Das Collodion-Verfahren: Wie ein Fotograf Greta Thunberg auf Glas gebannt hat
Umweltaktivistin Greta Thunberg verhilft nicht nur einem Fotografen zu globalem Ruhm, sondern scheint mit zwei Portraits ein Licht auf eine fast vergessene Fototechnik.
Sie blickt in die Ferne, an der Kamera vorbei. Sie lächelt nicht, steht etwas verkrampft da. Das Bild wirkt so, als ob es aus den Anfängen der Fotografie Mitte des 19. Jahrhunderts stammt. Doch die Person auf dem Bild trägt einen Hoodie und Turnschuhe. Es ist Umweltaktivistin Greta Thunberg, Geburtsjahr 2003. Das Bild des US-amerikanischen Fotografen Shane Balkowitsch ist nicht mit einer digtalen Spiegelreflex- oder Systemkamera aufgenommen worden, sondern mit einer Kamera, die im Collodion-Verfahren fotografiert.
Durch die Absenz von HDR-artigen Farben, dem blauen Kapuzenpulli oder den ebenfalls blauen Sneaker schafft Balkowitsch Bilder, die ihre Betrachter verfolgen, leicht unheimlich wirken und Anachronismen schaffen. Wenn Greta Thunberg im alten Verfahren abgelichtet wird, dann wirkt sie anders. Zwingend.
Bitte nicht lächeln
Rückblende. Anno 1851 publiziert das Magazin «The Chemist» einen Artikel über die Erfindung eines gewissen Frederick Scott Archer. Der Sohn eines Metzgers aus Hertford, England hat das Collodion-Verfahren erfunden. Sonst ist nur wenig über sein Leben und sein Schaffen bekannt.
Das Collodion-Verfahren hat die damals noch junge Fotografie der Welt zugänglicher gemacht, obwohl das Verfahren selbst recht heikel ist.
In einem ersten Schritt muss eine Glasplatte zugeschnitten werden. Fotograf Quinn Jacobson erklärt das: Er nutzt durchsichtiges Glas für Negative und schwarzes Glas für Positive. Nach dem Zuschnitt muss das Glas abgeschliffen werden. Da während des Collodion-Verfahrens Zyanid verwendet wird, entstehen für den Fotografen grosse Gesundheitsrisiken. Auch die nachfolgende Reinigung des Glases ist heikel. Wenn die Glasplatte nicht sauber ist, dann kann es sein, dass die Bildemulsion nicht haftet und das Bild ist futsch.
Danach wird das Collodion auf das Glas aufgetragen. Die gelbliche Flüssigkeit wird auf das Glas geschüttet und gleichmässig verteilt. Je gleichmässiger, desto weniger Defekte werden in der Platte verewigt, und desto besser wird das Bild. Sobald das Collodion sich gesetzt hat, wird es für drei bis vier Minuten in Silbernitrat eingelegt. Dies muss im Dunkeln geschehen, denn sobald Licht auf die Collodion-Silbernitrat-Glasplatte trifft, wird das Konstrukt belichtet.
Zeit für das Foto. Die Person vor der Kamera muss mindestens während mehrerer Sekunden stillhalten, darf nicht einmal blinzeln. Hier kommt der Spieltrieb der Fotografen ins Spiel. Je nach gewünschtem Look des Bilds wird die Platte länger belichtet.
Die für heutige Verhältnisse lange Belichtungszeit ist dafür verantwortlich, dass Menschen in alten Bildern selten lachen und oft vor sich hin starren.
Nach der Fotografie geht es dann aber schnell. Eine Platte kann innerhalb von 15 Sekunden entwickelt werden. Aber ein geschultes Auge ist notwendig, damit der Fotograf die Platte nicht über- oder unterentwickelt. Danach folgt das Bad im Zyanid, damit der chemische Prozess der Entwicklung gestoppt, das Bild also fixiert wird. Das Negativ wechselt in diesem Schritt die Farbe von einem kalten Blau ins charakteristisch warme Sepia.
Wenn ein Fotograf draussen mit einer Collodion-Kamera Bilder schiessen will, so muss er eine Dunkelkammer dabei haben, damit er die Entwicklung der Bilder vor Ort vornehmen kann. Darum haben viele sogenannte Wet-Plate-Fotografen einen Van, dessen Kofferraum zum Fotolabor umgebaut ist.
