Angestachelt: Aus diesem Sukkulenten-Paradies willst du nicht mehr raus
Sukkulenten sind weit mehr als Aloen und Echeverien. Bei der Kakteen Gautschi GmbH spriessen 100 000 Fleischpflanzen in allen Formen, Texturen, Mustern und Farben. Ich bin auf stachelige Erkundungstour gegangen – und wäre fast hängen geblieben.
Ich stehe vor einem gigantischen Säulenkaktus. Dorn für Dorn wandern meine Augen nach oben, bis knapp unter die Decke. Er ist gewiss fünf Meter hoch, der Pachycereus pringlei, der im Eingangsbereich der Kakteen Gautschi GmbH in Schafisheim im Kanton Aargau thront. Was für ein Riese.
Einer Frau mit braunen Locken ist meine Begeisterung nicht entgangen. Schmunzelnd kommt sie auf mich zu. «Eindrücklich, nicht?», sagt sie mit strahlenden Augen und schüttelt mir die Hand. Es ist Regula Kieser-Gautschi, Geschäftsinhaberin und Tochter des Gründerpaars Max und Therese Gautschi, die heute noch in der Firma mitwirken. Ich nicke und möchte von ihr wissen, wie lange der Kaktus schon hier steht. «So lange, wie es uns gibt.» Will heissen: schon 51 Jahre.
Vom Sprössling zum Gigant
Ein kurzer Abstecher in die Siebziger: Der Säulenkaktus ist noch ein Sprössling, Regula Kieser-Gautschi auch. «Durch die Sukkulenten zu flitzen, war das reinste Paradies», erinnert sie sich an ihre Kindheit zwischen Dornen und fleischigen Blättern. Ihre Eltern, die den Markt in der Schweiz gerade erschliessen, fahren noch mit einem kleinen Bus nach Südfrankreich und in die Niederlande. Von dort karren sie die Sukkulenten nach Schafisheim.
Der Säulenkaktus und das Geschäft gedeihen – 1980 gibt es einen regelrechten Wachstumsschub. Coop wird Hauptabnehmer der Firma, die sich auf Grosskundschaft fokussiert. Die Familie verkauft ihre Kakteen und andere Sukkulenten aber auch an Märkten in der ganzen Schweiz. Ihre Bekanntheit wächst, der Säulenkaktus ebenfalls. Bis er 1996 gegen das Dach stösst. «Coop strukturierte um. Viele kleine Händler faulten raus. Auch wir. Das war ein rechter Schock», erzählt Regula Kieser-Gautschi. Aber kein Grund, aufzugeben.
Eigene Wurzeln schlagen
Die Gautschis packen die Chance. Sie richten sich neu nach der Sonne aus, mit dem Fokus weg von der Gross- hin zur Privatkundschaft. Und sie lassen einen Neubau in die Höhe wachsen. Sukkulenten, die schon länger in den Regalen stehen, verkaufen sie in einer aufsehenerregenden Aktion für fünf Franken pro Kilo. «Wir wurden von Leuten überrannt. Manche schnitten Kakteen in Einzelteile, damit sie ins Auto passten», erinnert sich Regula Kieser-Gautschi lachend. Auch der Säulenkaktus wird gekappt und seine Spitze als Steckling neu eingepflanzt. Auf zu neuen Ufern.
Mit einem Online-Auftritt und der ab dem Jahr 2000 stattfindenden Kakteen-Chilbi, an der massenweise Sukkulenten verkauft werden, schlagen die Gautschis in alle Richtungen Wurzeln. Auch Corona bringt das Geschäft nicht zum Serbeln. Im Gegenteil: Es erblüht neu. 2022 übernimmt Regula Kieser-Gautschi das Unternehmen. Die Freude an den Pflanzen hat sie längst gepackt:
Opulenz der Sukkulenz
Was die 43-Jährige übernommen hat, ist ein wahres Sukkulenten-Imperium. 800 verschiedene Arten und insgesamt 100 000 Pflanzen reihen sich auf mehr als 2000 Quadratmetern. Einige der schnellwüchsigen Sukkulentenarten sind selbst gezüchtet. Die Kakteen Gautschi GmbH gehört zu den grössten Sukkulenten-Händlern der Schweiz. Zeit für einen Rundgang durch das farbenfrohe Reich der Dornen, Kugeln, Zacken, Spiralen und Säulen.
