Besuch im einzigen Schweizer Kindermuseum
Seit bald 40 Jahren steht das einzige Kindermuseum in der Schweiz in Baden. Wie aus einer privaten Sammlung ein modernes Museum wurde und weshalb es eben um viel mehr als nur Spielzeuge geht. Ein Besuch vor Ort.
Das Schweizer Kindermuseum in einer altehrwürdigen Villa in Baden hat an diesem Vormittag eigentlich noch zu. Doch Museumsleiter Daniel Kaysel macht zwei Ausnahmen. Die erste gilt einer Klasse, die an diesem Morgen durch einen Mitarbeiter in den Genuss einer Führung des Museums kommt. Die zweite gewährt er mir. In den nächsten drei Stunden wird mich der 58-Jährige durch die 20 Räume des Museums am Ländliweg führen.
Wie aus dem Spielzeugmuseum das Schweizer Kindermuseum wurde
Daniel war 21 Jahre alt, als seine Eltern 1985 das Museum eröffneten. «Damals hat niemand auf ein Kindermuseum gewartet. Es ist der Leidenschaft und der Hartnäckigkeit meiner Eltern geschuldet, dass es schliesslich doch Realität wurde. Beide hatten schon früh begonnen, Spielzeug zu sammeln. Zudem war mein Vater der Meinung, es brauche endlich ein Museum für Kinder über Kinder, ein Museum, das sich der Kinderkultur der letzten drei Jahrhunderte annimmt und zu einem Erlebnisort für Gross und Klein wird.»
Die private Führung mit dem Museumsleiter beginnt im Erd-, und 1. Obergeschoss, wo sich die Dauerausstellung befindet. In zahlreichen Vitrinen und Glasschränken befinden sich Hunderte von Spielsachen wie etwa Modellzüge, Puppen oder Kreisel aus den unterschiedlichsten Epochen. «Wir dokumentieren die Entwicklung der Kindheit über die letzten 300 Jahre mit Spielzeug, schulischen Lehrmitteln, Kinderbüchern und vielem mehr», sagt Kaysel.
«Ganz am Anfang nannten wir uns noch Spielzeugmuseum. Doch weil es eben um viel mehr als nur Spielzeug geht, wurde der Name auf Schweizer Kindermuseum geändert», sagt Daniel Kaysel. Der Rundgang zeigt schnell, worauf der Museumsleiter hinaus will. So zeigen etwa die ausgestellten Puppenhäuser den gesellschaftlichen Wandel. Will heissen: Eine Wohnstube eines Puppenhaus aus den 70er-Jahren zeigt eben auch, wie die Menschen in den 70er-Jahren gelebt haben. Das Spielzeug ist quasi der Spiegel einer Epoche. «Wenn Kinder das Museum besuchen, sollen sie dank der Spielzeuge ein Gefühl für die Geschichte bekommen.»
Heutiger Museumsleiter putzte als Architekturstudent jeden Sonntag das Museum
Dass die Geschichte des Schweizer Kindermuseums nun bald schon 40 Jahre dauert, ist nicht selbstverständlich. «Meine Eltern wurden zwar von der Stadt unterstützt, aber es war immer ein finanzieller Balanceakt», so Kaysel. Der gelernte Architekt erinnert sich gut daran, wie er und sein zwei Jahre älterer Bruder von Beginn an in den Museumsbetrieb integriert waren. «Als Student putzte ich sonntags immer ein paar Stunden das Museum. Mein Bruder, der Schreiner gelernt hatte, legte sehr oft Hand an, wenn wieder praktische Hilfe gefragt war.»
Gut zehn Jahre nach der Eröffnung des mehrheitlich ehrenamtlich geführten Museums kam der Wunsch nach einem professionelleren Betrieb auf. Nach einem Artikel über die finanzielle Lage des Museums im «Badener Tagblatt» konnte 1996 die «Stiftung Schweizer Kindermuseum» gegründet werden. «Ein Ehepaar aus der Innerschweiz ist auf das Engagement meiner Eltern aufmerksam geworden und hat die Stiftung ins Leben gerufen.» Dasselbe Ehepaar war es auch, das der Stiftung des Museums ein paar Jahre später die wunderschöne Villa am Ländliweg schenkte, wo das neue Kindermuseum vor genau 20 Jahren seinen Betrieb aufgenommen hat. «Als Architekt durfte ich seinerzeit den Um- und Ausbau der Villa in ein modernes Museum mitbestimmen», erinnert sich Kaysel.
