Bekenntnisse eines Ex-Veganers
Vegan zu leben ist ungesund. Sage ich, nachdem ich zehn Jahre vegan gelebt habe. Die Gründe finde ich aber richtiger denn je.
Früher, vor ungefähr 15 Jahren, verbrachte ich meine Vormittage oft in der Confiserie Sprüngli in Zürich. Die Café-Atmosphäre animierte mich zum Schreiben. Heute sitze ich lieber in frühmorgendlicher Abgeschiedenheit am heimischen Tisch. Auch mit Grüntee, aber in Unterhosen, viel bequemer.
Mein Frühstück bestand damals aus einer kalten Ovomaltine und einem Buttergipfel – oft bestellte ich dieses Menü mehrmals hintereinander. Beim Verlassen des Lokals spürte ich immer häufiger Krämpfe und Blähungen, und mehr als einmal musste ich, kaum aus der Tür, die Treppe wieder hocheilen für einen notfallmässigen Toilettenbesuch.
Ich schrieb die Beschwerden allem möglichen zu, aber nicht meinem Morgenritual. Mein damaliger Hausarzt machte mich schliesslich auf eine Laktoseintoleranz aufmerksam. Und darauf, dass Milch was für Kuhbabys ist, nicht für Menschen.
Fortan verzichtete ich auf Milchprodukte, was sofortige Linderung brachte. Dass den Kälbern die Nahrung weggenommen wird, liess mir allerdings keine Ruhe. Ich begann, mich über die Herstellungsmethoden tierischer Produkte zu informieren. Dabei stiess ich auf Videoaufnahmen aus Schlachthäusern – und den Zusammenhang mit der Milch, die uns nur zur Verfügung steht, weil wir die eigentlichen Empfänger umbringen. Und dann die Produzentinnen.
Ich war entsetzt. Auch darüber, dass ich es so lange geschafft hatte, diese hässliche Tatsache auszublenden. Ich beschloss, kein Fleisch mehr zu essen. Und, nach einigen Küken-Schredder-Videos, auch keine Eier mehr.
Der grosse Widerspruch
Es gibt viele und sehr gute Gründe dafür, auf Tierprodukte zu verzichten. Der Konsum von Milch, Fleisch und Eiern erzeugt immenses Tierleid. Die Kühe, Schweine, Hühner und Co. leben oft unter entsetzlichen Bedingungen und erleiden auf dem Weg ins Schlachthaus extremen Stress. Am Ende werden sie industriell getötet. Die Betäubungsmassnahmen sind alles andere als harmlos: Das Bolzenschussgerät, das auf einen Schlag bewusstlos machen soll, muss oft mehrmals angesetzt werden, wobei der Schädel der Kühe jedes Mal weiter zertrümmert wird, während Schweine mit CO2 vergast werden – also jämmerlich ersticken.
Auch die Umwelt leidet. Wusstest du, dass die Schweiz rund die Hälfte ihres Ackerlandes dafür verwendet, um Tierfutter anzubauen? Und dass nochmals so viel Rohstoff aus dem Ausland kommt, namentlich aus Brasilien, wo dafür Regenwald gerodet wird? Nur so sind wir in der Lage, die über 80 Millionen Tiere aufzuziehen, die wir jedes Jahr schlachten. Das sind 220 000 jeden Tag.
Was wir durch den entfesselten Fleischkonsum anrichten, ist brutal, rücksichtslos und zerstörerisch, auch selbstzerstörerisch. Das ist die eine Wahrheit.
Die andere ist, dass unser Körper tierische Proteine benötigt. Evolutionär gesehen befindet er sich immer noch in der Steinzeit. Dass die moderne Massentierhaltung in vielerlei Hinsicht problematisch ist, ist nicht zu ihm vorgedrungen. Er ist noch im Mammut-Modus.
Wie Ärztinnen eben gucken
Anfangs, als frischer Veganer, kam ich gut zurecht ohne Milch, Käse, Fleisch und Eier. Aber schon ziemlich bald litt ich an diffusen Beschwerden, die ironischerweise jenen ähnelten, die sich nach meinem Sprüngli-Frühstück gezeigt hatten: Bauchkrämpfe, Blähungen, Durchfall. Es wurde so arg, dass ich eine Gastroenterologin aufsuchen musste.