Ich habe Glück: Zwischen März und Mai blüht und spriesst hier alles. Ich weiss gar nicht, wo ich zuerst hinschauen soll, als wir durch die Gänge kurven. Die Vielfalt ist überwältigend. Etwas Bekanntes sticht mir dann doch ins Auge: ein Christusdorn. Die Stammsukkulente, die das Wasser in ihrem dornigen Stängel speichert, stand schon bei meinen Grosseltern im Wohnzimmer. «Ja, die Faszination für Sukkulenten reicht weiter zurück, als wir denken. Und sie hat nie abgenommen», sagt die Geschäftsinhaberin.
Lebendige Steine und Stinkblumen
Weiter geht es in das Reich der Sonnenhungrigen. In diesem Bereich des Gewächshauses prallt die Sonne ungehindert auf die Pflanzen. Oder besser gesagt: auf die Pflänzchen. Die Mini-Knubbel, die nur knapp aus der Erde ragen, sind kaum sichtbar. Von Regula Kieser-Gautschi erfahre ich, dass es sogenannte «lebendige Steine» sind. «Sie tarnen sich, damit sie von den Ziegen in Südafrika nicht gefressen werden.» In Schafisheim stürzen sich Kunden und Kundinnen darauf. In den letzten fünf bis sechs Jahren haben – nebst winterharten Sukkulenten – vor allem solche Raritäten einen Boom erlebt.
Wir schlendern vorbei an gerippten Crassula pyramidalis und spiralförmigen Eulychnia castanea, die mich an Twister-Glacés erinnern. Solche Windungen habe ich an Sukkulenten noch nie gesehen. Und jetzt kommen noch Gerüche hinzu. Regula Kieser-Gautschi führt mich zur Stapelia hirsuta. Die wulstige, purpurrote Blume sieht eigenartig aus und phu … sie stinkt erbärmlich. Doch ich lerne: Chli stinke muess es. «Die Pflanze lockt damit Aasfliegen als Bestäuber an», erklärt die Geschäftsinhaberin. Und wenn wir gerade beim Müffeln sind: Bei den Gautschis steht auch ein kleines Exemplar der Titanwurz Amorphophallus, die letztes Jahr wieder zahlreiche Besuchende in den Botanischen Garten Zürich gelockt hat.
Into the jungle
Nun sehne ich mich nach einem frischen Lüftchen. Regula Kieser-Gautschi weiss, wohin wir müssen: in den Dschungel. Das heisst, zu jenen Sukkulenten, die keine direkte Sonneneinstrahlung brauchen. Als wir den langen Gang nach hinten schlendern, wippen schlangenförmige Hängekakteen neben uns in der Luft, als wären sie lebendig. Die Geschäftsinhaberin streichelt liebevoll über sie. «Ui, das hätte ich mich nicht getraut», sage ich. Regula Kieser-Gautschi lacht und meint zwinkernd:
Durch die Blätter hindurch sehe ich es geheimnisvoll orangefarben funkeln. Dann stehen wir plötzlich vor ihr: der Rechsteineria leucotricha. Ihre trichterförmigen Blüten und silbernen Samtblätter machen mich sprachlos. «Das ist wohl eine unserer spektakulärsten Sukkulenten», meint Regula Kieser-Gautschi. Ich nicke nur, gebannt von der Schönheit. Was die Pflanze besonders macht, ist aber vor allem, was in ihr steckt.
Nach ein paar Wochen verschwinden ihre Glöckchen, die Blätter werden grösser und verlieren ihren samtigen Pelz. Im Herbst zieht sich dann die ganze Pflanze in einen Knollen auf der Erdoberfläche zurück. Jedes Jahr rufen verzweifelte Kundinnen und Kunden bei den Gautschis an, die glauben, ihre Rechsteineria sei tot. Dabei tun das Caudexpflanzen nur, um in der Natur die trockenste Zeit zu überstehen. Im Frühling schiesst wieder ein neuer Stängel aus der Knolle und sie erblüht erneut in voller Pracht.
