Kennst du noch? «Xenogears»
27.8.2022
«Xenogears» hätte genau so gut «Final Fantasy VII» oder «Chrono Cross» heissen können. Das Spiel erschien 1998 in Squaresofts goldenem Zeitalter und ist bis heute mein lieblings JRPG – obwohl es nicht wirklich fertig ist.
In der Serie «Kennst du noch?» erinnern sich die Redaktionsmitglieder an vergangene Gaming-Perlen.
Von «Final Fantasy 7» über «Parasite Eve» und «Chrono Cross» bis hin zu «Final Fantasy 10» – in den Jahren 1997 bis 2001 hat Squaresoft – heute Square Enix – einige geniale Spiele veröffentlicht. Deshalb wird diese Zeit auch als goldenes Zeitalter des Herstellers bezeichnet.
Vergessen geht dabei immer wieder die Perle «Xenogears». Wohl auch, weil sie bei uns in Europa bis heute nie offiziell erschienen ist. Dabei hätte die Geschichte von Tetsuya Takahashi und Soraya Saga auch «Final Fantasy 7» heissen können. Takahashi hat sein Script damals den Verantwortlichen des legendären Squaresoft-Titels vorgelegt. Die empfanden die Geschichte über einen Soldaten mit Gedächtnisschwund und multiplen Persönlichkeiten in einem Sci-Fi-Szenario jedoch als zu dunkel und komplex für ein «Final Fantasy»-Spiel. Klingt vertraut? Ist es auch, denn Ausgangslage und Setting sind sich in «Xenogears» und «Final Fantasy 7» sehr ähnlich.
Wieso sich die Verantwortlichen dennoch dagegen entschieden haben? Darüber lässt sich nur mutmassen. Vielleicht war die Geschichte, die Ideen von Friedrich Nietzsche, Sigmund Freud, Jacques Lacan und Carl Jung aufgreift, zu erwachsen für einen «Final Fantasy»-Titel. Vielleicht lag es auch an der für damalige Verhältnisse ungewöhnlichen Erzählweise: Statt der Geschichte bestimmen die Charaktere die Handlung.
Glücklicherweise erkannten die Verantwortlichen bei Squaresoft das Potenzial von «Xenogears». Zunächst noch als Nachfolger von «Chrono Trigger» konzipiert, liess Squaresoft Takahashi ein neues Spiel entwickeln.
Darum geht es bei «Xenogears»
Im Mittelpunkt der Geschichte steht Fei Fong Wong, der an Gedächtnisschwund leidet. Seine Erinnerungen reichen nur drei Jahre zurück. Heute lebt er im beschaulichen Dörfchen Lahan. Die Ruhe währt jedoch nicht lange. Bei einem Zwischenfall besteigt er einen Gear, einen Roboter in Übergrösse, wie er aus Mecha-Animes bekannt ist. Dabei verliert er die Kontrolle und zerstört das Dorf. Er wird verbannt.
Nach diesem Unglück will Fei nicht mehr kämpfen. Bald trifft er jedoch andere, die behaupten, seine Vergangenheit zu kennen. Er schliesst Freundschaften und mir nichts, dir nichts ist die Gruppe in einen Krieg verwickelt. Bis auf zwei spielbare Figuren – Rico und Chu-Chu – erhalten alle Charaktere viel Zeit, um ihre persönliche Geschichte und Entwicklung aufzuzeigen. Ihr Verhalten ist dabei immer nachvollziehbar erzählt. Im Verlauf der etwa 50 Stunden Spielzeit zeigt sich, dass sich die Geschichte immer wiederholt und die Gruppe in weltumspannende Ereignisse verwickelt ist.
Falls du dich für die Geschichte von «Xenogears» im Detail interessierst, schaust du dir am besten dieses Video an:
«Xenogears» verwendet viele Rollenspielelemente, die für die damaligen Squaresoft-Titel typisch sind. Das Active Time Battle System verleiht dem rundenbasierten Kampf frischen Wind. «Xenogears» fügt jedoch einige Funktionen hinzu, die für die auf Kampfkunst ausgerichteten Kämpfe einzigartig sind. Das Kampfsystem als Mensch oder im Gear unterscheidet sich leicht und sorgt für etwas Abwechslung.
Das Spiel enthält voll animierte Zwischensequenzen. Auch an anderen Stellen unterscheidet sich«Xenogears» von anderen Titeln jener Zeit. Statt auf vorgerenderte Hintergründe und polygonale Charaktere setzt der Titel auf polygonale Hintergründe und vorgerenderte Charaktere. Also genau das gegenteilige Vorgehen wie in «Final Fantasy 7», das zur selben Zeit entwickelt wurde. Im Spiel lässt sich die Kamera um 360 Grad drehen. Das ist nicht immer optimal und sorgt in gewissen Spielabschnitten für ordentlich Frust.
Von «Star Wars» inspiriert
Viele Fans des Spiels meinen, dass der Anime «Neon Genesis Evangelion» Inspiration für «Xenogears» war. Feis anfänglicher Widerwille zu kämpfen und die Probleme mit seinem Vater weisen zwar darauf hin. Aber Co-Autorin Soraya Saga hat den Einfluss mehrmals verneint.
Gemein haben die beiden vor allem die Referenzen zur jüdischen Mystik, dem religiösen Symbolismus. In «Evangelion» ist die Religion eher Stilmittel der Erzählweise, «Xenogears» ist religionskritisch. «Evangelion» ist klar dekonstruktivistisch und eine Kritik am Mecha-Anime-Genre und seinen Fans. In «Xenogears» stehen die Mechas Genre-typisch für Einheit, in «Evangelion» stehen sie für Isolation.