Die Ärztin machte eine Darmspiegelung und Bluttests. Mein Vitamin-B12-Spiegel war viel zu tief. «Was Sie da machen, ist ungesund», sagte sie. «Wir sind Allesfresser. Wir brauchen Fleisch zum Leben.» Ich wollte das nicht hören. Ich wollte kein Fleisch mehr essen, aus moralischen und ökologischen Gründen. Ich sagte das so und guckte, wie jemand eben guckt, der seine Meinung für die zweifelsfrei richtige hält. Die Ärztin guckte, wie Ärztinnen eben gucken, wenn man etwas sagt, das sie für medizinisch vollverblödet halten.
Ich bekam eine B12-Intensivkur verordnet: Eine Woche lang vier Spritzen, vier Wochen lang eine pro Woche, schliesslich jeden Monat eine. Das machte ich dann mehrere Jahre lang so. Er funktionierte sehr gut.
Aber im Rückblick stimmt das nicht. Es funktionierte nie wirklich.
«Ich muss also … Fleisch essen?»
Ich hatte immer wieder die genannten Beschwerden. Und immer wieder die Intuition, dass ein Teller Hörnli mit Gehacktem sie beseitigen würde. Und immer wieder Lust auf eine grosse Portion davon. Aber ich war Veganer! Und stolz darauf. Ich hielt mich für eine höher entwickelte Spezies. Ich sah, das gebe ich offen zu, auf Fleischesserinnen und -esser hinab. Ich hielt sie schlicht für primitiv.
Wenn man sich anderen überlegen fühlt, ist das nie gut. Dann ist man zu weit gegangen. Es geht dann auch nicht mehr um die Sache, sondern um Eitelkeit. Und um Orientierungslosigkeit, letztlich.
Das gilt auch umgekehrt. Wer Veganerinnen und Veganer blöd findet, weil sie vegan leben, und ihre Argumente grundsätzlich ablehnt, weil es Veganer-Argumente sind, geht ebenfalls zu weit.
Zehn Jahre lang war mein Körper mir und meiner Ideologie brav gefolgt, aber vergangenen Sommer war seine Grenze erreicht. Die Symptome wurden immer schlimmer. Ich ging zu meiner Hausarztpraxis. Meine bisherige Ärztin war nicht mehr da, ein älterer Arzt war neu für mich zuständig. Der machte alle möglichen Tests. Vitamin B12: mehr als genug dank den Injektionen. Überhaupt: «Ihnen fehlt nichts, Herr Meyer. Ausser vielleicht tierische Proteine. Die kann man eben nicht alle supplementieren.» «Ich muss also … Fleisch essen?» fragte ich. Ich fand den Gedanken furchtbar. «Sie müssen gar nichts. Ich möchte Sie nur einladen, es zu probieren und zu sehen, ob es Ihnen hilft.»
Am nächsten Tag kaufte ich in einem Supermarkt ein Poulet-Wienerli im Teig und eine Lachs-Bowl. Es schmeckte vorzüglich, machte mich aber emotional so fertig, dass ich weinen musste. Allerdings ging es mir hinterher spürbar besser. «Was hast du von einem reinen Gewissen, wenn es dir so schlecht geht?», fragte meine Partnerin.
Gute Frage.
Ich dachte, ich käme mit hin und wieder einem Poulet-Wienerli davon und könnte einen komfortablen Kompromiss finden zwischen Gewissen und Wohlbefinden. Dachte ich.
Wenige Tage später reiste ich mit meiner Partnerin, damals auch noch Veganerin, durch Deutschland Richtung Nordsee. In Karlsruhe angekommen, krümmte ich mich auf dem Hotelbett und hörte mich knurren: «Ich brauche Fleisch. Jetzt.» Der Höhlenbewohner in mir war in höchster Not.