Kleiner Unterschied, grosse Folgen
Volle Pracht. Das würde ich mir bei einigen meiner eigenen Sukkulenten auch wünschen. Immer mal wieder sterben manche ab, obwohl sie als so pflegeleicht gelten. Woran liegt das? Regula Kieser-Gautschi sagt, das könne mit zu wenig Licht oder zu viel Wasser zusammenhängen. Die Hauptschuld trage aber oft nicht der Kunde oder die Kundin, sondern der Verkäufer.
Grosshändler beziehen Sukkulenten zwar – wie die Gautschis – unter anderem aus den Niederlanden, Italien und Spanien. Doch danach wandern die Pflanzen in Baumärkten in die Dunkelkammer und werden mit Dünger vollgepumpt. So bilden die Sukkulenten bei den Kunden und Kundinnen später oft weiche, blasse Blätter und wachsen überschnell in die Höhe (das nennt man vergeilen). Zum Schluss verfaulen sie oft. Bei den Gautschis hingegen kommen die Jungpflanzen mehrere Monate aufs Tageslicht-Tablar für eine düngerfreie Erholungskur.
Wahre Überlebenskünstler
Eine letzte Dschungelbewohnerin besuchen wir noch, bevor es zurückgeht. Ganz zuhinterst an der Wand hängen seidenfeine Strähnen von den Regalen. So stelle ich mir die Haare von Waldfeen vor. Magisch sind die Aufsitzer-Pflanzen allemal. Um zu wachsen, benötigen sie keine Erde. Sie können einfach auf eine Baumrinde gesteckt werden. So gedeihen sie auch in den Wäldern Mittelamerikas. «Wenn man sie nicht in die Sonne stellt und zwei- bis dreimal pro Woche mit Wasser besprüht, leben sie jahrelang», sagt Regula Kieser-Gautschi.
Allmählich dringen wir wieder ins Wüstengebiet vor. Wir gehen vorbei an der samtigen Cotyledon ladysmithiensis, die an eine Bärentatze erinnert, und an der saftig grünen Polaskia chichipe, die so beliebt ist, weil sie schon früh die aus Cartoons bekannten Seitenarme bildet. Letztlich bleiben wir vor einem knallroten Feigenkaktus stehen. Regula Kieser-Gautschi steht so nah davor, dass ich fast glaube, sie beisst gleich hinein. So unwahrscheinlich ist das nicht. Am 50-Jahr-Jubiläum der Firma vor einem Jahr haben die Gautschis den Kaktus geschält, gescheibelt und Salat daraus gemacht.
Essbare Sukkulenten seien sehr beliebt. Und, ergänzt Regula Kieser-Gautschi: «Der Salat schmeckte richtig aromatisch und saftig. Nicht grundlos überlebt der Feigenkaktus durch diese Speicherfähigkeit monatelang.» Anerkennend sage ich: «Sukkulenten sind wahre Überlebenskünstler.» Regula Kieser-Gautschi nickt und erinnert sich an ein Erlebnis, das dies verbildlicht:
Ein Stehaufmännchen ist die Kakteen Gautschi GmbH auch, denke ich mir, als wir wieder zum Eingangsbereich kommen und ich mich von Regula Kieser-Gautschi verabschiede. Erneut stehe ich unter dem imposanten Säulenkaktus. Seine Dornen berühren schon fast das Dach. Wann die Gautschis wohl mit dem nächsten Hindernis konfrontiert sind? Ich weiss es nicht. Aber so viel weiss ich nun: Wenn es gegen oben nicht weitergeht, bilden sie einen Seitenarm oder einen Ableger. Und wenn die Dürre droht, ziehen sie sich in ihre Knolle zurück – bevor sie erneut erblühen.
Nicht alle Sukkulenten, die ich im Text erwähne, findest du bei uns im Shop. Doch es kommen laufend neue dazu. Verrate der Galaxus-Community und mir inzwischen, welche deine Lieblings-Sukkulente ist.
Ich mag alles, was vier Beine oder Wurzeln hat. Zwischen Buchseiten blicke ich in menschliche Abgründe – und an Berge äusserst ungern: Die verdecken nur die Aussicht aufs Meer. Frische Luft gibt's auch auf Leuchttürmen.