Öberall heds Pilzli draa: Ein Besuch beim Schweizer Edelpilz-Produzenten
Wenn du in der Migros einen asiatischen Pilz kaufst, ist die Chance gross, dass er von der Kernser Edelpilze GmbH stammt. Die Firma gehört zu den namhaftesten Schweizer Produzenten. Ein Blick in ihre unterirdischen Kühlräume.
«Mer gönd hüt zumene Pilzproduzent,eine, womer ide ganze Schwiiz kennt.Er isch eine vo de Grosse,drum müender etz guet lose.»
Ganz so holprig klingt Peach Webers Kult-Song «Öberall heds Pilzli draa» nicht. Doch die obige Eigenkreation beschreibt meinen Besuch bei der Kernser Edelpilze GmbH ziemlich treffend. Sie ist mit ihrem breiten Sortiment verschiedener Edelpilze eine der bedeutendsten Produzenten in der Schweiz. Rund 50 Prozent aller asiatischen Pilze – 160 bis 180 Tonnen jährlich – züchtet die Firma in der Obwaldner Gemeinde Kerns.
Das schaue ich mir vor Ort an. Wie ein knalliger Fliegenpilz sticht mir das imposante Produktionsgebäude schon von Weitem ins Auge. Es steht auf einer grünen Wiese ausserhalb des Dorfes, direkt am Waldrand. Grösser als der sichtbare Teil ist jedoch das, was unter der Erde liegt. Genau wie das Myzel, das Zell-Geflecht eines Pilzes. Der Geschäftsführer und Marketingverantwortliche Christian Fanger nimmt mich mit in die 15 unterirdischen Kühlräume.
Ein mühseliges Wachstum
Wie ein Pilzmyzel durch die Erde schlängeln wir uns durch unzählige Gänge. Am ersten Abzweiger wähne ich mich in einer Backstube. Sind das Brotlaibe auf den Tablaren? «Sieht fast so aus», sagt Christian Fanger und lacht, «tatsächlich sind es aber Substrate, aus denen später die Pilze wachsen.» Sprich: die Nährböden. Sie bestehen aus Holz, recycelten Getreideabfällen und Pflanzenfasern, Myzel, Wasser und Gips. Jede Pilzsorte hat eine andere Zusammensetzung. «Daran haben wir jahrelang getüftelt», sagt Fanger.
Der wirtschaftliche Nährboden für Edelpilze war in der Schweiz lange mager. Edelpilze waren kein Begriff, als die Firma 1995 mit der Zucht begann. Dies in zweierlei Hinsicht: Einerseits konsumierte sie kaum jemand, andererseits gab es die Bezeichnung «Edelpilz» noch gar nicht. «Man nannte asiatische Pilze Exotenpilze. Für uns klang das aber nicht hochwertig genug. Immerhin wachsen unsere Pilze auf Holz und nicht auf Kompost wie Champignons. Also brachten wir den Begriff Edelpilz in den Umlauf. Heute nennt sie sogar der europäische Pilzverband so», erklärt Fanger.
Der Begriff war nicht die einzige Hürde. Die Kernser Edelpilze GmbH brauchte für die Zucht sämtlicher Pilzarten – abgesehen von Shiitake, der bereits etabliert war – eine Bewilligung des Bundesamts für Veterinärwesen. Und auch das Substrat aus dem Ausland zu beschaffen, war mühselig. Aber: «Aufgeben war keine Option. Wir glaubten immer an den Erfolg unserer Pilze», sagt Fanger. 2011 entwickelte die Kernser Edelpilze GmbH eine automatisierte Substratmaschine. Von da an war sie nicht mehr vom Ausland abhängig. 2014 wurde die Firma dafür mit dem agroPreis für Innovationen in der Schweizer Landwirtschaft ausgezeichnet. Migros nahm die Edelpilze ins Sortiment auf. Auch die Gastronomie begann Interesse zu zeigen. Das war der lange ersehnte Durchbruch.
Die perfekten Bedingungen
Wir kurven weiter durch die unterirdischen Gänge. Plötzlich stehen wir vor einer riesigen Schiebetür: dem Eingang zum Kühlraum. Christian Fanger öffnet die «heiligen Pforten». Was dahinter liegt, lässt mich erschaudern. Nicht nur, weil es 14 Grad kalt ist. Sondern, weil auf mehrstöckigen Gestellreihen überall Pilze spriessen.
«Öberall heds Pilzli draa.Shiitake, Shimeji, Pom-Pom blanc.Öberall heds Pilzli draa.Enoki und Nameko, i liebe da.Öberall heds Pilzli draa.Kräuterseitling und Pleurotus,das gseht faszinierend us.»
Unwillkürlich summe ich in Gedanken meine Peach-Weber-Eigenkreation weiter. Ich weiss gar nicht, wo ich zuerst hinschauen soll. Zu den glitschig-gelben Namekos, zu den schlaksigen Enokis, zu den massigen Stielen der Kräuterseitlinge? Die Farben und Formen der Edelpilze sind berauschend.
«Der sieht ja fast aus wie ein Tête-de-Moine-Käse», sage ich und zeige auf einen fluffig-weissen Pilz. «Ja, das ist ein Pom-Pom frise», erklärt mir Fanger. Tatsächlich, an einen Mützen-Bommel (Pompon) erinnert er auch. Fanger zeigt mir, wie der Plastik aufgeschnitten wird, sobald die ersten Pilzköpfe aus dem Substrat gucken. Immer auf der Seite, auf der man am besten hinkommt. Denn die Pilze müssen ja irgendwann geerntet werden.