Zusammen begeben wir uns ins erste Untergeschoss, wo sich zum Zeitpunkt meines Besuchs noch die Sonderausstellung «Mit Volldampf voraus! – 175 Jahre Spanischbrödlibahn» befindet. Nebst der Dauerausstellung lockt das Kindermuseum mit ein bis zwei Sonderausstellungen pro Jahr. «In einem durchschnittlichen Jahr verzeichnen wir rund 26’000 bis 28’000 Eintritte. Eigentlich haben wir eine fantastische Ausgangslage, da unser Publikum quasi nachwächst», so Kaysel. So dürfe er immer wieder Eltern begrüssen, die das Kindermuseum selber als Kinder besucht haben. «Wir sehen uns quasi als Einstiegsmuseum, in dem Kinder etwas Spannendes erleben und dabei erst noch viel lernen dürfen.» Letztlich gehe es darum, bei den Kindern Emotionen zu wecken.
«Es kommen auffällig viele Grosseltern zu uns ins Museum, weil sie ihren Enkelkindern Geschichte und Werte vermitteln wollen.» Nicht selten höre man die Enkelkinder dann zu ihren Grosseltern sagen: «Läck, mit dem häsch du mal gespielt wo du es Chind gsi bisch!?». Weil das Erleben für Kinder aber typischerweise über das Selbermachen und das Ausprobieren geschieht, befindet sich ebenfalls im 1. Untergeschoss ein grosser Raum mit lauter Spielen und Experimenten. So finden sich hier etwa eine Eisenbahnanlage, diverse Brettspiele oder eine grosse Kugelbahn von Alain Schartner. «Während oben das Grosi seinem Enkel noch Spielzeuge aus längst vergangenen Tagen erklärt hat, wechselt es dann hier unten, und die Enkel bringen dem Grosi bei, wie dieses oder jenes Spiel funktioniert», sagt Kaysel.
Genau so lange, wie sich das Museum nun schon in der Villa am Ländliweg befindet, so lange steht Daniel Kaysel auch in den Diensten des Museums. In dieser Funktion ist er vor allem für die Ausstellungsplanung, Budgetplanung und die Vermarktung des Museums zuständig; sein älterer Bruder ist sogar schon länger involviert. Vor sieben Jahren haben die beiden dann offiziell die Museumsleitung von ihren Eltern übernommen. Und wie ist das so, ein Museum zusammen mit seinem Bruder zu führen? «Das funktioniert sehr gut, weil wir uns sehr gut ergänzen.» Sein Bruder habe das Sammler-Gen seiner Eltern geerbt und kuratiert nun die Sammlung des Museums, sei als Schreiner aber auch für alles Handwerkliche verantwortlich. «Ich hingegen komme aus dem gestalterischen Bereich. Und mich reizt die Herausforderung, wie wir anhand von Objekten eine Geschichte erzählen können.»
Heute beschäftigt das Museum rund 20 Mitarbeitende, die sich auf etwas über fünf Vollzeitstellen aufteilen. Daniel, sein Bruder Marcel und ein Historiker sind die einzigen, die im Monatslohn angestellt sind und viel vor Ort sind. «Oft» meint im Fall von Daniel nicht selten sieben Tage die Woche. Kein Wunder, gibt doch das Museum pro Jahr über 200 Führungen, viele davon werden vom Museumsleiter persönlich geleitet.
Dass es mit dem Ausstellen von Objekten in einem zeitgemässen Museum nicht mehr getan ist, zeigt etwa die Sonderausstellung zur Spanischbrödlibahn. Mit sehr viel Liebe zum Detail ist die Strecke zwischen Baden und Zürich detailgetreu nachgebaut. Doch damit nicht genug. An sieben Stationen wird aus der Perspektive von sieben wahren Protagonisten die Geschichte der Bahn erzählt.
Weltraum-Sonderausstellung ist so erfolgreich, dass sie vorerst zu einem Bestandteil der Dauerausstellung wird
Dass es mit dem Ausstellen von Objekten nicht getan ist, beweist ein Augenschein im 2. Obergeschoss, wo sich die Ausstellung «Rakete, Mond und Sterne» befindet. Eigentlich als Sonderausstellung konzipiert, wird sie jetzt in das reguläre Ausstellungsangebot übernommen. «Die Ausstellung kommt gerade bei Schulklassen, die das Thema Weltraum behandeln, derart gut an, dass wir es schlicht nicht übers Herz bringen, sie jetzt schon aufzulösen.»
