Filmkritik: «Jojo Rabbit» ist eine rührende Geschichte über Toleranz
22.1.2020
Taika Waititi ist Drehbuchautor, Regisseur und neu auch Adolf Hitler. Klingt nach einer ganz schlechten Idee. Rausgekommen ist aber einer der rührendsten Filme des Jahres.
Eines vorweg: In der Review gibt’s keine Spoiler. Du liest nur das, was aus den bereits veröffentlichten Trailern bekannt ist.
Das Jahr 1945. Die Alliierten stehen einmarschbereit vor den deutschen Grenzen. Jojo Betzler (Roman Griffin) ist ein zehnjähriger, vom deutschen Faschismus geblendeter Junge. Als er sich der Hitlerjugend anschliessen will, verhaut er den Aufnahmeritus derart jämmerlich, dass er fortan den unrühmlichen Beinamen «Angsthase» trägt. Voilà: Jojo Rabbit.
Zum Glück steht ihm sein imaginärer Freund mit Rat und Tat zur Seite: Adolf Hitler (Taika Waititi). Und der erklärt ihm: Noch gefährlicher als die Feinde von Aussen sind jene von Innen – die Juden. Gehörnte, geschuppte und gedankenlesende Monster, die sich von glitzerndem Zeugs anlocken lassen und kleine, blonde Arier wie Jojo fressen.
Entsprechend wird Jojos Weltbild auf den Kopf gestellt, als er rausfindet, dass seine alleinerziehende Mutter Rosie (Scarlett Johansson), die eigentlich ein angesehenes Parteimitglied ist, ein Mädchen (Thomasin McKenzie) auf dem Dachboden versteckt; eine Jüdin. Ausgerechnet.
Zwischen Humor und Ernsthaftigkeit
Kaum einer hantiert Humor und Ernsthaftigkeit derart gekonnt wie Regisseur Taika Waititi. Das ist nichts Neues. Der hat auch das Drehbuch zum Film geschrieben. Neu ist aber die Fallhöhe: Noch nie hat sich Waititi eines so delikaten Themas angenommen wie hier: Da ist Nazi-Deutschland, das Antisemitismus hegt und Vorurteile pflegt. Wer sich dem widersetzt, wird wie Unkraut entfernt. Endgültig. Darüber Witze zu reissen, scheint rücksichtslos und verrückt.
Waititi ist verrückt.
Denn ihm ist nichts zu heilig. Vor allem nicht seine eigene Person. Mit Scheitel und Schnauz gibt er den Adolf Hitler – nicht den echten, natürlich, sondern eine übertriebene Fantasie des Führers, wie ihn sich nur ein zehnjähriges Kind ausdenken kann, das drei Wochen gebraucht hat, um zu akzeptieren, dass sein Grossvater keine blonden Haare hatte. Etwa, wenn Adolf Hitler genüsslich den gebratenen Kopf eines Einhorns verspeist, während sich Jojo mit einer wässrigen Suppe aus Wasser und dem Hauch von Kartoffeln begnügen muss.
Klar: Waititi riskiert hier und da, mit seiner Hitler-Persiflage den schlechten Geschmack ein wenig zu stark zu feiern. Tatsächlich sorgt sein Hitler aber für einige der lustigsten Momente des Films. Zum Beispiel, wenn Jojo die Jüdin im Dachboden entdeckt und überlegt, wie er sie wieder loswerden könnte, ohne dass seine Mutter davon Wind kriegt.
«Wie kommst du mit unserem Problem da oben voran», fragt ihn Hitler.
Als Jojo keine Antwort weiss und ihn um Rat bittet, entgegnet Hitler schnippisch: «Keine Ahnung. Ich bin ja kein Experte.»
Keine Sorge: Waititi ist sich bewusst, dass der Hitler-Witz nicht ewig zieht. Er bringt ihn, vor allem im ersten Filmdrittel, reitet aber nicht allzu oft darauf rum. Braucht er auch gar nicht, um die Hirnrissigkeit des Nazi-Regimes zu erklären.
«Deutschland ist die am weitesten fortgeschrittene Zivilisation der Menschheitsgeschichte», sagt Fräulein Rahm (Rebel Wilson), Leiterin der Hitlerjugend, feierlich. «Lasst uns jetzt ein paar Bücher verbrennen!»
Bei all dem ist Waititi eben doch sensibel genug, nicht die Art von Humor zu verwenden, die zum Schreien komisch ist. Das wäre bei der Thematik auch nicht angebracht. Es ist vielmehr die beobachtende Sorte, die zeigt, dass sich der Neuseeländer sehr wohl ernsthaft mit der Materie auseinandergesetzt hat. Und nein, «Jojo Rabbit» ist keineswegs so fad oder oberflächlich, wie es die Trailer vermuten lassen könnten.
Denn immer dann, wenn der Film in Klamauk zu driften droht, kommen die für Waititi so typischen, emotionalen Momente, die mitten ins Schwarze treffen. Jojo ist etwa überzeugt, dass sein verschwundener Vater ein Kriegsheld des Dritten Reichs ist. Aber vage Andeutungen und Blicke seiner Mutter geben uns Zuschauern zu verstehen, dass die Wahrheit komplizierter ist. Zum Beispiel, als die beiden durch die Stadt spazieren und plötzlich auf leblos am Strick baumelnde Menschen stossen – Dissidenten, die Juden geholfen haben.
«Was haben sie getan», fragt Jojo seine Mutter.
