffice, schönen Sachen im Haushalt, kreativen Spielzeugen und Sportartikeln. 


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