Das Zyanid ist nicht der einzige Gegner des Fotografen. Das Silbernitrat macht Flecken auf der Haut und der Kleidung, weswegen Wet-Plate-Fotografen oft mit fleckigen Kleidern und Handschuhen arbeiten.
Über Frederick Scott Archer übrigens ist noch ein Detail bekannt: Er ist als armer Mann gestorben, obwohl er als Pionier der modernen Fotografie in die Geschichte eingegangen ist. Er hat seine Erfindung, das Collodion-Verfahren, nie patentieren lassen.
Red Molly: Balkowitschs Kamera
Die geistigen Erben Archers haben im frühen 21. Jahrhundert die Technik wieder aufleben lassen. Fotografen wie Quinn Jacobson oder Shane Balkowitsch, die Schweizer Sebastiano Bucca, Sébastien Kohler und viele ihrer Kameraden haben mit altem Equipment und einer Stoppuhr die Bilder an Nachstellungen des American Civil Wars oder in der Portraitfotografie beliebt gemacht.
Shane Balkowitsch gibt an, wie und womit er gearbeitet hat, um das obige Bild zu schaffen:
- Carl Zeiss Tessar 300mm Objektiv
- Alessandro Gibellini Kamera
- f/11
- 2 Sekunden Belichtung
- Reines Silber auf schwarzem Glas
- 20.32x25.4cm
Besonders ins Auge sticht hierbei das Objektiv. Das Tessar 300mm ist zwischen 1975 und 2005 hergestellt worden, also gut 125 Jahre nach der Erfindung des Collodion-Verfahrens und etwa 100 Jahre nachdem das Collodion-Verfahren vom trockenen Gelatineverfahren abgelöst wurde. Das ist möglich, da heutige Firmen sich auf die Herstellung von Collodion-Kameras fokussiert haben.
Shane Balkowitsch fotografiert nur mit einer Einzelanfertigung, die er liebevoll Red Molly nennt. Die aktuelle rote Molly aber ist die zweite, die Gibellini für ihn hergestellt hat. Sie ist offensichtlich mit modernen Objektiven kompatibel. Gibellini stellt mehrere Modelle her, die obiges Format hinkriegt. Die günstigste, die Bellatrix 810 kostet bis zu 999 Euro, das Spitzenmodell GP810 bis zu 6550 Euro.
So antik die Technik auch sein mag, so neu die Technologie, mit der Gibellini ihre Kameras herstellen. Das seit 2012 aktive Unternehmen mit Hauptsitz in Polinago nahe dem italienischen Bologna nutzt während der Produktion moderne CNC-Maschinen und 3D-Drucker.
Greta Thunberg, Indianer und alte Bilder
Das Shooting mit Greta Thunberg selbst beschreibt Shane Balkowitsch als ein Abenteuer. Er habe nur wenig Zeit gehabt, diese Möglichkeit aber keinesfalls missen wollen.
Es sei wesentlich einfacher, im Studio zu fotografieren, da dort das Licht unter Kontrolle gebracht werden könne. Dem hat Balkowitsch einfach entgegengewirkt: Greta Thunberg hat sich in den Schatten gesetzt. Die Platten selbst will Balkowitsch nicht verkaufen. Die Portraits Greta Thunbergs seien ein Leidenschaftsprojekt gewesen, daher non-profit. Das Bild, das oben als Header-Bild hinhält, hat einen Titel: Standing For Us All. Frei übersetzt: Sie steht für uns alle.
Greta Thunberg ist im Jahr 2018 durch ihren Schulstreik in Schweden zu globalem Ruhm gekommen. Sie hat sich den Klimaschutz aufs Banner geschrieben und drückt sich für ein «kleingewachsenes Mädchen mit Zöpfen» unerwartet plump aus. Während ihrem Protest vor dem Schwedischen Parlament hat sie Flyer verteilt, auf dem sie die Gründe ihres Handelns erklärt:
«Ich tue das, weil ihr Erwachsenen auf meine Zukunft scheisst.»
Journalist. Autor. Hacker. Ich bin Geschichtenerzähler und suche Grenzen, Geheimnisse und Tabus. Ich dokumentiere die Welt, schwarz auf weiss. Nicht, weil ich kann, sondern weil ich nicht anders kann.