National Geographic Weltraum-Enzyklopädie: Eine Reise durch unser Sonnensystem und ins Unendliche
Deutsch, David Aguilar, Anke Wellner-Kempf, 2021
Sogar ein Originalstück einer Rakete ist zu sehen. Und auch bei dieser Ausstellung fällt auf: Es hat für fast alle Altersklassen etwas. Einen Wissensteil, interaktive Tafeln, aber eben auch eine Lego-Ecke für die Kleinsten. «In unserem Haus sollen sich alle wohl fühlen – nicht zuletzt auch die Eltern. Diese sollen nicht gestresst sein, weil ihre Kinder nichts anfassen dürfen. Mich selber hat das als Vater immer genervt, wenn ich mit meinen Kindern in einem Museum war und das Gefühl hatte, dauernd beobachtet zu werden.»
Ohne öffentliche Gelder ginge es nicht
Nach teils ungewissen Phasen in den Anfangsjahren steht das Museum heute finanziell auf soliden Füssen, was nicht zuletzt auf das Stiftungskapital zurückzuführen ist. Die Erträge des Kapitals machen zusammen mit den Sponsoren- und Mitgliederbeiträgen rund einen Viertel des Budgets aus. «Heute gehören dem Verein Schweizer Kindermuseum rund 350 Personen an», erwähnt Kaysel nicht ohne Stolz. Ein weiteres Viertel wird durch die Besucherinnen und Besucher generiert. Und rund die Hälfte des Budgets kommt durch öffentliche Gelder von der Stadt Baden, dem Kanton Aargau sowie einigen umliegenden Gemeinden zusammen.
Überhaupt seien die Ansprüche der Museumsbesucherinnen und Museumsbesucher an ein modernes Museum heute um einiges grösser als noch vor zehn, 20 oder 30 Jahren, betont Kaysel. «Standen früher die Objekte – also in unserem Fall vor allem die Spielsachen im Vordergrund –, sind diese heute unterstützender Natur.» Vielmehr gehe es darum, den Gästen anhand der Objekte eine Geschichte zu erzählen und ein bleibendes Erlebnis zu bieten.»
Bei Aktivitäten an den Wochenenden sowie Ferienkursen kann ein Thema vertieft werden. So führt das Museum etwa in den Frühlings- und Herbstferien Lego-Robotik-Workshops oder Animationsfilm-Kurse durch. Seit acht Jahren gehört auch das «Theater im Park» zum fixen Programm des Museums. Viermal im Jahr werden in der Gartenanlage Theaterstücke aufgeführt. «Darüber hinaus ist es auch wichtig, dass wir mit dem Museum raus zu den Menschen gehen», betont der Museumsleiter. Das tut das Kindermuseum etwa mit dem 2006 erstmals durchgeführten Solarmobil-Rennen auf dem Bahnhofplatz in Baden. Nächstes Jahr soll die 10. Auflage des Rennens stattfinden.
Traditionelle Weihnachtsausstellung ist dieses Jahr Norwegen gewidmet
Ein ganz besonderes Highlight steht jeweils Mitte November auf dem Programm, wenn die traditionelle Weihnachtsausstellung eröffnet wird. Jedes Jahr ist diese einem anderen Land gewidmet. Mit Norwegen kommt dieses Jahr bereits das 14. Land an die Reihe. «Das ist für uns immer auch eine Gelegenheit, Menschen mit einem anderen kulturellen Hintergrund ins Kindermuseum zu locken.»
Auch wenn Daniel viel jünger aussieht, in weniger als zehn Jahren wird er theoretisch pensioniert. Und dann? An die Zukunft von Museen generell glaube er, auch wenn natürlich niemand genau voraussagen könne, wie diese in ein paar Jahrzehnten aussehen werden. Denn eines sei klar: Der gesellschaftliche Wandel mache auch vor Museen nicht halt. «Natürlich wird das Digitale auch in den Museen weiter Einzug halten. Aber ich bin ganz fest davon überzeugt, dass Museen für die dringend nötige Entschleunigung und Rückbesinnung sorgen können.»
Mein persönlicher Rundgang ist beendet. Ich bin schwer beeindruckt, wie sich diese zuerst private Spielzeug-Sammlung in den letzten bald 40 Jahren zu einem Museum mit nationaler Ausstrahlung gemausert hat. Der Arbeitstag von Daniel Kaysel hingegen fängt in zwei Stunden erst richtig an, wenn das Museum seine Tore für Kinder, Eltern und Grosseltern öffnet und sich die schöne Villa für ein paar Stunden mit Leben füllt.
Zweifachpapi, nein drittes Kind in der Familie, Pilzsammler und Fischer, Hardcore-Public-Viewer und Halb-Däne. Was mich interessiert: Das Leben - und zwar das reale, nicht das "Heile-Welt"-Hochglanz-Leben.