«Was sie konnten», antwortet sie leise.
Waititi scheut nicht vor Bildern zurück, die subtil, aber gleichsam grausam sind.
Der Oscar darf kommen
Visuell orientiert sich Taika Waititi oft an Regisseur Wes Anderson: Meistens dominieren symmetrisch genauestens zentrierte Szenen ohne Tiefe – als ob du durch ein Märchenbuch blättern würdest. Dazu Anderson-typische warme, orange-braune Farbtöne. Stilmittel, die uns Zuschauer geschickt 75 Jahre in die Zeit zurückversetzen.
«Jojo Rabbit» funktioniert aber auch deshalb so gut, weil Waititi ein ausgesprochen talentiertes Schauspieler-Ensemble um sich versammelt. Roman Griffin gibt den Nazi-Jungen so, dass er keine Sekunde unsympathisch wirkt. Scarlett Johansson spielt Jojos Mutter als Fels in der Brandung: Nie gibt sie die Hoffnung auf, dass ihr verblendeter Sohn doch noch auf den Weg der Vernunft zurückfindet. Damit gibt sie dem Film die so dringend benötigte Wärme und verdient sich die Oscar-Nomination als beste Nebendarstellerin redlich.
Dazu kommt Sam Rockwell, der sichtlich Spass am Spielen des desillusionierten und dauerbetrunkenen Möchtegern-Kriegers Captain Klenzendorf hat, welcher der Hitlerjugend das Kämpfen unter Wasser und den Mädchen die Wichtigkeit des Babys-auf-die-Welt-bringens erklären will. Dabei wird er unterstützt von Alfie Allen, vielen bekannt als Theon Greyjoy in «Game of Thrones», der eine Art vertrottelter Fähnrich spielt.
Ein wahrer Szenenstehler ist auch der kleine Archie Yates, der als Jojos bester, nicht-imaginärer Freund Yorki die witzigsten Szenen für sich pachtet. Vielleicht deswegen, weil er und Jojo in einer vom Hass zerfressenen Welt den Sinn in allem zu finden versuchen.
«Es ist definitiv keine gute Zeit, ein Nazi zu sein», stammelt Yorki einmal so rührend unschuldig, dass es beinahe weh tut.
Am meisten überrascht mich aber Thomasin McKenzie als jüdisches Mädchen Elsa. Wohl, weil sie in den Trailern kaum zu sehen ist und ich keine Vorstellungen davon hatte, wie ihr Charakter zur Geschichte beitragen würde. Darum kann ich dir auch nicht allzuviel über sie erzählen, ohne zu spoilern.
Nur soviel: Es ist lustig und herzzerreissend zugleich, wie sie Jojos Vorurteile des stereotypischen Judens zunächst bewusst bedient, um sich einen Spass zu erlauben. Uns Zuschauern wird aber gleichzeitig klar, wie unfassbar verklärt die Jugend im Nazi-Deutschland des Zweiten Weltkriegs aufgewachsen sein muss.
Schlussendlich überrascht es mich kein bisschen, dass Waititis neuester Film auch in der Kategorie «Bester Film» für den Oscar nominiert worden ist. Denn für mich ist «Jojo Rabbit» in seinem tiefsten Kern eine Geschichte über das Überwinden falscher Vorurteile und dem, was nur scheinbar anders ist – erzählt vor dem Hintergrund des faschistischen Deutschlands während des Zweiten Weltkriegs.
Oder: Eine rührende Geschichte über Toleranz.
Fazit: «Jojo Rabbit» ist Taika Waititi, wie wir ihn lieben
Regisseur, Drehbuchautor und Schauspieler Taika Waititi gibt also den Adolf Hitler in einer satirischen Komödie über Nazi-Deutschland. Ein Drahtseilakt. Ich höre die Moralapostel schon flüstern: «Sowas darf man doch nicht.»
Ich finde: doch. Denn Satire ist eine Sprache, die bewusst übertreibt und die Wahrheit aufbläst, damit sie erkennbarer wird. Dazu ist Waititi einer, der die Art von kontroversen Humor mag, der auf unerwartet emotionale Momente trifft. Ein Mix, den der Neuseeländer schon mit «Hunt for the Wilderpeople» oder «What We Do in the Shadows» zur Schau gestellt hat – und ein Stück weit auch mit «Thor: Ragnarok».
Und wenn Taika Waititis «Jojo Rabbit» keine Satire ist, dann eine Geschichte über Toleranz in einem Regime, das darauf pfeift. Eine Geschichte, die unbedingt erzählenswert und dabei nicht nur lustig ist – tatsächlich lustig –, sondern auch todernst.
Taika Waititi at its finest.
«Jojo Rabbit» kommt am 23. Januar 2020 in die deutschen und deutschschweizer Kinos. In der Romandie kommt der Film am 29. Januar ins Kino, im Tessin läuft er seit dem 16. Januar 2020.
Luca Fontana
Senior Editor
Luca.Fontana@digitecgalaxus.chAbenteuer in der Natur zu erleben und mit Sport an meine Grenzen zu gehen, bis der eigene Puls zum Beat wird — das ist meine Komfortzone. Zum Ausgleich geniesse ich auch die ruhigen Momente mit einem guten Buch über gefährliche Intrigen und finstere Königsmörder. Manchmal schwärme ich für Filmmusik, minutenlang. Hängt wohl mit meiner ausgeprägten Leidenschaft fürs Kino zusammen. Was ich immer schon sagen wollte: «Ich bin Groot.»