Auch der Fokus auf psychologische Aspekte steckt in beiden Werken. In «Evangelion» ist er jedoch Kommentar zum Genre und seinen Fans, dem politischen Klima zu jener Zeit in Japan. Für den Autor war «Evangelion» zudem ein Ventil für Depression und Isolation. In «Xenogears» liegt der Fokus hingegen auf Religion, Ideologien und dem Verhältnis vom Individuum zur Gesellschaft. Im Kern geht es darum, was es bedeutet, Mensch zu sein.
Eine offensichtliche Inspirationsquelle war die originale «Star Wars»-Trilogie von George Lucas. Der Charakter Grahf mit seinem Helm ist klar eine Hommage an Darth Vader. Es gibt noch weitere Beispiele, wie wenn Fei analog zu Han Solo eingefroren wird oder die auf mehrere Episoden ausgelegte Geschichte. Nebst diesen Anspielungen sind Stil und Themen bei «Xenogears» jedoch komplexer und erwachsener als in George Lucas’ Märchen.
Das Spiel zeigt, was psychologisch mit Menschen passiert, wenn sie von der Mutter gequält oder als Kinder von religiösen Führern sexuell missbraucht werden. Letzterer Fakt führte bei der US-amerikanischen Lokalisierung dazu, dass die Kirche nicht als solche, sondern als Ethos bezeichnet wird. Die Verantwortlichen hatten Angst, dass das Spiel von religiösen Kreisen boykottiert würde. Dass die meisten Themen dennoch so behandelt werden, wie im japanischen Original, ist dem Übersetzer zu verdanken, der gewisse Dinge vorsichtig umformulierte. Sonst wäre «Xenogears» in den USA wohl nicht veröffentlicht worden.
Nicht ganz fertig
Aber nicht nur die Veröffentlichung in den USA stand auf Messers Schneide. Dass «Xenogears» überhaupt so etwas wie ein Ende hat, ist Takahashi zu verdanken. Terminprobleme, neue und vor allem unerfahrene Mitarbeitende, geringes Budget und die immer grösser werdende Geschichte waren ein riesiges Problem in der Entwicklung von «Xenogears».
Takahashi selbst sagte, dass vor allem das junge Team, das zu allem Überfluss zum ersten Mal ein Spiel in 3D entwickelte, mit der Aufgabe überfordert war. Daher hätten sie die Deadline für das Spiel in der Form, wie es sich Takahashi vorstellt, nicht einhalten können.
Die Verantwortlichen bei Squaresoft verlängerten die Deadline für das Spiel nicht. Ihr Vorschlag: Takahashi sollte das Spiel nach der ersten CD-ROM enden lassen. Damit hätte das Spiel mit einem riesigen Cliffhanger geendet. Da es nicht sicher war, dass er einen zweiten Teil machen kann, entschied sich Takahashi zu einem dramatischen Schritt: Er packte viel mehr Story auf die zweite CD als vorgesehen.
Statt einem Spiel im eigentlichen Sinne ist die zweite CD eine Art Text-JPRG. Die Charaktere sitzen auf einem Stuhl vor primär schwarzem Hintergrund mit Bildern, die eingeblendet werden und erzählen die Geschichte weiter. Es gibt also verdammt viel zu lesen. Zwischendurch folgt ein Boss Fight oder ein Dungeon. Immerhin konnte Takahashi die Geschichte so zu Ende erzählen.
Mit Fei und seinen Mitstreitenden wäre «Xenogears» jedoch noch lange nicht zu Ende gewesen. Im Verlauf der Entwicklung konzipierte Takahashi die Geschichte aus drei Teilen. Der erste spielt 15 000 Jahre vor den Ereignissen im Spiel. Der zweite ist das Spiel selbst und der dritte behandelt, was danach kommt.
Der zweite Teil kann wiederum in vier Unterepisoden aufgeteilt werden. In den Credits von «Xenogears» steht, dass dies die fünfte Episode war. Takahashi plante ursprünglich, Episoden zwei bis vier in verschiedenen Formaten wie Romanen oder anderen Spielen zu veröffentlichen. Dazu kam es jedoch nie. Er integrierte sie deshalb als Flashbacks in Episode fünf – weshalb die Entscheidung Takahashis, die zweite CD beinahe ganz als Text-JRPG zu konzipieren, rückblickend richtig war. So sind zumindest Fragmente der Episoden zwei bis vier vorhanden. Auch wenn die geschichtslastige zweite CD viele Spieler abspringen liess, ist sie storytechnisch für jene Zeit ein Meisterwerk.
«Xenogears» wäre also nicht nur eine einfache Geschichte über einen Soldaten mit multiplen Persönlichkeiten auf irgendeinem Planeten geblieben. Sie wäre eine allumfassende Weltraum-Oper geworden. Leider ist es nie dazu gekommen. Nach dem ersten Teil war Schluss.
Takahashi verliess im Anschluss an das Spiel Squaresoft und gründete Monolith Soft. Hier entstanden Spiele wie die dreiteilige «Xenosaga»-Serie oder «Xenoblade Chronicles», wovon letzten Monat der dritte Teil erschienen ist.
Falls du die komplette Geschichte von «Xenogears» nachschauen möchtest, kannst du dies mit dieser Playlist, in der alle Zwischensequenzen zusammengeschnitten sind.
Kevin Hofer
Senior Editor
kevin.hofer@digitecgalaxus.chTechnologie und Gesellschaft faszinieren mich. Die beiden zu kombinieren und aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu betrachten, ist meine Leidenschaft.