Dies ist – je nach Pilzart – nach vier bis 15 Wochen der Fall. Auf dem einen Gestell ist es so weit. Eine Mitarbeiterin zeigt uns, wie sie mit einem Messer den Stiel eines Kräuterseitlings durchtrennt. Eine Fliessbandarbeit? Fanger widerspricht: «Ganz so repetitiv ist das nicht. Bei jedem Pilz befindet sich die geeignete Schnittstelle woanders. Es hat aber dennoch etwas Meditatives.» Tatsächlich. Während wir der Mitarbeiterin zuschauen, wie ihr Messer durch den schwammigen Stiel gleitet, ist es in meinem sonst so lauten Kopf still. Ich könnte den ganzen Tag hier stehen und zuschauen. Wäre es nur nicht so kalt.
Als ein Zerstäuber an der Decke etwas in den Raum spritzt, fröstelt es mich noch mehr: «Das ist Wasserdampf», sagt Christian Fanger und schaut nach oben. «Jeder Pilz braucht eine andere Konzentration. Schon winzige Änderungen können grosse Auswirkungen haben. Wir sind deshalb auch im ständigen Austausch mit unseren Partnern in Europa, von denen wir das Pilzmyzel beziehen.» Doch sogar die Pilz-Profis erleben zwischendurch Rückschläge: Die Zucht des Shimejis etwa mussten sie zwischenzeitlich abbrechen, weil er nicht wuchs. Jetzt haben sie jedoch wieder damit gestartet. Beim Rausgehen zeigt Christian Fanger auf einen Pilz, der an einen jungen Champignon erinnert. Als die Schiebetür hinter uns zugezogen wird, herrschen wieder meine Optimalbedingungen: Zimmertemperatur.
Weitblick und grosse Visionen
Während ich auftaue, möchte ich wissen, was mit dem Substrat passiert, nachdem die Pilze geerntet wurden. Christian Fanger zeigt es mir einen Raum weiter. «Der Plastik ist das Einzige, was wir noch nicht recyceln können. Vom Substrat hingegen wird 85 Prozent wiederaufbereitet», erklärt er. Und was entsteht daraus? «Zum Beispiel Blumenerde», sagt Christian Fanger, «oder Tierfutterzusatz für Hühner, Schweine und Kälber. Denkbar wäre es auch einmal als Insektenfutter, wenn dieser Trend in der Lebensmittelbranche anhält. Uns ist es wichtig, vorausschauend zu denken.»
Den besten Weitblick hat man von Fangers Büro im ersten Obergeschoss aus. Dort legen wir den letzten Zwischenhalt ein. Fanger schaut über die grünen Wiesen bis zum Horizont und meint: «Die Ernährung muss sich verändern. In der heutigen Zeit wäre es wichtig, dass Kinder etwas über Pilze lernen. Und auch in Altersheimen und in der Pharmaindustrie sollten Edelpilze einen Platz bekommen.» Die chinesische Medizin beispielsweise setzt sogenannte Vitalpilze seit Jahrtausenden ein. Sie sollen zur Stärkung der Immunabwehr und gegen Krankheiten helfen. Das Problem in der Schweiz: Vitalpilze gelten als Nahrungsergänzungsmittel, nicht als Arzneimittel. Sie dürfen in der Schulmedizin nicht eingesetzt werden. Dafür fehlt es noch an aussagekräftigen Studien.
Im Nahrungsmittelsektor haben Edelpilze bereits grössere Chancen. «Der Bund hat mit der neuen Klimastrategie beschlossen, den Fleischkonsum in den nächsten Jahren zu reduzieren. Pilze sind der perfekte Ersatz», freut sich Fanger. Noch sind jedoch viele Schweizerinnen und Schweizer zurückhaltend beim Kochen mit Pilzen. Fanger glaubt, das liege daran, dass sie nicht richtig zubereitet würden. Deshalb teilt die Kernser Edelpilze GmbH auch Rezepte von «le menu» auf ihrer Webseite. Ausserdem verkauft sie getrocknete und eingelegte Edelpilze, ein Pilzgewürz und eine sogenannte Pilzfabrik*, mit der man zu Hause selbst Shiitake-Pilze züchten kann. Auch neue Pilzarten stecken noch in der Entwicklung: der Pom-pom blanc, der weisse Enoki und der Maitake.
Nur eines wird es bei der Kernser Edelpilze GmbH nie geben, wie Fanger beim Abschied sagt: Magic Mushrooms.
*Bald wage ich einen Selbstversuch mit einer Pilzfabrik. Folge meinem Profil und erfahre in den nächsten Wochen, wie meine Shiitake-Pilze spriessen. Das sollte dann ungefähr so aussehen:
Wie stehst du zu Pilzen? Welche magst du besonders gerne? Und wie bereitest du sie zu? Verrate es mir in einem Kommentar.
Ich mag alles, was vier Beine oder Wurzeln hat. Zwischen Buchseiten blicke ich in menschliche Abgründe – und an Berge äusserst ungern: Die verdecken nur die Aussicht aufs Meer. Frische Luft gibt's auch auf Leuchttürmen.