Eigentlich wollten wir vegane Sushi essen gehen. Aber ich wurde intensiv vom italienischen Lokal gegenüber des Hotels und seinen Fotos im Schaufenster angezogen. In gebeugter Haltung eilte ich hin und bestellte eine Pinsa mit Parmaschinken. Es war sehr lecker und tat mir sehr gut. Ich bedankte mich beim Schwein, das sein Leben für mich gelassen hatte. «No biggie, your piggy!» quiekte das Schwein aus dem Jenseits.
Bestimmt würde ich nun für mehrere Wochen Ruhe haben, dachte ich. Wie eine Python, die hin und wieder ein Kaninchen verspeist. Dachte ich. Dann reiste ich nach Norwegen, um die Natur und die Nordlichter zu fotografieren.
Die Kapitulation
Wir waren jeden Tag draussen. Es war kalt und windig. Eine ganz andere physische Anforderung als die Schreibarbeit im Wohnzimmer. Bereits am zweiten Tag kapitulierte mein Körper endgültig. Ich kaufte im Supermarkt Roastbeef und Pouletbrust-Aufschnitt und belegte damit stapelweise Sandwiches.
«Geil», sagte mein Körper. «Bring mir mehr davon!» «Aber … das Tierleid! Die Umwelt!», sagte ich, während ich eine weitere Lage Roastbeef auf das Brot legte. «Ich höre dich», sagte mein Körper. «Aber hörst du mich?»
Gute Frage.
Seither esse ich jeden zweiten Tag Fleisch. Mehr brauche ich nicht. Allerdings auch nicht weniger. Am dritten Tag ruft der Ötzi in mir nach frischem Wollnashorn.
Mit Weizen und anderem modernen Sesshaftigkeitszeug wie Zucker hat mein Körper übrigens neuerdings auch Mühe. Er bevorzugt die Paleo-Diät, also eine Ernährungsweise aus dem Paläolithikum: Nüsse, Früchte, Gemüse, Fleisch. Bleibe ich dabei, ist mein Darm total glücklich.
Fazit
Ich erachte die vegane Argumentation nach wie vor als korrekt. Es ist alles wahr, was gesagt wird: Wir essen zu viel Fleisch, viel mehr, als wir brauchen und uns guttut, plündern dabei die Ressourcen auf fatale Weise und behandeln die Tiere extrem schlecht. Alles, aber auch wirklich alles spricht dagegen, so weiterzumachen. Wir müssen uns dringend zügeln.
Die vegane Conclusio, nämlich der komplette Fleischverzicht, ist allerdings auch nicht sinnvoll. Sie widerspricht unserer Physiologie. Zumindest meiner. Möglicherweise wäre auch Käse eine Methode, aber den vertrage ich nicht. Am schlechtesten vertrage ich jedoch, was ich die letzten zehn Jahre gemacht habe.
Es wäre super, wir würden alle nur halb so viel Fleisch essen. Mehr brauchen wir nicht, und die Natur verträgt nicht mehr. Wir müssten dann auch kein Soja aus Brasilien importieren.
Das zweite Fazit gilt unserem Umgang miteinander. Wir kommen nicht weiter, wenn wir einander für jede Meinungsverschiedenheit scheisse finden und hasserfüllt aufeinander einhacken. Das führt zu ständigen Mikro-Bürgerkriegen, die keine sinnvollen Lösungen hervorbringen, sondern nur schlechte Laune und harte Herzen.
Wir haben das Diskutieren verlernt, weil wir glauben, es genüge, Stellung gegen etwas zu beziehen. Ein grosser und fataler Irrtum. Denn oft haben beide Seiten recht, zumindest auf weite Strecken. Das zu akzeptieren, heisst, einen Widerspruch auszuhalten. Auch das haben wir verlernt. Dabei ist es ausgesprochen erfrischend für den Geist, wenn er einsieht, dass er ziemlich lange in die falsche Richtung spaziert ist.
In einem Wort: weniger Fleisch, mehr Widerspruch!
Titelfoto: Thomas MeyerDer Schriftsteller Thomas Meyer wurde 1974 in Zürich geboren. Er arbeitete als Werbetexter, bis 2012 sein erster Roman «Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse» erschien. Er ist Vater eines Sohnes und hat dadurch immer eine prima Ausrede, um Lego zu kaufen. Mehr von ihm: www.thomasmeyer.ch.